Flatten the curve: Die Menschen müssen Abstand zueinander halten. Doch Einsamkeit will gelernt sein. In unserer Serie Coronaeremit*innen suchen wir Texte, die dabei helfen können.

Wie in den letzten Wochen sammeln wir weiter fleißig Texte, die vielleicht durch die Einsamkeit tragen oder sogar anregen, in dieser Einsamkeit nach G*tt zu fragen. (Falls Euch selbst noch schöne Texte einfallen, hinterlasst gerne einen Kommentar oder schreibt uns.)

Aus Hermann Hesses „Siddharta“ (1922)

Siddhartha lauschte. Er war nun ganz Lauscher, ganz ins Zuhören vertieft, ganz leer, ganz einsaugend, er fühlte, dass er nun das Lauschen zu Ende gelernt habe. Oft schon hatte er all die gehört, diese vielen Stimmen im Fluss, heute klang es neu. Schon konnte er die vielen Stimmen nicht mehr unterscheiden, nicht frohe von weinenden, nicht kindliche von männlichen, sie gehörten alle zusammen, Klage der Sehnsucht und Lachen des Wissenden, Schrei des Zorns und Leiden des Sterbenden, alles war eins, alles war ineinander verwoben und verknüpft, tausendfach verschlungen. Und alles zusammen, alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluss des Geschehens, war die Musik des Lebens. Und wenn Siddhartha aufmerksam diesem Fluss, diesem tausendstimmigen Lied lauschte, wenn er sich nicht auf das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alles hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das grosse Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hiess Om: die Vollendung.


Aus den Gedichten von Rose Ausländer (1901-1988)

Im Zimmer

Das Zimmer behütet mich
da ich es hüten muss

Kommt stückweis die Welt
an mein Fenster
Pappeln Sperlinge Wolken

Briefe von alten und fremden Freunden
besuchen mich täglich

Die Zeit
ein Gespräch
Wirklichkeit
sagst du
ich sage
Traum.


Aus der Abhandlung „Über die Gottesliebe“ des Bernhard von Clairvaux (gest. 1153)

Ist es verwunderlich, wenn ein Wesen im Niedrigen und Geringeren nie sein Genügen finden kann, wo es doch so angelegt ist, dass es nicht zur Ruhe kommen kann, solange es noch unterhalb des Höchsten oder Besten ist? Töricht und verrückt ist es, wenn es ständig nach Dingen giert, die niemals – ich sage nicht: es sättigen, sondern nicht einmal – seinen Appetit zügeln können.

Du magst noch so viele Dinge dieser Art haben, stets wirst du das Verlangen spüren, auch noch die Dinge zu bekommen, die du noch nicht hast, und du wirst ständig voller Unruhe nach dem gieren, was dir noch fehlt. Willst du deine Sehnsucht so erfüllen, dass du jenes Gut erlangst, dessen Besitz dein Verlangen endgültig stillt? Warum versuchst du dich dann in allem anderen?

(von Silke Freund eingesendet)


Aus dem Essay „Wer wir waren“ von Roger Willemsen (2016)

„Ich schwebte, als sei ich im Innern einer Seifenblase“, sagte der polnische Kosmonaut Mirosław Hermaszewski. „Wie ein Säugling im Schoß der Mutter. In meinem Raumschiff bleibe ich immer das Kind der Mutter Erde.“ Es gab Kosmonauten, die auf ihre Reise Musik mitnahmen, aber zuletzt fast nur noch Kassetten mit Naturgeräuschen hörten: Donnergrollen, Regen, Vogelsang. Andere hatten ein Gemüsebeet im All und züchteten Hafer, Erbsen, Rüben, Radieschen und Gurken, strichen mit der Handfläche beseligt über die frischen Pflänzchen oder empfanden tiefe Trauer, als Fische in einem Becken die Reise nicht überstanden. Am äußersten Ende der Exkursion zu den Grenzen des Erreichbaren, die technologische Rationalität mit einer Meisterleistung krönend, entdeckten sie das Kreatürliche, das Spirituelle und das Moralische und kehrten zurück zum Anfang, zum Kind, zum Säuglings der da liegt wie der zusammengekauerte Todesschläfer, der letzte komplette Mensch. Seine Zukunft muss ihm unvorstellbar gewesen sein. Sie ist es noch.


Aus den Schriften von Simone Weil (1909-1943)

Unsere Liebe soll sich ebenso weit durch den gesamten Raum erstrecken, sie soll sich ebenso gleichmäßig in alle Bereiche des Raumes verteilen wie das Licht der Sonne. Christus hat uns das Gebot gegeben, die Vollkommenheit seines himmlischen Vaters zu erreichen, indem wir diese unterschiedslose Austeilung des Lichtes nachahmen. Auch unsere Vernunfteinsicht soll von dieser vollkommenen Parteilosigkeit sein. Alles, was existiert, wird durch die schöpferische Liebe Gottes gleicherweise im Dasein erhalten. Die Freunde Gottes sollen ihn derart lieben, daß im Hinblick auf die irdischen Dinge ihre Liebe eins wird mit der seinigen.

Hashtag der Woche: #Coronaeremit


(Beitragsbild @rubavi78)

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