Das Coronavirus schränkt unser alltägliches Leben und auch die Religionsausübung zusehends ein. Uwe Habenicht hebt vor diesem Hintergrund die Potentiale einer (christlichen) Freestyle-Religion hervor.

Spätestens seitdem die Ravioli- und Pasta-Regale in den Supermärkten sich auffällig leeren, die Apotheken Schilder mit einer Liste der Dinge, die sie nicht mehr haben, vor die Ladentüren stellen, jede Begrüßung zu einem unsicheren Tanz verunglückten sich nicht die Handgebens geworden ist und Fußballspiele vor leeren Rängen stattfinden, dürfte allen klar geworden sein: Wir sind mitten in einer neuer Zeit. Aus Liebe in Zeiten der Cholera ist Kontaktvermeidung in Zeiten von Corona geworden. Man muss, fürchte ich, kein*e Prophet*in sein, um zu ahnen, dass das Coronavirus langfristig Spuren in unserem sozialen, kulturellen und auch religiösen Miteinander hinterlassen wird.

Was weitab unseres Alltagslebens begann, prägt nun zunehmend fast alles, was wir tun, oder eben auch nicht mehr tun. In vielen Regionen Europas sind vorerst alle Messen und Gottesdienste ausgesetzt. Nicht nur der Erzbischof von Mailand zelebriert die Messe in einer leeren Kirche. Wer möchte, kann im Internet zuschauen oder im Radio mithören. Die Kirchgemeinden suchen nach neuen Möglichkeiten, mit den Gläubigen verbunden zu bleiben. Aber was bleibt, wenn das gemeinsame Singen, Beten und Feiern nicht mehr möglich ist? Was bleibt übrig, wenn die Anwesenheit der Mitbetenden, der Mitsingenden und der Mitfeiernden zum Risiko, zum Sorgen auslösenden Faktor geworden ist? Und das gerade in diesen Zeiten, in denen die Welt und unser Zusammenleben es bitter nötig hätten, mit ins Gebet genommen zu werden?

Corona als Beispiel für eine vernetzte Welt

Denn auch jenseits von Corona stehen wir als Europäer*innen vor grenzüberschreitenden Herausforderungen, die regional und national nicht zu lösen sind. Nicht erst jetzt mit dem sich verbreitenden Coronavirus, aber nun doch mit neuer Eindringlichkeit und alltagserschütternder Macht wird uns klar, dass die Herausforderungen der Gegenwart mit nationalistischer Politik nicht zu lösen sind, weil sie an keiner willkürlich gezogenen Grenze halt machen: Weder die Ausbreitung des Coronavirus, noch die Fragen des Klimaschutzes, noch die an der türkisch-griechischen Grenze auftretenden Fragen einer humanen Flüchtlingspolitik lassen sich im Kleinen lösen. Wie sehr wir ein „gemeinsames Haus“ bewohnen, um die Formulierung von Papst Franziskus aufzunehmen, zeigt sich eben daran, dass die üblen Gerüche der zu lange schon herumliegenden Probleme durch alle Ritzen und durch jeden Türspalt dringen, ganz gleich wie aufwändig wir unsere Türen sichern und wie oft wir den Schlüssel im Schloss herumdrehen. Corona macht unsere Verflochtenheit miteinander einmal mehr deutlich. Wir sind gemeinsam den über uns hereinbrechenden (und manchmal auch selbsterzeugten) Wellen der Gegenwart ausgesetzt, mögen die Nationalisten landauf landab auch weiterhin in der Romantisierung des Volksgedankens des 19. Jahrhunderts schwelgen. Diese Zeiten sind lange schon vorbei.

Und auch die Religion wird sich angesichts neuer Herausforderungen neu und wieder erfinden müssen, oder besser: alte Grundformen neu praktizieren lernen, denn das 21. Jahrhundert wird die Zeit der Freestyle-Religion werden. Unter Freestyle-Religion verstehe ich eine eigensinnige, kooperative und weltzugewandte Weise spirituell zu sein, die sich in drei ineinander fließenden Bereichen vollzieht: Dem Meditativ-Kontemplativen, dem Liturgisch-Kultischen und dem weltzugewandten Gestalten.

Vom Mehrwert religiöser Spiritualität

Religiöse Spiritualität oder – wem der Ausdruck zu windig ist – christliche Religiosität unterscheidet sich von säkularer Spiritualität dadurch, dass sie sich bewusst dem Unverfügbaren zuwendet und sich auf diese Weise dem wunderbaren Wirken des Transzendenten oder des Göttlichen aussetzt. Manche Formen säkularer Spiritualität setzen nicht selten auf self-grow und Ressourcenerweiterung, sind also eine spirituelle Spielart von Fitness, die gebraucht wird, um in der Beschleunigungsmaschinerie der Spätmoderne besser mithalten zu können. Tragfähige Spiritualität hingegen tritt bewusst aus der Wiederholungsschleife der Selbstsuche und Selbstoptimierung heraus und setzt sich in heilsamer Selbstbegrenzung dem Transzendenten aus, um sich an der Grenze der eigenen Handlungsfähigkeit vom Göttlichen durchdringen zulassen, um für andere und mit anderen selbst wunderbar wirksam werden zu können.

Denn eine solche Spiritualität steht für das Wissen – oder besser noch die Weisheit, dass wir mehr sind als unsere eigenen Kräfte. Religion leben, heißt, anzuerkennen, dass das Unverfügbare mit seinen Kräften Teil unseres Lebens ist. Gerade in den Zeiten von Corona wird uns wieder deutlich, wie wenig Kontrolle wir über unser Leben haben. Die Grenzlinie zwischen säkularer und religiöser Spiritualität verläuft damit auf dem Grat der Frage: Soll das Unverfügbare durch Techniken und Methoden für das einzelne Subjekt kontrollierbar und beherrschbar gemacht werden (säkulare Spiritualität) oder setzt sich das Subjekt bewusst dem symbolisch repräsentierten Unverfügbaren aus und markiert damit die Grenze der eigenen Möglichkeiten? Religiöse Spiritualität setzt damit eben nicht auf die Eigenkräfte des Menschen, sondern auf das Offenhalten für das Unverfügbare, das wir Glaubende das Göttliche oder das Transzendente nennen und das uns in unterschiedlichsten Gestalten, nicht selten in den Masken des Bösen, begegnet und heimsucht.

Gebet als Sensibilität für menschliches Leid

Gerade die gegenwärtige Corona-Krise zeigt uns auf verschiedenen Ebenen, inwiefern Freestyle-Religion eine tragfähige Spiritualität für das Jetzt sein könnte. Freestyle-Religion besteht aus drei einander durchdringenden Feldern: Das Meditativ-Kontemplative, das Liturgisch-Kultische und das aktive Weltgestalten.

Wenn das Übliche nicht mehr geht, beginnt Freestyle. Wo kein Weg zu sein scheint, bahnt sich Freestyle einen. Als Christ*innen sind wir es gewohnt, zusammen zu kommen, gemeinsam zu beten und zu singen, Gottesdienst zu feiern. Das ist nun erstmal nicht mehr möglich. Nun müssen wir eigene Wege gehen. Dürfen am Sonntag der Pfarrerin nicht mehr zuhören, sondern müssen uns selbst überlegen, wofür wir beten und mit welchem Zugang wir einer biblischen Story begegnen. Jetzt geht es mehr denn je darum, das eigenverantwortliche – und in diesem Sinn eigensinnige – Beten und Lesen der Schrift, das Meditativ-Kontemplative, wieder neu zu gewichten. Im Gebet und in der Meditation stellen wir uns barfüßig dem Unverfügbaren. In der Wärme der Gottesgegenwart schmelzen unsere Allmachtsphantasien, in denen wir davon träumen, die Bedingungen unseres Handelns und Lebens selbst bestimmen zu können. Durch das Gebet im Angesicht Gottes finden wir eine gelassenere Haltung zum Unverfügbaren. Zugleich nehmen wir die Wunden unserer Mitmenschen in Syrien und an den geschlossenen Grenzen in Mexico und anderswo, die offenen Risse unseres Zusammenlebens in Hanau und anderswo und das Seufzen der Schöpfung im abgebrannten Australien und im gerodeten Amazonas mit ins Gebet. Weltabgewandt im stillen Kämmerlein wenden wir uns intensiv dem ungehörten Ächzen der Welt zu und bringen es mit und ohne Worte vor Gott. Solches Beten und Meditieren braucht Übung und zu Beginn wohl auch Anleitung. Wenn wir für ungewisse Zeit nicht mehr Gottesdienste feiern, könnten unsere Kirchen und Gotteshäuser wieder zu individuellen Orten des Gebets werden. In den Kirchen liegen Anleitungen und Impulse bereit, die sich jede*r individuell aneignen und der eigenen Spiritualität anpassen kann. Auch auf den Web-Sites der Kirchgemeinden werden konkrete Praxisanleitungen für Gebet und Meditation bereitgestellt. Entscheidend wird sein, dass unsere Geistlichen dazu ermuntern und anleiten, das eigensinnige Gebet zu üben und zu pflegen. Unsere Häuser und Wohnungen werden zu spirituellen Übungsorten, zu Klosterzellen.

In diesem Jahr werden wir Gründonnerstag, Karfreitag und auch das Entdecken der Auferstehungskraft am Ostermorgen selbst gestalten müssen. Nun beginnt nicht nur die Freiheit der Christenmenschen, sondern auch ihre Fähigkeit, dem eigenen Glaubensleben bewusst eine Form zu geben. Manche werden in den Kindheitstagen kramen und die alten Gebete, die einst Großmutter am Kinderbett betete, wieder hervorkramen, andere werden sich aufmachen, Unbekanntes zu entdecken und unerwartete Impulse aufzunehmen und sich darin zu üben.

Wie auch immer:  In den kommenden Wochen werden wir Freestyle-Religion ganz neu entdecken und könnten so ein Stück unseres eigensinnigen Glaubens zurückgewinnen.

Dabei wird sich in aller Freiheit und bei aller Selbstgestaltung etwas zeigen: Wir bleiben auf die anderen vor und neben uns angewiesen. Beim Nachsprechen eines Psalms leihe ich mir die Worte der Frauen* und Männer* vor mir. Klage und seufze mit ihren Bildern und mache diese Bilder durch mein lautes Lesen zu den meinen. Niemand glaubt allein, so originell er*sie auch sein mag. Glaube wandert von Hand zu Hand, lebt vom Weitererzählen und vom Hören von Ohr zu Ohr. Vielleicht entdecken wir gerade in diesen Zeiten, in denen das Gemeinschaftliche so stark eingeschränkt wird, wie sehr wir auf das gemeinschaftliche Fundament angewiesen sind.

Gemeinsam beten, schweigen, singen?

Das Liturgisch-Kultische, das zweite Feld der Freestyle-Religion, könnte für eine Übergangszeit schwieriger werden, weil der Kontakt zu anderen als risikobelastet gilt. Die meisten leben jedoch nicht allein. Jetzt bekommt die (familiäre oder WG-mäßige) Gemeinschaft eine neue Bedeutung. Gelingt es uns, trotz ganz unterschiedlicher Glaubensstile, etwas Gemeinsames, so minimalistisch es auch sein mag, zu gestalten? Am Abend zusammenkommen und ein Lied singen, vielleicht einander vom Tag, seinen Höhen und Tiefen, erzählen, eine Klangschale anschlagen und gemeinsam schweigen. Oder, wie es derzeit aufkommt, am Abend das Fenster zu öffnen und ein Lied zu singen oder zu spielen, sozusagen von Fenster zu Fenster. Wichtig wird sein, die Vereinzelung soweit es möglich ist, immer wieder zu durchbrechen. Überleben und glauben können wir nur in Gemeinschaft. Darum ist die Suche nach Gemeinschaftsformen, die unsere Nächsten mittragen können, so wichtig.

Füreinander einstehen

Und auch im dritten Feld, dem gestaltenden Wirken, wird Freestyle-Religion neue Akzente setzen. Gerade die derzeitigen Krisen machen die Verletzlichkeit und Verbundenheit aller mit allen deutlich. Solidarisches Handeln und Gestalten von Beziehungen trägt dieser Verbundenheit Rechnung. Es gibt kein christliches Handeln an sich, das immer und überall gleich ist. Wohl aber gibt es Christ*innen, die von der Verflochtenheit des Lebens und der Diversität menschlicher Lebensentwürfe ausgehen und entsprechend Welt durch ermutigende Projekte, Impulse und vor allem praktische Hilfe mitgestalten. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Die Sorge um die Einsamkeit und Gesundheit der Älteren ist es derzeit wohl vor allem, auf die das Augenmerk gerichtet werden sollte.

Damit stehen die Chancen vielleicht gar nicht so schlecht, gerade in der Krise unseres Alltags neue Formen von Freestyle-Religion zu entdecken.


Beitragsbild: Ansgar Scheffold on Unsplash

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uwe habenicht

ist verheiratet, hat drei Kinder und arbeitet seit 2017 als reformierter Pfarrer in St. Gallen mit dem Schwerpunkt Jugendarbeit. Autor von: Leben mit leichtem Gepäck. Eine minimalistische Spiritualität (2018); Freestyle Religion – Eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt. Eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert (März 2020).

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