In Zeiten von Selbstisolation und Quarantänen haben es auch kirchliche Angebote schwer. Wo gängige pastorale Angebote gerade keine Chance haben, floriert die Kreativität – so zumindest ein aktuelles Narrativ. Andreas Feige beleuchtet die Prozesse hinter digitalen Angeboten und fragt, ob die Pandemie wirklich für pastorale Innovation sorgt.

Nicht noch eine weitere Meinung

Seit den zur Eindämmung des Coronavirus beschlossenen Maßnahmen hat sich in der Pastoral viel ereignet. Was sich ereignet hat, wird durchaus sehr unterschiedlich bewertet. Von deutlicher Kritik über „verschlossene Kirchen und Pfarrern auf Tauchstation“ bis zum Dank von höchster Stelle „für alle kreativen Ideen und Umsetzungen“ ist alles dabei. Auch in der Theologie wird rege diskutiert: über einen erstarkenden Retrokatholizismus, Priester, die alleine Eucharistie feiern oder verschiedenste digitale Angebote („Ein Livestream ist besser als kein Livestream“ vs. „Scheiße stinkt auch digital“). Die Aufzählung könnte um viele weitere Positionen und Debatten ergänzt werden. Dieser Text will vorerst keine weitere Meinung dazulegen, sondern fragen: Was wird sichtbar in den gegenwärtigen pastoralen Ereignissen und den aus ihnen hervorgehenden Diskussionen?

Verdoppelung der pastoralen Welt

Ein Ausgangspunkt: Die Bandbreite dessen, was sich zur Zeit pastoral ereignet, vermittelt sich fast ausschließlich digital. Die Beteiligten der oben angeführten und weiterer Debatten wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Ereignis, auf das sie sich beziehen, im Internet aufmerksam. Dass wir die allermeisten Informationen digital beziehen, ist natürlich nicht erst seit Corona so. Seitdem jedoch physische Distanz höchste Priorität hat, haben sich auch jene pastoralen Ereignisse ins Digitale verlagert, die sonst weitestgehend analog stattfanden.

Der Münchner Soziologe Armin Nassehi, der im letzten Jahr mit seinem Buch Muster eine Theorie der digitalen Gesellschaft vorlegte, nennt das Digitale „die Verdoppelung der Welt in Datenform“. Was meint er damit? Nassehi geht davon aus, dass die Digitalisierung ein Problem löst, da sie ansonsten unlängst wieder verschwunden wäre. Das Problem liegt für Nassehi in der Komplexität der Gesellschaft. Genauer: Die Komplexität verbirgt die Regelhaftigkeiten individuellen Verhaltens, also die Muster, in der Gesellschaft. Das heißt, dass die analoge Welt dem Menschen weniger Informationen vermittelt als er*sie braucht, um in einer komplexen Gesellschaft miteinander umgehen zu können.

Wenn Armin Nassehi nun formuliert, dass das Digitale die Verdoppelung der Welt in Datenform ist, geht es ihm hier um die Frage, wie sich der Mensch der Welt zuwendet. Dies tut er*sie eigentlich immer in Form von Sprache, Bezeichnungen, kulturellen Formen, usw. Und die sind ja nicht die Welt selbst, sondern sie bilden sie in einer ganz bestimmten Weise ab. Auch Sprache, Schrift und Buchdruck – die es ja lange vor der Erfindung des ersten Computers gab – sind solche Verdoppelungen. Die Gesellschaft war also bereits vor der Entwicklung von Digitaltechnik eine digitale Gesellschaft. Die Lösung des eben beschrieben Problems liegt nun darin, dass durch die Analyse von Digitalem, der verdoppelten Welt in Datenform, die Gesellschaft ihre eigenen Muster erkennen kann.

Auch die pastorale Welt liegt im Digitalen als Verdoppelung vor. Die Weihe von Bistümern an das Herz der Gottesmutter, Generalabsolutionen und Ablässe, Priester, die alleine Eucharistie feiern, starkes soziales Engagement, kreative pastorale Akteur*innen, gute und weniger gute Predigten, Aktionismus und tatsächliche Innovationen – das alles gab es schon vor Beginn der rasanten Ausbreitung des Coronavirus, es war nur weniger sichtbar. Aktuell wird also verstärkt deutlich, dass in der Kirche divergente Katholizismen, verschiedene Glaubensvorstellungen und -praktiken sowie pastorale Ereignisse unterschiedlicher Qualität nebeneinander existieren. Dass dies gelegentlich schwer auszuhalten ist, davon zeugen die Debatten dieser Tage.

Entschleunigte Kirchenentwicklung?

Szenenwechsel: Alles fällt aus. Öffentliche Gottesdienste und Veranstaltungen, aber auch Gremiensitzungen finden derzeit nicht statt. Betroffen sind auch lokale und diözesane Kirchenentwicklungsprozesse, deren Zeitschienen teilweise bereits angepasst wurden. Was in der Vergangenheit oft gefordert wurde, zuletzt vom ehemaligen Wiener Pastoraltheologen Paul M. Zulehner1, ist nun eingetreten: Ein Moratorium kirchlicher Strukturreformen.

Glaubt man dem in Jena lehrenden Soziologen Hartmut Rosa, der das Corona-Virus als den radikalsten Entschleuniger der letzten 200 Jahre bezeichnete2, könnte nun eine Phase entschleunigter Kirchenentwicklung begonnen haben. Das hieße konkret: Endlich ist mal Zeit, sich in Ruhe präzise Gedanken zu machen, wie es mit der Kirche weitergehen soll. Auch die gesammelten Aufschriebe zum Thema Kirchenentwicklung werden erneut studiert, natürlich nebst allen ungelesenen pastoraltheologischen Wälzern, die im Bücherregal schon eine leichte Staubschicht bekommen haben. Knüpft man nochmals an Hartmut Rosa an, der die Vermutung äußerte, die Corona-Krise sei möglicherweise auch eine Chance für neue gesellschaftliche Verhaltensweisen3, könnte man für die Kirche die Hoffnung hegen, dass sie durch die Krise eine andere werden wird.

Warum dem nicht so ist, war in den vergangen Wochen relativ schnell zu erkennen. Erstens: Trotz oder gerade wegen der massiven Einschränkungen wird in den eigenen vier Wänden der ‚Normalmodus‘ simuliert und vieles, was im Alltag getan wurde, ins Internet verlagert.4 In der Pastoral wird das aktuell an nichts mehr deutlich als an der – man kann fast schon sagen – Flut an gestreamten Gottesdiensten. Zweitens: Gesellschaftliche wie dann auch kirchliche Strukturen haben eine so große Beharrungskraft, dass selbst aus dieser Krise keine neue Gesellschaft und auch keine ganz andere Kirche erwachsen wird. Das Verhalten aller Beteiligten ist hierfür viel zu erwartbar und typisch, das heißt die Muster viel wirksamer, als es den Akteur*innen bewusst ist.5 Drittens: Wer gerade von seinem Leben behaupten kann, dass es entschleunigt sei, gehört ohne Zweifel einem privilegierten Milieu an. Für Eltern von Kleinkindern und/oder schulpflichtigen Kindern, gerade wenn sie alleinerziehend sind, aber auch für Menschen, die sich nur kleine Wohnräume leisten können, ist diese Zeit eine sehr herausfordernde.6 So sind auch viele pastorale Akteur*innen derzeit nebst homeworking mit homeschooling, homecooking, dem Handling von Lagerkollern, etc. beschäftigt. Es sei ihnen daher keineswegs verübelt, dass sie gerade an alles, aber nicht an Kirchenentwicklung denken.

Wer Zeit hat, kann sich wichtige Fragen stellen

Um nicht falsch verstanden zu werden: Keine ganz andere Kirche heißt nicht, dass sich in der Pastoral nichts verändern könne. Die Geschichte lehrt: Die Kirche bewegt sich doch! Wer die Zeit haben sollte, kann sich daher die Frage stellen, was ihm*ihr am aktuellen Arbeiten sinnvoller und als (in die hoffentlich existierende) Zeit nach der Krise zu übertragen lohnend erscheint. Noch wichtiger aber mag die Frage sein, was derzeit von niemandem vermisst wird und daher zukünftig der Kategorie ‚Abschied‘ übergeben werden sollte. Vielleicht kann so auch die persönlich bezogene Frage des Papstes auf dem leeren Petersplatz von vor zwei Wochen pastoral gewendet werden.

Mögen alle pastoralen Akteur*innen diese Zeit „als eine Zeit der Entscheidung nutzen […:] zu entscheiden, was wirklich zählt und was vergänglich ist, […] das Notwendige von dem zu unterscheiden, was nicht notwendig ist [… und] den Kurs des Lebens wieder neu auf [… Gott …] und auf die Mitmenschen auszurichten“7. Damit dies gelingt, lohnt es sich die Frage „Was für Bedürfnisse gibt es [jetzt in der Corona-Krise]?“ der auch aktuell schnell fokussierten Frage „Was kann die Kirche für ein Angebot schaffen?“ vorzuziehen. Wie immer sollte es darum gehen, die Nutzer*innenperspektive einzunehmen. Denn nur aus dieser kann etwas erwachsen, worüber es später heißen wird: Hier war die Kirche für etwas gut.

Hashtag: #beschleunigtdurchdiekrise


(Beitragsbild: @joshcala)

Literatur:

Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019.

Letzter Aufruf. Pastoral unter neuen Bedingungen (= Herder Korrespondenz Spezial 2), Freiburg 2019.



1 Paul M. Zulehner, Ein Moratorium bei Strukturreformen einlegen!, https://zulehner.wordpress.com/2019/12/25/ein-moratorium-bei-strukturreformen-einlegen/.


2 Vgl. „Das Virus ist der radikalste Entschleuniger unserer Zeit“. Soziologe Hartmut Rosa über Covid-19, https://www.tagesspiegel.de/politik/soziologe-hartmut-rosa-ueber-covid-19-das-virus-ist-der-radikalste-entschleuniger-unserer-zeit/25672128.html.


3 Vgl. ebd.


4 Vgl. Entschleunigung durch Corona. Warum die neue Langsamkeit nicht entspannt, https://www.deutschlandfunkkultur.de/entschleunigung-durch-corona-warum-die-neue-langsamkeit.1008.de.html?dram:article_id=473780.


5 Vgl. Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019, u. a. 51f.


6 Vgl. hierzu Caren Miosga im Gespräch mit Armin Nassehi in den Tagesthemen vom 01.04.2020, https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-7423.htm, ab Minute 10:30.


7 Franziskus, Ansprache während der „besonderen Andacht in der Zeit der Epidemie“ auf dem Vorplatz des Petersdoms am 27.03.2020, http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2020/documents/papa-francesco_20200327_omelia-epidemia.pdf.

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andreas feige

studierte katholische Theologie in Freiburg und Innsbruck. Als Stipendiat des Cusanuswerks promoviert er am Lehrstuhl für Pastoraltheologie der Universität Freiburg. Zudem ist er Redakteur der Lebendigen Seelsorge.

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