Die Heilige Woche bildet den Höhepunkt des Kirchenjahres. Moritz Findeisen richtet den Blick auf das (verhüllte) Kreuz: Klassische Interpretationen des Karfreitag scheinen heute unverständlich. Inwiefern kann das Kreuz heute noch als spes unica, als einzigartige Hoffnung verstanden werden?
Betrachtung des Schmerzensmannes
Mit dem fünften Fastensonntag, der traditionell den Beinamen Passionssonntag trägt, überschreitet die österliche Bußzeit eine Wendemarke und ändert ihren Charakter: Während die gottesdienstlichen Lesungen und Gebete in den ersten Fastenwochen vor allem von Gottes Erbarmen mit seinem in Untreue und Schuld verfangenen Volk erzählen und die Gläubigen so zu reuiger Innenschau und persönlicher „Seelenhygiene“ bewegen wollen, rückt mit Beginn der Passionszeit das Leiden und Todesgeschick Jesu in den Fokus der Liturgie. An ihm möge wieder neu Maß für das eigene Handeln genommen und in der Betrachtung des Schmerzensmannes die Erlösungstat seiner Lebenshingabe erkannt werden.
Begleitet wird diese inhaltliche Wende durch eine widersprüchlich erscheinende optische Veränderung im Kirchenraum: Wo den Verantwortlichen die Umstände für einen vermeintlich plumpen liturgischen Effekt nicht zu mühsam sind, kann man in der Zeit zwischen dem Passionssonntag und der Gedächtnisfeier vom Leiden und Sterben Jesu am Karfreitag den alten Brauch der Kreuzverhüllung beobachten. Prozessions- und Altarkreuze werden dann durch meist dunkel-violette Tücher dem Anblick der Gläubigen entzogen.
„Wir möchten Jesus sehen.“
Die Paradoxie zwischen Betrachtung und Verhüllung reicht entsprechend dem diesjährigen Lesezyklus bis in die Evangelienperikope des Passionssonntags hinein, wenn eine Gruppe griechischer Juden auf ihr Drängen „Wir möchten Jesus sehen“ vom johanneischen Meister auf die recht kryptische Auskunft verwiesen wird:
„Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht wird. […] Wenn das Weizenkorn nicht auf die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ (Joh 12,21–24)
Im kirchlich sozialisierten Ohr erklingt augenblicklich das dazugehörige Evergreen der Jesus-Mut-mach-Lieder und, durch unzählbare Predigtstunden belehrt, erhellt sich sofort der verborgene Sinn: Weil Christus einen unverdienten Tod stirbt, erlangen wir das Leben anstelle unseres durch Sünde verdienten Todes. – Und das religiös unmusikalische Ohr? Das versteht von alledem: Nichts.
Könnte der Sinn der Kreuzverhüllung jenseits ihrer liturgiegeschichtlichen Ursprünge gegenwärtig nicht darin liegen, uns auf augenfällige Weise die Frage zu stellen, was wir eigentlich sehen, wenn wir das Bild des Gekreuzigten erblicken, was unser gläubiges Ich empfindet, wenn es den Martertod dessen betrachtet, von dem es bekennt, dass er wahrer Mensch und wahrer Gott sei?
Keine eingebrannten Bilder
Im gleichen Maße, wie der Streit um das Kruzifix in öffentlichen Räumen zum politischen Integral restchristlicher Identifikation wurde, dürfte nicht wenigen Abendländer*innen ein existenziell nachvollziehbarer Zugang zum Kreuz abhandengekommen sein. Zu selbstverständlich ist uns der Anblick geworden – er hat sich gewissermaßen auf der geistigen Bildfläche eingebrannt und ist ebenso wie zahlreiche religiöse Begriffe und Vorstellungen (Versuchung, Sünde, Erlösung, Heil) aus dem Bereich unserer alltäglichen Wahrnehmung ausgewandert.
Es sei an dieser Stelle ausdrücklich niemandem zu nahegetreten, der*die im Angesicht des Kreuzes tiefen inneren Trost für das eigene Leben zu schöpfen vermag. Jedoch bleibt der Zweifel konstitutiver Bestandteil des reflektierten Glaubens und die gesellschaftliche Kommunikationsfähigkeit seine ständige Herausforderung und Pflicht – wie auf diesem Blog unlängst in eindrücklicher Weise dargelegt wurde. Nehmen wir uns deshalb die stille Aufforderung des verhüllten Kreuzes zu Herzen, in den verbleibenden Tagen bis Ostern neu zu erwägen, welchen verborgenen Sinn wir dem damit erinnerten Todesgeschick abringen können, welche Hoffnung darauf zu richten wir fähig sind – ein Neuerwägen für uns persönlich, aber insbesondere auch im Hinblick auf die vielen, denen das Hoffen nicht (mehr) gelingt.
Im Wandel der Deutung
Dass sich die Hoffnungen der Menschen und damit verbundene Plausibilitäten mit dem Lauf der Zeit und im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen wandeln, liegt auf der Hand. So entspricht es in der biblischen Erzählwelt der physischen Verwobenheit Gottes mit seiner Schöpfung, dass der Tod seines Sohnes von einer gewaltigen Eruption sämtlicher Naturgewalten begleitet und selbst ein römischer Hauptmann von der Evidenz des Glaubens überwältig wird. Dagegen kam der kreuzestheologischen Satisfaktionslehre ausgehend vom paulinischen Briefkorpus bis in die Frühneuzeit hinein beinahe ungebrochene Geltung zu, wonach Christus mit seinem Sterben Wiedergutmachung für die Entfernung des sündigen Menschen von Gott geleistet habe.
Spätestens mit dem Wegfall des mittelalterlichen Ordnungsdenkens und der Auflösung der hierarchischen Gesellschaftsordnung dürfte diese Deutung des Kreuzes jedoch zunehmend fraglich geworden sein. Und während weite Kreise der Schultheologie bis heute beharrlich für ihr Fortbestehen ringen, arbeiten sich andere weiterhin an deren Dekonstruktion ab.
Auf nachhaltig wirksame Weise hat sich Hans Blumenberg dieser Aufgabe Ende der 80er-Jahre mit seinem Buch „Matthäuspassion“ gewidmet, in dem er zwar die ästhetische Gestalt und kulturbildende Gewalt der Bachschen Monumentalvertonung preist, die darin zu musikalischer Perfektion gebrachte Sühnetheologie aber entschieden verwirft. In seiner Interpretation trifft nicht den Menschen die Schuld an Tod und Elend in der Welt, sondern der Schöpfer selbst wird für die Unzulänglichkeit des Seins und die Schwäche seines Geschöpfs verantwortlich gemacht:
„Da bedurfte es keiner zu tilgenden Schuld als der eigenen: nicht alles gegeben zu haben. Nur wenn es diese war, worum es ging, ist konsistent, dass es nun nicht weniger sein durfte als der göttliche Logos selber – und dass ihm nicht geringere Last auferlegt werden konnte als dem Leittragenden des Universums, dem Menschen: Versuchung, Einsamkeit, Schmerz und Tod.“1
„Weint nicht über mich, sondern über euch und eure Kinder!“
Wer nicht so weit gehen möchte, muss nach anderen Deutungskategorien suchen, wenn uns am Karfreitag bei der Kreuzenthüllung erneut zugerufen wird: Ecce lignum crucis, in quo salus mundi pependit – „Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen.“
Die homiletische Lightversion liegt auf der Hand und dürfte leider genauso beliebt wie unzureichend sein: Am Kreuz streckt Christus seine Hände aus, um mit seiner Liebe die ganze Menschheit zu umarmen. Das muss nicht grundsätzlich falsch sein, aber was ist mit der unermesslichen Zahl qualvoll zu Tode Gekommener, deren Arme ebenfalls ausgestreckt waren – tatsächlich oder nur im Geiste – und die ohne Hilfe umgekommen sind?
Die leicht übersehbare Aufforderung Jesu, nicht über ihn, sondern über uns selbst und unsresgleichen zu weinen (Lk 23,28), wäre dann ernst genommen, wenn der Blick auf den Gekreuzigten uns weiterführt zu den großen und kleinen Kreuzwegen der Gegenwart, die in aller Öffentlichkeit oder weit entfernt von jedem medialen Interesse zum Himmel schreien.
Sehr mutig wurde dieser Interpretationsweg in den vergangenen Wochen von zwei Konzertprojekten in Freiburg und Umgebung beschritten: P. Klaus Mertes SJ und Till Krabbe brachten in Zusammenarbeit mit dem Bezirkskantorat Münstertal erschütternde Parallelen zwischen der Verurteilung und Verspottung Jesu mit dem Prozess um die Märtyrer Alfred Delp und James Graf von Moltke vor dem Volksgerichtshof 1945 zutage, indem sie die Johannespassion von Johann Sebastian Bach (komponiert 1724) mit szenischen Einschüben aus den Tagebüchern und Prozessprotokollen zu einer musikalischen Collage kombinierten. Im anderen Konzert erklang unter der Leitung von Johannes Götz die 1878 entstandene Kreuzweg-Komposition Via crucis von Franz Liszt zu Bildern des jungen Leipziger Kriegsfotografen Sylvio Hoffman aus Syrien2 und ließ die Stationen der Passion Jesu so auf eindringliche Weise brandaktuell werden.
Beiden Projekten war weder daran gelegen, das Todesgeschick Jesu zu verallgemeinern, noch dessen Erleben bei den Zuhörern durch schockierende Ausschmückung zu steigern. Vielmehr wurden hier auf sehr einfühlsame Weise neue Zugänge zu den biblischen Texten gefunden, die eine bloß ästhetische Vereinnahmung der Musikwerke im säkularen Kontext verhindern:
„Ich nahm Anstoß an der Trennung von Text und Musik. Wo erklingt der Text heute in der Wirklichkeit? Wo findet die Passion heute statt? Das wurde meine Frage. Wenn ich nicht mehr weiß oder doch wenigstens suche, wo die Passion heute stattfindet, werden mir auch Bachs Passionsvertonungen schal. […] Bachs Musik konnte nur deshalb so ungemein eindringlich sein, weil er die Aktualisierung des Textes in seiner Musik nicht scheute. Er nahm den Text ernst. Deswegen schrieb er große Musik. Das kann man nur wiederholen, wenn es nicht bloß wiederholt wird.“3
Einzigartige Hoffnung?
O crux ave, spes unica – „O heil’ges Kreuz, sei uns gegrüßt, du einz’ge Hoffnung in der Welt,“ so singt die Kirche im Hymnus der Karwoche Vexilla regis des Venantius Fortunatus (6. Jahrhundert).4 Mag auch diese alternativlose Einzigkeit des Kreuzes für viele heute kaum mehr gegeben sein, so bleibt doch wenigstens die spes unica als eine einzigartige Hoffnung:
Die Hoffnung auf einen Gott, der nicht als schicksalhafte Weltenenergie dahinströmt oder aus unbewegter Ewigkeit auf das Geschick des Menschen sieht, sondern es als Mensch bis zum Äußersten erleben gelernt hat – ein Gott, dem somit nichts Menschliches fremd ist, und in dem, weil er selbst den Schmerz des Todes kennt, meine Beziehung zum*zur Anderen weiterlebt, auch wenn wir nicht mehr sind.
Mit dieser Hoffnung möchte ich an Ostern neu auf den Gekreuzigten blicken und mit ihm auf alles, was den Menschen bewegt. Dem Vorwurf des Individualismus habe ich dabei nichts entgegenzusetzen – ich wüsste nicht, wie man anders glauben können sollte, denn als Ich.
Hashtag der Woche: #hoffnungsvoll
1 Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt 1988, 13.
2 Eine große Auswahl seiner Bilder ist bis Anfang Juni in der Ausstellung „Schaut auf dieses Land!“ im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu sehen.
3 Klaus Mertes, Vorwort zum Konzertprogramm „Die Freiheit, die Fesseln trägt – Eine szenische Collage“, Freiburg 2018.
4 Bei der entsprechenden Strophe handelt es sich vermutlich um eine spätmittelalterliche Ergänzung, vgl. Axel Stock, Lateinische Hymnen, Berlin 2013, 259.
Hallo,
hab’s gerade mit Gewinn gelesen, ich suchte nach Spes unica :-)),