Öffentlich über familiäre Streitereien reden? Na klar. Über Sex? Null problemo, wie Gordon Shumway zu sagen pflegt. Aber über Gott? Ungern. Privat. Awkward. Kann man das ändern? Vielleicht. In unserer Serie #dnkgtt fragen wir, wie Glaube heute aussehen kann. Den ersten Beitrag liefert Franca Spies.
Zu meinem 15. Geburtstag schenkten mir meine Eltern eine Bibel. Das kam mir seinerzeit reichlich unsinnig vor. Im familiären Haushalt waren bereits mehrere vorhanden und ich hatte kaum je Anstalten gemacht, sie zu gebrauchen — außer vielleicht, wenn in den Religionsunterricht eine mitzubringen war.
Wie selbstverständlich konnte ich im Teenie-Alter mit der Bibel nichts anfangen, mit Gott oder irgendeinem höheren Wesen vielleicht, aber nicht mit dieser jahrtausendealten Sammlung von Geschichten triefend von religiöser Propaganda, Grausamkeiten und unverständlich gewordenen Sprachbildern. Inzest hier, Gemetzel dort, brennende Büsche, goldene Kälber, Jungfrauenmütter, wtf.
Dazu noch diese ganzen Menschen, die sich ihrer Sache einfach zu sicher waren. Seien es die religiösen Vorbilder in der Bibel oder die hochherrschaftlichen Vertreter ihrer Sache in der katholischen Kirche: Alle schienen genau zu wissen, was richtig ist, was man zu glauben und auch sonst zu tun und zu lassen habe, ja mehr noch, was und wie man zu fühlen habe, dass man keinen Neid oder Zweifel oder (zumindest in der verqueren Meinung wirkmächtiger Einzelner) Bock auf Sex verspüren sollte.1
Und ich? War Teenie, war unsicher, wusste überhaupt nichts, wollte lieber nach Hogwarts als in den Himmel und war neidisch auf viele meiner Mitschüler*innen, die sich in meinen Augen so viel leichter mit der Welt taten als ich. Lust auf Sex hatte ich auch des Öfteren und war gelinde gesagt irritiert darüber, dass man so etwas angeblich nicht verspüren sollte. Gott und ich waren auf keinem besonders grünen Zweig. Zwar war ich mal Ministrantin gewesen und war dem Glauben nicht abgeneigt, aber in meinem Alltag spielte eine größere Rolle, wer schon mal geknutscht, geraucht oder Bacardi Breezer getrunken hatte.
Doch ich kannte sie zumindest grob, die Geschichten von Menschen, deren religiöser Kompass offenbar besser geeicht war als meiner: Menschen, die für Gott alles aufzugeben bereit waren — Heimat, Familie, Besitz, sogar das eigene Leben. Die Bibel erzählt viel von diesen religiösen Strahlemännern* und -frauen*. Und Gott begegnete mir im Spiegel dieser Menschen als einer (!), der (!) nicht weniger als alles von ihnen forderte. (Dass Gott nicht männlich ist, hatte mir die Bibel bis dahin auch verschwiegen.) Wer nicht übers Wasser gehen kann, glaubt halt zu wenig.
Wenn „Glaube“, wie die biblischen und kirchlichen Vorbilder mir suggerierten, bedeuten sollte, Freund*innen, Familie und Geld hinter sich zu lassen, ja bis zur Selbstaufgabe auf ein unsichtbares Wesen zu vertrauen, dann war ich ein hoffnungsloser Fall. Diese blinde Sicherheit, von der ich meinte, Gott fordere sie ein, konnte ich nicht liefern. Spoiler: Ich kann es bis heute nicht.
Wenn ich mich also überhaupt je mit Gott beschäftigte, dann im Modus des schlechten Gewissens angesichts meiner eigenen Unzulänglichkeit. Nennen wir es beim Namen: Das Christentum und wohl insbesondere die katholische Kirche hat sich das Phänomen des schlechten Gewissens durchaus zunutze gemacht. Sich in der eigenen Haut nicht wohl zu fühlen regt seit Jahrhunderten Menschen zu religiösen Praktiken an, die eine weißere emotionale Weste versprechen.
Die Logik: Vertraue nur fest auf Gottes Liebe (in vermittelter Form der Institution xy), denn sonst wird er Dich grausam vernichten.2 Klingt komisch, funktioniert aber. Vielleicht weil das menschliche Grundbedürfnis bedient wird, dass selbst- und fremdgebaute Scheiße nicht einfach als solche stehen bleiben, sondern ein Urteil erfahren. Blöd halt, wenn die göttliche Definition von „Scheiße“ einschließt, neidisch, unsicher oder horny zu sein. Das kann ja nur schief gehen.
An diesem Gott, der mich in meiner pubertären Orientierungslosigkeit mehr abstieß als anzog, hätte ich im Zustand postpubertärer Selbstsicherheit vermutlich jedes Interesse verloren. Das „Cogito ergo sum“ wäre heute mein Credo, Descartes mein Gott. Ist er irgendwie auch, den biblischen Gott habe ich auf Umwegen trotzdem wiedergefunden — zum Glück bevor er in der Mottenkiste überkommener familiärer Emo-Erbstücke landen musste.
Wie das? Indem ich das unliebsame Geburtstagsgeschenk meiner Eltern benutzte, will sagen: las, und zwar kurz nach Erhalt desselben. Es geschah weniger aus eigenem Antrieb als auf Rat eines Gesprächspartners hin, den ich in emotional aufgewühlten Zeiten um Hilfe bat. Aufgelöst stand ich vor ihm, voller Hoffnung auf die richtigen Worte — und er erzählte irgendwas vom Johannes-Evangelium. Er war Mönch, ich hätte es wissen müssen.
Nichtsdestotrotz las ich den empfohlenen Text. Er handelte von einer Person, deren Welt sich auf den Kopf gestellt, die alles verloren hatte, der nur noch Verzweiflung blieb — einer Person, so empfand ich es zumindest im Drama-Dauerzustand der Pubertät, wie mir!
Die story ist schnell erzählt: Maria Magdalena steht am geöffneten Grab Jesu, verzweifelt aus Sorge um den verschwundenen Leichnam. Sie entdeckt zwei Engel im Grab, spricht mit ihnen wie mit Menschen. Sie entdeckt Jesus außerhalb des Grabes, spricht mit ihm wie mit dem Gärtner, denn dafür hält sie ihn. Alles scheint verloren, sie erkennt das „Erlösende“, die „frohe Botschaft“ nicht, obwohl Gott seinen ganzen Engel- und Auferstehungs-Wunderzunder auspackt, um es ihr unter die Nase zu reiben. Bis zu dem Moment, in dem sie vom auferstandenen Jesus angesprochen wird: „Maria!“
Langsam trat da ein Gott in mein Leben, mit dem ich etwas anfangen konnte; ein Gott, der mich und meine Gefühlsregungen nicht verneint, sondern bejaht; bei dem ich kein perfektes und zum Kotzen selbstgerechtes Wesen spielen muss, sondern fragil sein darf, unsicher, ängstlich; dessen Engel mir auch mal am Allerwertesten vorbeigehen dürfen, wenn ich gerade einfach in Selbstmitleid ertrinken möchte. Das war nicht mehr der fordernde Gott, für den ich unter ständiger Rezitation des Ave Maria meine Familie verlassen und über den nächsten See laufen sollte. Das war ein Gott der Freiheit. Und ich ein freier Mensch.
Zwar bin ich katholisch, aber wer mal von Luthers legendarischem Turmerlebnis gelesen hat, wird sich vielleicht daran erinnert fühlen: zumindest der persönlichen Errungenschaft, aber weniger des konkreten theologischen Gehalts wegen.3 Eine emanzipierte Frau wäre ich vielleicht auch ohne diese biblisch motivierte Schlüsselszene geworden — Bockbeinigkeit liegt in der Familie. Seinerzeit hat die Bibel mich der Kirche wieder ein Stück näher gebracht und mir damit die Tür zu dem geöffnet, was ich heute bin. Und während ich die schönen Seiten der Kirche kennenlernte, die ich ihr zwischenzeitlich kaum zugetraut hätte, reifte meine Beziehung zu Gott weiter: in bis dahin übersehenen Bibelstellen, bisweilen gar im Gottesdienst, vor allem aber in Begegnungen mit anderen Menschen, die glaubten.
Mittlerweile habe ich katholische Theologie studiert, den Hals davon sogar immer noch nicht voll und promoviere deswegen noch. Theologie ist ein geiles Fach! Und ich bin froh, dass es Leute gibt, die in den ewigen (berechtigten) Debatten über die Rolle von Kirche und Religion im Staat und in der Gesellschaft mehr als vorurteilsbehaftetes Halbwissen zu bieten haben. Als Theologin kann ich auch ellenlange Auslegungen zu manchen Bibelstellen vorlegen, Sinn und Unsinn von brennenden Dornbüschen und niederkommenden Jungfrauen erörtern. Viele dieser sprachlichen Bilder vermag ich unterdessen zu erklären, fremd bleiben sie mir trotzdem.
Überhaupt hat sich meine Distanz zur Bibel nicht in Wohlwollen aufgelöst, aber sie hat sich verändert. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel besteht heutzutage vor allem darin, sie historisch zu erläutern. Das rückt die Texte zwar zunächst in eine objektivierende Ferne, ermöglicht aber gerade dadurch ein freies Verhältnis zu ihnen. Nicht jeder Quark, der darin vorkommt, muss dem Gott angelastet werden, an den ich glauben kann und will. Diese Texte stammen von Menschen — Menschen, die sich zu bestimmten Zeiten, unter bestimmten Umständen, in bestimmten sozialen Gefügen Gedanken über sich, die Welt und Gott gemacht haben. Und sie bilden alle Licht- und Schattenseiten ab, die Menschen nun mal so haben.
Geschichtlich gesehen verdankt sich dieser etwas distanzierte, aber dadurch befreiende wissenschaftliche Blick auf die Bibel den Anstößen der Aufklärung. Hier findet also Descartes seine Rolle im Gefüge: Gott ist uns nur in menschlichen Begriffen zugänglich. Kein Credo ohne Cogito. Was von den tradierten Geschichten der Bibel heute hier gelten kann, hängt daher an unserer Anerkennung. Und ich für meinen Teil kann und will nur einen Gott anerkennen, der nicht Unmögliches von mir verlangt, mir nicht vorschreibt, wie stark ich glauben und was ich fühlen soll. Christliche Hardliner*innen mögen das für Relativismus halten, ich halte es für Freiheit. Vielleicht gibt es meinen Gott nicht, sondern den der Hardliner*innen. Dann wären dessen Wege jedoch dermaßen kontraintuitiv, dass er sich nicht wundern dürfte, wenn er vielen Menschen egal wäre.
Dieser Gott wäre darüberhinaus, so meine Überzeugung, auch nicht der christliche Gott. Der hat verstanden, dass er nur im Medium der Menschlichkeit Nähe zu uns aufbauen kann. Deswegen hat er sich das ganze Drama und die ganze Schönheit der menschlichen Existenz selbst zugemutet. Darin besteht meines Erachtens die Pointe des Christentums: Kein Gott ohne Mensch, kein Mensch ohne Gott!
Zurück zur Bibel: Ganz gelesen habe ich sie wohl bis heute nicht. Aber ich habe viele ihrer Texte und Facetten studiert und tue das immer noch mit Begeisterung. Sie ist die gewaltigste Geschichtensammlung, die mir je untergekommen ist. Viele kleine und große Erzählungen finden sich darin, teils mit überwältigenden, teils aber auch mit ganz bescheidenen Ansprüchen. Sie hat eine Wirkung hervorgerufen, ob zustimmend oder ablehnend, die ihresgleichen sucht: in Philosophie und Geschichte, in Kunst, Musik und Literatur. Sie hat Wunderbares und Grausames inspiriert, sie ist uns in Fleisch und Blut übergegangen und erregt immer wieder unseren Abscheu. Sie befördert als Machtinstrument die Unterdrückung und motiviert die Zuwendung zu den Ärmsten der Armen.
Sie ist zutiefst menschlich. Sie hat mich gelehrt, dass ich nur menschlich von Gott sprechen und an ihn glauben kann — in Freiheit und Vernunft. Und ich glaube, Gott findet das voll in Ordnung.
(Beitragsbild: @davealmine)
1 S. z.B. Augustinus, De nuptiis et concupiscentia, I, 8: „Proinde nuptiae quia etiam de illo malo boni aliquid faciunt, gloriantur, quia sine illo fieri non potest, erubescunt.“ (Also rühmt sich die Ehe, weil sie auch aus jenem Übel (= Lust; F.S.) etwas Gutes macht, und sie errötet, weil sie ohne jenes nicht entstehen kann.)
2 Vgl. dazu den unterhaltsamen Essay: Sloterdijk, Peter, Im Schatten des Sinai. Fußnote über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft, Berlin 2013.
3 Vgl. Leppin, Volker, Martin Luther, Darmstadt 2017 (3. Aufl.), 107ff. Leppin gibt dort Hinweise zur Historizität des Turmerlebnisses und erörtert Luthers Aussage, er habe seine reformatorische Erkenntnis „auf diss Cloaca“ gehabt.
Mir gefällt der Stil dieses Berichtes, flüssig, authentisch ( für mich ), – inhaltlich aufschlussreich, weil es auch meinem Erfahrungshorizont entspricht. Es freut mich sehr, wenn Frauen wie Sie sich theologisch bilden und weiter bilden. das ist ein grosser Gewinn.