Zwei Schiffbrüche waren in den vergangenen Wochen in den Schlagzeilen – dabei sind sie kaum miteinander vergleichbar. Annika Schmitz lässt das Ungleichgewicht zwischen beiden keine Ruhe: Wo schauen wir hin? Wem helfen wir?

Am Donnerstagabend deutscher Zeit gab die US-Küstenwache bekannt: Die fünf in einem Tauchboot vermissten Männer auf dem Weg zur Titanic sind mit großer Sicherheit tot. Tagelang hatten Rettungskräfte nach ihnen gesucht, internationale Medien die Suchaktion mit Berichten und Livetickern begleitet. Schließlich gilt: Menschen in Not gehört geholfen. Daran sollte und darf es niemals Zweifel geben. Und so manches Mal bringen sich die Helfer – ob dafür ausgebildet oder zufällig in diese Rolle gekommen – dabei selbst in Gefahr. Man denke nur, um bekannte Beispiele zu nennen, an die spektakuläre Rettung der Kinder aus einer überfluteten Höhle in Thailand und an die Rettungskräfte, die am 11. September 2001 die brennenden Twin Towers erklommen. Oder an die Bilder der Flut in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, als sich Menschen gegenseitig aus den Wassermassen zogen und sich die Bauern mit ihren Traktoren durch die Straßen kämpften, um ihre Nachbar*innen aus den Häusern zu retten. 

Menschen helfen Menschen – immer?

Menschen helfen Menschen in Not. Immer? 

Kurz nach dem Verschwinden der „Titan“ tauchten in den Sozialen Netzwerken erste Kommentare, später vergleichende Bilder auf: Auf der einen Seite ein übervolles Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer, auf der anderen jenes des verschollenen Tauchboots.

Denn erst kürzlich wieder wurde das Mittelmeer, beliebtes Urlaubsziel für die einen, zum Grab hunderter anderer. Und auch die Gesamtzahlen sind erschreckend. Seit 2014 sind rund 27.000 Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben im Mittelmeer ertrunken, in diesem Jahr verzeichnet die Statistik schon 1.166. Das ist alleine für 2023 beinahe die Zahl der Titanic-Toten von 1912.

Warum bekommen die einen Aufmerksamkeit, die anderen nicht? Wo sind die ganzen Suchmannschaften, wenn es um Geflüchtete geht – und warum werden ihnen sogar noch Steine in den Weg gelegt? Die Diskussion zog sich bis in die Zeitungen hinein: Bekommen die Reichen alle Aufmerksamkeit und die Armen werden sich selbst überlassen?

Ja, sagen die einen. Nein, die anderen: Hier würden Äpfel mit Birnen verglichen. 

Doch manchmal muss man eben Äpfel mit Birnen vergleichen, schreibt der Autor und Journalist Arno Frank in einem Essay für den „Spiegel“ – weil man ohne diesen Vergleich in der Frage nicht weiterkomme. Es ist ein erhellender Beitrag darüber, wie Journalismus und Psyche funktionieren. „Möglicherweise gehört das eine Geschehen der popkulturellen Sphäre an, während das andere leider politisch ist“, schlussfolgert Frank. Und fragt kurz danach, ob ein verschollenes Boot mit 600 Geflüchteten es wohl in die Tagesthemen geschafft hätte. 

Wir müssen uns entscheiden, was wir sehen wollen.

Wo auch immer man sich hier positionieren möchte: Diskussionen wie diese werden wir künftig, wenn der Klimawandel seine volle Wucht entfaltet, Millionen Menschen in die Flucht treibt und die Superreichen sich noch mehr abschotten werden, öfters führen. Deswegen ist jetzt der Zeitpunkt zu überlegen, wie Gesellschaft und Medien damit umgehen wollen – ob wir uns von Clickbait leiten lassen oder von den tiefergehenden Hintergründen.

Das ist nicht nur Verantwortung der Medien, sondern auch von jedem*jeder Einzelnen, der*die sich überlegen kann, auf welchen Artikel er*sie klickt. Es ist ein bisschen wie mit Amazon: Alle beklagen das Sterben des Einzelhandels, aber niemand will beim Online-Großanbieter gekauft haben.

Themen, die keine Beachtung finden, obwohl sie es verdient hätten, gibt es zuhauf. Über die Erdbebenopfer in der Türkei und in Syrien spricht niemand mehr. Von den Hungernden in Äthiopien und im Jemen ganz zu Schweigen. Jährlich stellt die „Initiative Nachrichtenaufklärung“ gemeinsam mit dem Deutschlandfunk eine Liste mit medial vernachlässigten Themen vor. In diesem Jahr standen etwa die Verdunklung der Meere in Küstennähe, unzureichende Psychotherapieangebote für Menschen mit Behinderung und sexualisierte Gewalt im Kongo darauf. Im Jahr zuvor ging es um zu wenig kostenfreie Schulbücher, um fehlende Krankenversicherung und pflegende Kinder.  

Natürlich kann es eine*n schier um den Verstand bringen, den ganzen Tag von kleinen und großen Katastrophen vor der eigenen Haustür und in der Welt zu lesen. Nur: Weil wir nicht von ihnen lesen, heißt es nicht, dass es sie nicht gibt. Sich davon einfach abwenden zu können, ist ein Privileg. Eines, das viele andere nicht haben. Nur wer weiß, was ist, kann an Lösungen und Perspektiven arbeiten. Und kann verstehen lernen, warum Menschen aus Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten auf die Schlauchboote gen Europa steigen.  

Hoffnung war noch nie ein leichtes Wort

Ein Blick zurück und nach vorn, der erstmal wie ein harter Bruch erscheinen mag: Ihre Glaubwürdigkeit hat die Kirche mit dem Missbrauchsskandal verspielt, vielleicht sogar endgültig. Gerade da, wo es um Menschen und ihre Sexualität geht, wollen sich nur noch die wenigsten in unseren Breitengraden moralische Rückendeckung von der Kirche geben lassen. Das ist ein guter Zeitpunkt, um den sexualethischen Zeigefinger des Moralapostels fallen zu lassen.

Neben einer ehrlichen Aufarbeitung könnte die Kirche die Abkehr von ihrem einstigen Lieblingsthema – dem Blick in die Schlafzimmer – auch als Hinwendung zu ihrem ureigentlichen Auftrag verstehen: zum Einsatz für die Verfolgten und Schwachen.

Was das konkret heißt? Caritas und Diakonie mit dem schier unermesslichen Einsatz, den sie leisten, nicht immer nur als Sekundärort von Kirche wahrnehmen. Und ihre Arbeit unterstützen und ausbauen. Laut gegen Unrecht eintreten. Und vor denen, die Hilfe brauchen, nicht die Augen verschließen. Hoffnung war noch nie ein leichtes Wort. Insbesondere nicht in einer krisenerschütterten Zeit wie dieser. Doch es gibt Menschen, die mit ihrem Leben und ihrem Einsatz füreinander für genau diese Hoffnung einstehen. Sie sind die Prophet*innen unserer Zeit. Genau wie die, die den Fremden unter Einsatz des eigenen Lebens retten.

Speziell für die Theolog*innen heißt das: Mehr Befreiungstheologie wagen! Und solche Theologie, die die Existenz der Armen und Verfolgten wirklich ernst nimmt. Die von den Bedrohten her denkt. Die nicht nur über sie spricht, sondern mit ihnen. Und ihnen im besten Fall dazu verhilft, ihre Stimme weiterzutragen. Die weiß, dass jede Kar- und Ostertheologie sich an den Schrecken dieser Tage messen lassen muss. 

Bei allen sich wohl noch lange hinziehenden innerkirchlichen Streitereien zwischen mittlerweile zutiefst gespaltenen Lagern könnte es doch vielleicht einen Konsens geben: Dass die Gottheit Jesu Christi eine ist, die sich denen zugewandt hat, auf die sonst niemand blickt – und dass das nicht nur ein frommer Spruch ist, sondern ein konkreter Handlungsauftrag. 

Hashtag der Woche: #hinsehen


Beitragsbild: StockSnap auf Pixabay

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annika schmitz

studierte katholische Theologie in Freiburg, Jerusalem und an der Yale University/USA. An der Universität Wien promoviert sie im Bereich von Literatur und Religion. Seit Oktober 2020 arbeitet sie als Journalistin bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn.

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