Ein guter Religionsunterricht greift die Lebenswelt der Schüler*innen auf. Gerade darum braucht es queere Religionslehrkräfte, schreibt Theo Schenkel.
Sie sind eher die seltene Art unter den katholischen Religionslehrkräften, aber es gibt mehr von ihnen, als die meisten denken: queere Religionslehrkräfte. Unsichtbar heißt jedoch nicht inexistent. Kaum ein kirchennaher Beruf ist momentan einfach. An vielen Stellen stellt sich die Gewissensfrage:
Kann ich weiterhin in einem System arbeiten, das verschiedenste Formen von Missbrauch begünstigt, nur mit begrenztem Tatendrang aufklärt und sich häufig vor strukturellen Reformen sträubt, oder müsste ich nicht eigentlich als einzig mögliche Konsequenz eine andere Arbeitsstelle suchen?
Für queere Religionslehrkräfte stellt sich diese Frage noch in einer persönlichen Dimension. Kann ich für eine Institution arbeiten, die mich selbst nicht mit meiner ganzen Identität annimmt und wertschätzt?
Die katholische Kirche braucht allerdings queere Religionslehrkräfte. Viele Verantwortungsträger in dieser Institution wissen das vielleicht noch nicht, aber queere Religionslehrkräfte sind notwendig, damit Religionsunterricht weiterhin relevant bleiben kann. Es gibt verschiedene Perspektiven, die bei dieser Thematik eine Rolle spielen.
Die Inhaltsperspektive
Die Inhalte des katholischen Religionsunterrichts sollen sich an der kirchlichen Lehre und an der Lebenswelt der Schüler*innen orientieren.1 Auch auf Seiten der kirchlichen Lehre gibt es Gründe, warum queere Religionslehrkräfte einen Mehrwert für den Unterricht darstellen können.
Die kirchliche Lehre trifft an unzähligen Stellen Aussagen über das romantische und sexuelle Miteinander von Menschen. Sie beansprucht für sich, dass sie genau weiß, in welcher Form und in welchem Ausmaß Menschen zueinander hin geordnet sein sollten.2 Gerade queere Menschen sind gezwungen, sich mit der Bedeutung dieser kirchlichen Festlegungen für ihr Leben und für die Gesellschaft auseinanderzusetzen.
Was heißt das für meine Empfindungen, wenn die Kirche Homosexualität als Sünde verurteilt? Was heißt es, wenn meine Beziehung zu einer trans* Person eventuell nicht im klassischen katholischen Sinn auf Fortpflanzung ausgelegt ist? Was heißt es für meine polyamore Beziehung, wenn die katholische Kirche nur eine Ehe aus zwei Personen als segensfähig ansieht?
Diese Auseinandersetzungen sorgen neben Sachwissen meistens für eine kritische Positionierung. Eben dieses Wissen und diese Anfragen könnten helfen, dass die Inhalte des katholischen Religionsunterrichts kritikfähig, realistisch und relevant bleiben können. Das betrifft nicht ausschließlich den Bereich der Sexualität und Romantik, sondern zum Beispiel auch den Themenkomplex der Familie und deren Stellenwert in der kirchlichen Lehrmeinung. Es sollte hierbei nicht darum gehen, im Unterricht zu verschweigen, welche Positionen offiziell von der katholischen Kirche vertreten werden, sondern zu lernen, wie ein produktiver Umgang mit den Schwierigkeiten gelingen kann.3
Die Perspektive der Schüler*innen
Wenn auch die katholische Lehre sich in den letzten Jahrzehnten nur begrenzt verändert hat, so verändert sich die Lebenswelt der Schüler*innen, ob das der Kirche gefällt oder nicht. Nicht zuletzt durch Serien wie „Chilling Adventures of Sabrina“, „Shadowhunters“, „Elite“ oder das öffentliche Coming Out von Elliot Page aus „Umbrella Academy“ gewinnen queere Menschen sowohl auf Streamingplattformen, als auch im gesellschaftlichen Leben eine größere Sichtbarkeit. Laut Schätzungen sind ungefähr 10% der Gesellschaft queer.4 Dementsprechend befinden sich in einer Schulklasse durchschnittlich zwei bis drei Personen, die queer sind.
Hier ergeben sich zwei Perspektiven: Zum einen ist es notwendig, dass queere Themen und Menschen im Religionsunterricht inhaltlich vorkommen, weil dies Anknüpfungen zur Lebenswelt der Jugendlichen schafft. Zum anderen ist es jedoch auch genauso wichtig, dass queere Religionslehrkräfte als Lehrkraft im Unterricht sichtbar sind: Eine queere Lehrkraft kann einerseits für diejenigen, die selbst queer sind, eine Möglichkeit zur Identifikation sein.
Gerade weil Queerfeindlichkeit im kirchlichen Umfeld weiterhin verbreitet ist, können queere Religionslehrkräfte durch ihre Sichtbarkeit ein wichtiges Gegengewicht setzen. Andererseits können queere Religionslehrkräfte für die Schüler*innen, die nicht queer sind, ein Beispiel bieten, sich mit queeren Menschen auseinanderzusetzen, um so Vorurteile abzubauen.
Religionsunterricht gestaltet Kirche. Religionslehrkräfte begleiten Jugendliche auf ihrem Weg mit, gegen, zur oder von der Kirche weg. Jugendliche, die sich auf solchen Wegen befinden, sind enorm vulnerabel, sodass es wohltuend sein kann, wenn hier Menschen mitgehen, die selbst mit der Kirche gehadert haben oder immer noch mit ihr hadern und sich entschieden haben, weiterhin auf diesem Weg zu bleiben.
Die Perspektive der Lehrkraft
Es kann auch persönliche Gründe geben, die queere Menschen motivieren können, katholische Religion zu unterrichten: z.B. das Ausleben von Kreativität durch die Freiheiten des Bildungsplans oder der Wunsch mit jungen Menschen über Religion ins Gespräch zu kommen.
Diese Freiheit kann beispielsweise dazu genutzt werden, eine queere und feministische Perspektive einzubringen, die im (deutsch-)theologischen Kanon häufig noch abwesend ist.
Der Unterricht kann auch ein angenehmes Gegengewicht zur öffentlichen theologischen Debatte bieten, da manche innerkirchliche Diskussion in einer Welt geführt wird, die mit der Welt der Jugendlichen wenig zu tun hat. So hat zum Beispiel die Frage, ob Frauen und nicht binäre Personen in der Eucharistiefeier predigen oder gar Priester*in werden dürfen, für die Kirche einen hohen Stellenwert – während sie für Jugendliche kaum Relevanz besitzt. Der Austausch mit Jugendlichen, die selbst noch auf der Suche nach ihrer Identität sind, kann hierbei sowohl herausfordernd abwechslungsreich und realistisch erfrischend sein, als auch eigene Überzeugungen in Frage stellen. Diese Punkte sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, weil queere Lehrkräfte zwar mittlerweile als Arbeitnehmer*innen willkommen sind, aber vonseiten der Lehrmeinung weiterhin als sündig gekennzeichnet sind.
Zum Schluss ein paar Anmerkungen
1. Auch wenn sich dieser Text explizit für queere Religionslehrkräfte ausspricht, heißt das bei weitem nicht, dass ausschließlich alle angesprochenen Punkte nur von queeren Religionslehrkräften ausgefüllt werden können. Auch Allies [Verbündete] können queere Lebensrealitäten im Unterricht thematisieren oder auf einen vielfältigen theologischen Kanon achten.
2. Queere Religionslehrkräfte bzw. queere Menschen im Allgemeinen sind in keiner Weise zu einem Coming Out verpflichtet. Sie schulden niemandem ihre Sichtbarkeit. Geschweige denn ist ein Coming Out in jedem Kontext ratsam.
3. Queere Religionslehrkräfte sind häufig Expert*innen für Diskriminierung aufgrund von Sexualität oder Geschlecht, aber dies heißt nicht, dass sie automatisch bessere Lehrkräfte sind oder sich nicht in Bezug auf andere Diskriminierungsformen weiterbilden müssten.
Hashtag der Woche: #reliqueer
Beitragsbild: @kellitungay
1 Vgl. Der Religionsunterricht in der Schule. Ein Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland (1974), in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Texte zu Katechese und Religionsunterricht, Bonn 4. Aufl. 1998, 151.
2 Zum Beispiel: Laudato Si Nr. 155..
3 Dies kann auch mit den Ausführungen der Würzburger Synode zur Rolle der Religionslehrkraft in Verbindung gesetzt werden. Vgl. Der Religionsunterricht in der Schule. Ein Beschluss der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland (1974), in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Texte zu Katechese und Religionsunterricht, Bonn 4. Aufl. 1998, 147f.
4 https://www.lsvd.de/de/ct/3168-Was-denkt-man-in-Deutschland-ueber-Lesben-Schwule-bisexuelle-trans-und-intergeschlechtliche-Menschen (abgerufen 05.06.2023).