Auf den ersten Blick scheint die Hauptstadt Berlin mit den drei Adjektiven dreckig, laut und gottlos schnell skizziert zu sein. Warum es sich lohnt, einen weiteren Blick auf die Säkularität in urbaner Spätmoderne zu wagen und was Theologie davon lernen kann, zeigt Stephanie Gans in ihrem Beitrag.
Nur noch wenige positionieren sich zum Thema Religion
Die Gesellschaft steckt in verschiedenen Transformationsprozessen. Wird ein Fokus auf den Wandel von Religiosität gelegt, ist festzustellen, dass immer mehr Menschen die Einheit von Glauben und Kirche als fragwürdig empfinden und diese ablehnen. In der über 2000-jährigen Geschichte des christlichen Glaubens begegnete dieser noch nie einer so weit verbreiteten und milieustabilen Nicht-Religion und religiös indifferenten Existenzweisen, wie beispielsweise in Berlin. Im Mittelalter traf das Christentum auf andere Religionen und es ging darum, wer die richtige Religion ausübt und wie die anderen von dieser zu überzeugen sind.
Heute ist eine klare religiöse Positionierung gesellschaftlich nicht mehr wichtig. Viele verhalten sich zum Thema Religion indifferent, d.h. sie sind unberührt und gleichgültig dem gegenüber.
Beim Spazierengehen durch Berlin ist auffällig, dass diverse Orte gelebter Spiritualität präsent sind und nebeneinander koexistieren. Die Spiritualitätsorte sind wahrnehmbar, ohne mit diesen eine Beziehung herstellen zu müssen. Jedoch bedeutet eine Nicht-Positionierung und die damit einhergehende Konfessionslosigkeit in einem ersten Schritt bloß die Nicht-Bindung an eine institutionelle verfasste Religion. Somit werden eine Struktur und ein vorgegebenes Gebilde von Religion abgelehnt, nicht aber zwingend religiöse Überzeugungen und Praktiken. Menschen differenzieren heute zwischen Glauben und Kirche. Diese Haltung dürfte Christ:innen nicht unbekannt vorkommen oder bedrohlich auf sie wirken. Denn auch Christ:innen leben mit Blick auf ihre eigene Genese mit der Differenz zwischen Glauben und Kirche: Eine Differenz zwischen der jesuanischen, also vorösterlichen, Botschaft vom Reich Gottes und der nachösterlichen Evangelienverkündigung der christlichen Gemeinden. Über die letzten Jahrhunderte und in der Gegenwart wurde diese Differenz versucht in eine Synchronie zu übersetzen.
Wie kann sich theologisch dazu verhalten werden?
Der emeritierte Fundamentaltheologe Christoph Theobald SJ spricht in diesem Zusammenhang von einer radikalen Exkulturation, dem „Auszug des Christentums aus der Gesellschaft“.1 Indem er die Säkularität in ihrer Radikalität anerkennt und trotzdem eine Begegnung zwischen säkularer und religiöser Lebenswelt ohne wechselseitige Vereinnahmung für möglich und als wichtig erachtet, versucht Theobald, den Wandel für die Theologie produktiv zu machen.
Es geht weder darum, die Gesellschaft zurückzudrehen, noch die Säkularität aufzuhalten. Vielmehr geht es um das Brückenbauen im Dazwischen.
Theobald sieht die Kirche vor einem radikalen Wandel, „der die letzten kulturellen Stützen der klassischen Struktur des Katholizismus wegbrechen lässt“.2 Diese Entwicklung schätzt Theobald jedoch nicht als eine Gefahr ein, sondern als Chance des Christlichen, um zum Eigentlichen zurückzukehren. Dabei wäre die Verbesserung der eigenen Evangelisierungsstrategie ein falscher Motivator.3 Vielmehr geht es um die Entdeckung „in welcher Hinsicht die heutige gesellschaftliche Situation wirklich Chance für das Evangelium darstellt“.4 Chance, weil „bislang unbekannte Facetten des Evangeliums Gottes“ entdeckt werden können.5
Es geht nicht um Mission und besonders nicht darum, die Menschen von der eigenen Religion zu überzeugen. Vielmehr ist die Haltung einzuüben, dass dieser religiöse Wandel in Beziehung mit dem Evangelium gesetzt werden und in diesen Kontexten (erst) eine christliche Botschaft zum Vorschein kommen kann.
Diese Haltung drängt sich auf, wenn wir nach der These des französischen Theologen Marie-Dominique Chenu OP von einer permanenten Inkarnation ausgehen und es die Aufgabe der Theologie ist, diesen Gott ansichtig zu machen. Inkarnation ist hier nicht als abgeschlossenes Ereignis vor 2000 Jahren zu verstehen, sondern als ständig wiederkehrendes Phänomen zu betrachten. Die Aufgabe für das Heute liegt in einer Such- und Findebewegung. Deshalb ist es wichtig, den religiösen Wandel nicht negativ abzustempeln und daran zu resignieren, sondern ihn produktiv zu machen. In ihm liegen geborene Gesprächspartner:innen für das Christentum.
Wie kann sich kirchlich/pastoral dazu verhalten werden?
Im Dialog mit Konfessionslosen und religiös indifferenten Existenzweisen – das kann nicht oft genug betont werden – kann es niemals um Missionierung gehen. Vielmehr geht es um Dialog und Begegnung und darum, unbekannte Facetten zu beleuchten. Eberhard Tiefensee, emeritierter Professor für Philosophie, plädiert für eine Gesprächskultur mit den Konfessionslosen und den religiös Indifferenten.6 Dies bezeichnet Tiefensee als Ökumene der dritten Art.7 Hier soll sich aus den Erfahrungen der innerchristlichen Ökumene (Ökumene der ersten Art) und aus dem interreligiösen Dialog (Ökumene der zweiten Art) bedient werden.8
Es geht also darum, auf Augenhöhe das Leben miteinander zu teilen und in Begegnung zu kommen, ohne die Gesprächspartner:innen vom Eigenen zu überzeugen. Dies soll aus einer Unverzwecktheit und Strategielosigkeit heraus geschehen. Wie kann das konkret aussehen?
Eine Herausforderung könnte dabei sein, dass Konfessionslose sich eben keiner Struktur angeschlossen haben. Deshalb stellen sich die Fragen, wie ein Art Dialogforum aussehen könnte und auch, welchen Mehrwert diese von einer Ökumene der dritten Art hätten?
Dieser Thematik stellt sich theoretisch und praktisch der Campus für Theologie und Spiritualität in Berlin. Mit der sogenannten Hermeneutik der Begegnung betreibt der Campus Theologie.9 Durch Begegnungen mit Akteur:innen aus dem politischen, kulturellen oder sozialen Umfeld und somit mit Erfahrungen anderer, auch nichtreligiöser Menschen, wird versucht, verschüttete Aspekte des Evangeliums für die Glaubenspraxis neu zu lernen.
Hashtag der Woche: #gottinberlin
Beitragsbild: Foto von Claudio Schwarz auf Unsplash
1 Theobald, Christoph: Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa, Freiburg i. Br. 2018, 82.
2 Ebd. 88.
3 Vgl. ebd. 82.
4 Ebd. 82.
5 Ebd. 82.
6 Vgl. Tiefensee, Eberhard: Ökumene mit Atheisten und religiös Indifferenten, in: εύangel. Magazin für missionarische Pastoral 2/2015 = https://www.euangel.de/ausgabe-2-2015/oekumene-undmission/oekumene-mit-atheisten-und- religioes-indifferenten/ [= aktualisierte Fassung des Artikels „Anerkennung der Alterität. Ökumene mit den Religionslosen“ in: Herder Korrespondenz. Spezial (2010) Nr. 1, 39–43.].
7 Vgl. ebd.
8 Vgl. ebd.
9 Vgl. Engel, Ulrich (u.a.): Ein kulturelles Laboratorium, in: Herder Korrespondenz, 2/2022, 44.