Was zum Teufel ist virtuelle Realität? Das fragt sich David Novakovits und hat das Buch „Virtuelle Realität und Transzendenz – Theologische und pädagogische Erkundungen“ gelesen. Wie passen Virtual Reality, Theologie und Religionsunterricht zusammen? David nimmt uns heute auf Erkundungstour mit.

Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: »Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?« Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: »Was zum Teufel ist Wasser?«

Wenn wir annehmen, dass dieses Wasser die kulturelle Atmosphäre ist, in welcher wir uns bewegen, dann bewegen wir uns gegenwärtig wohl mehr und mehr in den Gewässern der ‚Kultur der Digitalität‘. Viera Pirker und Klara Pišonić haben im Ausgang der Tagung „Transzendierungen – Überschreitungen“ (September 2021, Frankfurt a.M.) ein Buch herausgegeben, dass für jene Fische geschrieben ist, die in genau diesem Wasser schwimmen, theologisch interessiert sind und sich die Frage stellen: ‚Was zum Teufel ist Virtuelle Realität? Und was sollen wir damit anfangen?‘

Etwas formaler ausgedrückt: Welche Bedeutung haben Virtuelle Realitäten (VR) für die theologische Forschung, und welche religionspädagogischen Potentiale und didaktischen Möglichkeiten für die Hochschullehre und den Religionsunterricht lassen sich in der Auseinandersetzung mit VR entdecken?

Mit dieser Ausgangsfrage beginnt das Buch, dass die Leser*innen auf einen strukturierten Streifzug in diese Frage mit hineinnimmt. In einem Durchgang durch die versammelten 14 Beiträge kann man sich mit theologischen, religionsphilosophischen, medien- und religionsdidaktischen Perspektiven von Autor*innen unterschiedlicher Disziplinen zu Fragen rund um VR vertraut machen und sich damit auseinandersetzen.

Eine religiöse Perspektive auf VR

Eine implizite Grundfrage des ersten Teiles des Buches (‚Realität erweitern‘) lautet: Welches ‚Heilsversprechen‘ begleitet den Diskurs der Virtuellen Realität eigentlich? Gibt es mit VR endlich Räume unendlicher Möglichkeiten, in welchem man sich in größerer Freiheit so ausprobieren kann, wie man möchte, in welchem man die Welt neu vermessen, auf Zeitreisen gehen kann, in der man befreit wird von ‚endlichem Dasein‘ und nichts mehr unmöglich ist? Das wäre die unausgesprochene religiöse Dimension von VR – die im Buch (immer wieder auch deutlich kritisch) diskutiert wird: Wenn heute die (analoge) Wirklichkeit als ‚reality 1.0‘ wahrgenommen wird und sich dabei selbst schon unter einem „Digital-Paradigma“ interpretiert (Wenzel, 18.), dann erscheint Virtualität fast schon zwangsläufig als Frage nach der „Erweiterung, Ergänzung, am Ende Ersetzung von Wirklichkeit“ (Ebd., 18.). Man könnte sagen: Wozu noch ‚altmodische‘ Realität, wenn es eigentlich besser geht? Knut Wenzel deckt in seinem Beitrag die ur-gnostische Versuchung auf, die virtuelle Realitäten aus religiöser Perspektive begleitet: „Ist nicht der technophile Traum von einem reinen virtuellen Selbst, losgelöst von seinem natürlichen Körper, in der Lage, von einem Kontingent und einer temporären Verkörperlichung zur anderen zu floaten, die letzte wissenschaftlich-technologische Verwirklichung des gnostischen Ideals der von Verfall und Trägheit materieller Realität befreiten Seele?“ (Ebd., 26.).

VR als Verfügbarmachung von Welt

Das Buch von Pirker und Pišonić erinnert in seinen Beiträgen daran, dass Technik eben nicht unschuldig und neutral ist – wie jedoch funktioniert VR? Die (nur scheinbar banale) Antwort: Sie reproduziert, was eben reproduzierbar ist; und reproduzierbar ist eben das, worüber ich verfügen, was ich vollkommen begreifen und beherrschen kann, was im folgenden Satz kulminiert „Der Erzeugung von VR und virtuellen Menschenreproduktionen geht die Verfügbarmachung der Welt und des Menschen voraus. Die digitale Verfügbarmachung ist im Wesentlichen eine Vermessung, im wörtlichen Sinne eine Digitalisierung analoger Werte (…)“ (Brand, 110-111.).

VR geht für Brand damit mit dem Anliegen einher, immer mehr ‚Welt‘ verfügbar zu machen und die eigene Reichweite zu erhöhen – sozusagen jederzeit in jede digital rekonstruierte Umgebung der Welt eintauchen zu können! Das muss per se noch gar nicht schlecht sein. Aber aus theologischer Perspektive sind damit verbundene ‚Heilsversprechen‘ eben kritisch zu betrachten, da – noch einmal Knut Wenzel – gerade ‚Unverfügbarkeit‘ eine wesentliche Bestimmung menschlicher Wirklichkeit ist und es damit eher der theologischen Aufgabe entspricht, „das Leben in seiner Unbewältigbarkeit ins Zentrum einer Perspektive des Heils zu rücken“ (Wenzel, 24.).

Das Buch versucht damit, den religiös-ethischen Grundfragen in Bezug auf VR nicht auszuweichen und klar auch die Dialektik von VR zu bestimmen, d.h. sowohl die Gefahren als auch mögliche Potentiale herauszuarbeiten.

VR verschiebt unsere Wahrnehmungen von Körper und Erfahrung

In diese Kerbe schlägt auch Viera Pirker, wenn Sie in Ihrem Beitrag zwei zentrale anthropologische Begriffe reflektiert: Wie verschieben sich Wahrnehmungen und Deutungen von Körper und Erfahrung durch VR? Auch für Pirker ist klar: „Die Erfahrung hat die Eigenart, dass sie von einem Anderen her ins Ich kommt“ (Pirker, 29.) und damit eben nicht einfach ‚herstellbar‘ ist.

Gleichzeitig können virtuelle Umgebungen neue Möglichkeiten für menschliche Erfahrungen eröffnen, wie sie eindrucksvoll an zwei Beispielen deutlich macht: In Notes on Blindness treffen wir auf eine VR, in welcher „die Positionalität eines blinden Menschen nachvollziehbar gemacht [wird]“ (Pirker, 40.) und in Goliath -Playing with Reality eröffnet die Stimme von Tilda Swinton eine Reise „in einen tiefen Blick in die autobiographische Story eines jungen Mannes, der eine Schizophrenie entwickelt“. (Ebd., 41.) Auch wenn die religionspädagogischen Möglichkeiten zumindest des letzten Beispiels kritisch gesehen wird, stellt Pirker die Frage: Warum nicht den Versuch wagen, mit diesem narrativen Ansatz auch biblische Figuren wie Rut oder Jona „in die Medialität einer solchen Umgebung zu übersetzen“ (Ebd., 43.)? Viera Pirker zeigt, das digitales storytelling auch für die Religionspädagogik großartige Möglichkeiten bereithalten kann – auch, wenn die digitalen Transformationsprozesse hier sehr wachsam begleitet werden sollten.

Perspektivenerweiterung: ‘Das’ Potential von VR schlechthin?

Überhaupt scheint hier eine Brücke zwischen VR und dem religionspädagogischen Diskurs gefunden zu sein, an deren Entwurf mehrere Autor*innen des Buches mitarbeiten: In Bildungsprozessen geht es fundamental um Möglichkeiten der Erweiterung der eigenen Perspektive – und stellen VR nicht spannende Möglichkeiten einer solchen Art der „Horizonterweiterung“ (Langner-Pietschmann, 48.) dar? Das Buch bietet einen sehr diversen Einblick in die Art und Weise, wie solche Horizonterweiterungen aussehen könnten (oder gibt teilweise auch schon Einblicke in praktische Erprobungen) und wie mit ‚mixed realities‘ andere Perspektiven wahrgenommen werden können (vgl. auch den Beitrag von Jens Palkowitsch-Kühl): Es werden Einsatzmöglichkeiten von Virtual Reality in der Christlichen Archäologie (im Kontext universitärer Lehre) aufgezeigt, bei Erkundungen religiöser Orte im Kontext von RU als auch kirchengeschichtsdidaktische Zugänge. Gerade der immersive Zugang, d.h. das „Abtauchen in ein raumunabhängiges Abbild von realen Orten“ kann das „Besuchen und Erleben historischer beziehungsweise historisch bedeutsamer Orte“ im RU ermöglichen (so Klara Pišonić in ihrem Beitrag, 165.).

Im Hinblick auf immersive Visualisierungen durch Virtual Reality wird im Beitrag von Andreas Dengel und Verena Wetzel auch einer Potentialanalyse für den Religionsunterricht durchgeführt und der Lehrplan nach Themen durchforstet, wo sich der Einsatz von VR lohnen könnte; weiters werden Gestaltungsprinzipien für immersive Lernszenarien mit und über Virtual Reality diskutiert (Miriam Mulders, Josef Buchner, Michael Kerres) und auch mögliche Blicke ‚durch die VR-Brille‘ in die Bibel vorgestellt und (eher zurückhaltend) besprochen (Martin Nitsche).

Gefahren von VR aus religionspädagogischer Perspektive

Dabei sind die Beiträge keineswegs nur ‚euphorisch‘ gegenüber der VR als Lern-Möglichkeit für den RU: So wird etwa bei der Sichtung bibeldidaktischer Aufarbeitungen wahrgenommen, dass hier VR-Lernräume oftmals „aus dem evangelikalem Bereich“ bespielt werden und „mit explizit missionarischem Charakter“ konzipiert sind (Nitsche, 227.) Auch die App Replika, die virtuelle Reproduktionen von Menschen ermöglichen und damit den Menschen digitale Gefährt*innen zur Seite stellen möchte (gegen ihre Vereinsamung), liest sich mehr als Horror-Utopie denn als heilsames Glücksversprechen. (Interessant ist übrigens, dass auch am Beginn der Entstehungsgeschichte dieser App eine Erfahrung der Programmiererin Eugenia Kuyda steht, die man theologisch als Verdrängung des Todes und damit als Verfügbarmachung eines Menschen interpretieren könnte…)

Leider bleiben einige dieser Beiträge des dritten Teiles des Buches (‚Virtualität konkretisieren‘) jedoch in ihrer Qualität hinter den theoretischen Beiträgen der ersten beiden Teile zurück. Manche Argumentationen sind in Bezug auf den Einsatz von VR in ihrer Naivität auch gefährlich, wenn so getan wird, als wäre es schon kritisch zu sagen, „dass auf eine verbildlichte Darstellung eines Gottes durch immersive Medien verzichtet werden sollte“ (180.); irgendwie auch ironisch, dass gerade das platonische Höhlengleichnis als dafür ‚prädestiniert‘ angesehen wird, in VR  „versinnbildlicht visualisiert“ (183.) zu werden – „so können visuelle Darstellungen der Höhle für die Schüler*innen erfahrbar gemacht werden, sodass das Verständnis erleichtert und die Orientierungsphase unterstützt werden kann.“ (183.)

Ein zweiter Kritikpunkt: Gerade auch aus dem Kontext einer alteritätstheoretischen Didaktik oder postkolonialer Diskurse fragt man sich, ob das große Potential der VR – die  ‚Perspektivenübernahme‘ –in manchen Beiträgen nicht doch viel zu schnell über die Lippen kommt. Bei manchenm Vorschlägen möchte man sofort rückfragen: Ist es wirklich so einfach, die Erfahrung der Anderen und des Anderen machen zu können? Das emanzipatorische Potential virtueller Welten wird in den ersten beiden Teilen des Buches eindeutig differenzierter herausgearbeitet (vgl. auch den sehr lesenswerten Beitrag von Christian Preidel!).

Fiktionale Welten – ein ‚alter Hut‘ aus christlicher Perspektive?

By the way: Dass Fiktionen, wie sie so maßgeblicher Gegenstand von VR sind – nicht erst durch moderne Literatur, Film oder eben VR zum Teil unserer Alltagswelt werden, wissen Christ*innen schon länger. Glaube gibt es nicht ohne Einbildungskraft – die Bedeutung dieser These arbeitet Joachim Valentin in seinem Beitrag heraus. Hätten wir nicht die Fähigkeit als Menschen, uns Mögliches vorzustellen, wären wir platte Positivist*innen. Aus christlicher Perspektive kann VR daher nicht etwas gänzlich Fremdes darstellen und lädt bei aller Ambivalenz daher zu einer kreativen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen ein – wobei (Valentin verweist hier auf Kant!) zu hoffen ist, dass wir bei allem ‚Spektakel‘ unsere Urteilskraft nicht verlieren mögen.

Wer sich bis jetzt noch nicht eingehender mit VR befasst hat – diesem (trojanischen?) Steckenpferd einer Kultur der Digitalität – der findet in diesem Buch eine breit gestreute (theologische, religionsphilosophische und religionsdidaktische) Diskussion zu diesem Phänomen, die allemal anregend ist und zum Mitdenken einlädt.

 

#virtschulreality


(Beitragsbild: @lucreziacarnelos)

Pirker, Viera/Pišonić, Klara, Virtuelle Realität und Transzendenz – Theologische und pädagogische Erkundungen, Freiburg i. Br. 2022.

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dr. david novakovits

arbeitet derzeit als Universitätsassistent (post doc) am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien und als Religionslehrer an einem Wiener Gymnasium. Er promovierte 2021 mit einer Arbeit über das Scheitern.

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