Critical Whiteness – ein Thema für die Theologie? Marita Wagner und Franz Gmainer-Pranzl setzen das Thema in Salzburg auf die universitäre Agenda. Fran von y-nachten.de hat mit ihnen darüber gesprochen, was Critical Whiteness ist, warum dieses Konzept wichtig ist und was für Konsequenzen das für Theologie und Kirche hat.

y-nachten: Ihr beschäftigt euch beide mit dem Thema Antirassismus, forscht und lehrt dazu. Nun hast du für dein Seminar Critical Whiteness als Thema gewählt Franz, du Marita nutzt Critical Whiteness als Analysemethode in deiner Promotion. Zu Anfang daher die naheliegendste Frage: Was meint Critical Whiteness eigentlich?

Marita Wagner: Das Konzept kommt aus den Critical Whiteness Studies, im Deutschen auch „Kritische Weißseinsforschung“. Diese haben ihren Entstehungshintergrund in den 1980-er Jahren in den USA. Angestoßen wurde diese Analyse insbesondere von Wissenschaftlerinnen, die sich mit der kritischen Männlichkeitsforschung beschäftigten. Damaliges Anliegen war es, Weißsein als die unhinterfragte und damit unsichtbare sozialgesellschaftliche Norm offenzulegen. Anstatt also allein auf Menschen of Color als die (vermeintlich passiven) Opfer von Sklaverei, Kolonialismus und Rassismus zu blicken, wurde hier eine gegenläufige Blickrichtung eingenommen. Es wurde betont, dass es gerade ein Privileg weiß sozialisierter Menschen sei, sich nicht mit ihrem Weißsein auseinandersetzen zu müssen und sie gleichzeitig von einer rassifizierten Gesellschaftsstruktur zwar unverschuldeter- aber auch unverdienterweise begünstigt werden. In den frühen Ansätzen der Critical Whiteness Studies machten Wissenschaftlerinnen wie Ruth Frankenberg Weißsein als eine soziale Kategorie in Parallelität zu „Schwarzsein“ sichtbar. Damit wiesen sie darauf hin, dass weiß sozialisierte Menschen ebenso raced, also rassifiziert sind, wie Schwarze Menschen. Seitdem haben sich die Analyseebenen der Critical Whiteness weiter ausdifferenziert und auch in Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine zunehmende Rezeption dieser selbstkritischen Reflektion stattgefunden. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass der US-amerikanische und deutschsprachige Kontext nicht in allen Punkten deckungsgleich sind.

Franz Gmainer-Pranzl: Ich würde hier unterscheiden zwischen „Critical Whiteness Studies“ als der expliziten intellektuellen Auseinandersetzung mit den (mitunter sehr sublimen, aber umso wirksameren) Dynamiken von Ein- und Ausgrenzung und „Critical Whiteness“ als einer (selbst-)kritischen Haltung, die sich der „weißen“ Privilegien bewusst ist. Grundlegend geht es um die Frage, warum eine – global gesehen kleinere – Gruppe von Menschen scheinbar „selbstverständlich“ das „Recht“ und die Macht hat, sich selbst als „Norm“ bzw. „Normalität“ des menschlichen Lebens zu sehen und andere – nämlich die Mehrheit der Menschen weltweit – als Menschen mit „Besonderheiten“ („of colour“) zu bezeichnen. Diese Perspektiven sind mit massiven ökonomischen und sozialen Privilegien/Diskriminierungen verbunden, weshalb „Critical Whiteness Studies“ nicht ästhetische Fragen betreffen, sondern die Fragen, (1) warum der Mehrheit von Menschen ein „gutes Leben“ vorenthalten wird, (2) warum Ausgrenzung, die mit „Rasse“ oder „Kultur“ „argumentiert“ wird, immer noch Plausibilität beanspruchen kann, und (3) warum es auch im 21. Jahrhundert noch so mühsam ist, gesellschaftliche Pluralität und Diversität wahrzunehmen bzw. Humanität als Grundlage politischen Handelns anzuerkennen.

y-nachten: Könnt ihr für uns einmal erklären, wie das mit Theologie zu tun hat?

Franz Gmainer-Pranzl: Ich kann hier nur für die christliche (näherhin: katholische) Theologie sprechen, weil Theologie die Verantwortung der Glaubenspraxis einer konkreten Religionsgemeinschaft darstellt – in meinem Fall: der katholischen Kirche. Wenn die christliche Glaubensverantwortung davon ausgeht, dass mit Jesus, dem Christus, ein radikal neues Leben eröffnet wurde, in dem die üblichen sozialen Hierarchien, Machtverhältnisse und Autoritäten keine Rolle mehr spielen, erscheint Rassismus in all seinen Ausprägungen als direkter Widerspruch zum christlichen Glauben. Theologie – als (selbst-)kritische, intellektuelle, interdisziplinäre, zeitsensible und auch interkulturell orientierte – Verantwortung dieses Glaubens rezipiert jene Diskurse und Methodologien, die ihr helfen, den Anspruch des „neuen Lebens“ besser zu verstehen, mit aktuellen Herausforderungen ins Gespräch zu bringen und gegenüber Ideologien (wie z.B. Rassismus, Sexismus, Nationalismus, Kapitalismus usw.) zu rechtfertigen.

Marita Wagner: Die Katholische Kirche versteht sich als eine weltweite Glaubensgemeinschaft, die in einer gemeinsamen Geschichte steht. Die Art und Weise wie dieses Metanarrativ erinnert und aufgearbeitet wird, unterscheidet je nach der bio- und geografischen Verortung der Gläubigen. Wollen wir als Kirche ein Raum sein, an dem allen Menschen ihre personale Würde zukommt, so können wir nicht unberücksichtigt lassen, dass auch Kirche und Theologie das Denken von Weißsein und Schwarzsein im Rahmen einer missionarischen Sendung mit geprägt haben. Theologische Vorstellungen wie beispielsweise die, dass erlöste Seelen strahlend weiß seien (so etwa Hildegard von Bingen) führte zu einer Belegung der Kategorien Weißsein und Schwarzsein mit moralisch-wesenhaften Charaktereigenschaften, die in binäre Stellung zueinander gebracht wurden. „Weiß“ wurde dabei mit positiven Eigenschaften wie „gut, strahlend/hell, intellektuell, rein, erleuchtet, wissend“ belegt, wohingegen „schwarz“ mit „böse, schlecht, dunkel, vernunftlos, unwissend“ assoziiert wurde. Die Critical Whiteness Studies bieten hier einen Referenzrahmen, mithilfe dessen sich rassifizierende und damit hierarchisierende Strukturen und Denkweisen in Theologie und Kirche hinterfragen lassen. Diese zu thematisieren ist wichtig, wenn Kirche und Theologie in der postkolonialen und postmigrantischen Gegenwart weiterhin von existentieller Relevanz für die Gläubigen sein wollen. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Konsequenzen dieser historischen Gewordenheiten dazu führen, dass Begegnungen und Zusammenleben verschiedener Menschen und Gesellschaften erschwerend beeinträchtigt werden.

y-nachten: Was bedeutet es, wenn Critical Whiteness Theorien auf Theologie angewandt werden? Welche Konsequenzen können sich für Kirche mit Blick auf globale Strukturen ergeben?

Franz Gmainer-Pranzl: Für die (christliche) Theologie bedeutet dies eine stärkere interdisziplinäre Ausrichtung. Die Rezeption von Critical Whiteness Theorien kann auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit manchen Selbstverständlichkeiten der theologischen Forschung mit sich bringen; aus interkulturell-theologischer Perspektive bedeutet diese Rezeption auf jeden Fall, den Beitrag von Theologinnen und Theologen aus dem Globalen Süden nicht nur als „kontextuelle Theologie“ (in einem paternalistischen Sinn) wahrzunehmen, sondern als Möglichkeit, den Glauben zu verantworten, die genauso Stärken und Schwächen aufweist wie die Theologie aus Europa. Die globalen Strukturen innerhalb und außerhalb der Kirche sind aus der Perspektive von Critical Whiteness Theorien sicher einer kritischen Rückfrage ausgesetzt: ob sich die „Weiße Macht“ in diesen Strukturen fortsetzt, oder ob diese Strukturen tatsächlich die Vielfalt unserer gemeinsamen Welt widerspiegeln. Gerade deshalb ist der Einsatz für die Arbeit der Vereinten Nationen bzw. für die Weltkirche im Sinn einer responsiven Katholizität (als „Ökumene“ im ursprünglichen Sinn des Wortes: allen Bewohner*innen dieses Planeten verpflichtet) zu unterstützen.

Marita Wager: Deutschland bzw. Europa galt lange Zeit als das Zentrum der Weltkirche, heute sind sie zur Peripherie geworden. Trotz alledem gelten viele Länder des Globalen Südens als „Missionsgebiete“, obwohl die Missionsbewegungen lange abgeschlossen und die Mehrheit der Gesellschaft christlich sozialisiert ist. Folglich finden sich anhaltende weiße Dominanzen in der Theologie und Kirche, denen gemäß „die anderen“ die Armen und Marginalisierten sind, denen Hilfe in Form christlicher Nächstenliebe zuteilwerden muss. Garanten der validen und fundierten theologischen Lehre bleiben daher die westlichen Theologien mit ihrer Deutungshoheit. Diesen normativen und universalen Anspruch versuchen Lesarten wie die Critical Whiteness Studies sowie postkolonialen Theorien aufzubrechen. Die südafrikanische Theologin Nontando Hadebe äußerte mir gegenüber vergangenes Jahr, wie weiß dominiert das Christentum ihrer Auffassung nach sei: Jesus, Maria, die Engel und auch die Heiligen würden fast immer weiß konstruiert werden. Persönlich habe ich in meinem Theologiestudium (Magister) keine afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Theologien und Philosophien umfassend kennengelernt. Als ich mich für mein Auslandsstudium in Südafrika entschied fragte mich einer der Lehrenden in Frankfurt, was ich in „Afrika“ Neues lernen wolle. Hieran zeigt sich abermals die epistemologische Deutungshoheit, die im „Westen“ erhoben wird. Dies hat mich verwundert, da viele Philosophien und Epistemologien, die wir heute als „christlich“ oder „westlich“ bezeichnen, ihre frühen Ursprünge in Afrika und Asien haben. Diese Einverleibung indigener Wissenstraditionen bei deren gleichzeitiger Auslöschung in den jeweiligen lokalen Kontexten bezeichnet man daher auch als „Epistemizid“. Insbesondere die postkoloniale Wissenschaft hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Praktiken sichtbar zu machen.

y-nachten: Und in welcher Beziehung steht Critical Whiteness zu den derzeitigen postkolonialen und antirassistischen Diskursen?

 Marita Wagner: Es geht darum, nicht nur auf diejenigen zu schauen, die von rassistischer und (neo-)kolonialer Gewalt buchstäblich am eigenen Leib betroffen waren und sind, sondern auch auf diejenigen, die von diesem hegemonial-hierarchischen System profitieren. Wir alle sind hineingeworfen in dieses globale Dominanzsystem, aber wir können entscheiden, wie wir uns zu diesem verhalten. Unser Los in der Geburtenlotterie haben wir zufällig erhalten, wir haben uns diese gesellschaftlichen Bevorzugungen nicht verdient und können für diese nicht schuldig gesprochen werden. Aber wie nutzen wir diese, um eine breite gesellschaftliche Partizipation zu fördern? 

Franz Gmainer-Pranzl: Bei der Lektüre von Texten aus dem Forschungsbereich Critical Whiteness Studies ist uns aufgefallen, dass diese Auseinandersetzung intensiv verbunden und verflochten ist mit zahlreichen anderen kritischen Ansätzen der Gesellschafts- und Kulturanalyse. Vielleicht kommt den Critical Whiteness Studies gegenüber anderen antirassistischen und postkolonialen Diskursen ein eher theoretischer und analytischer Charakter zu, bei dem der unmittelbare politische Aktivismus weniger zur Geltung kommt – aber auch das ist durchaus umstritten. Aus intersektionaler Perspektive gesprochen legen die Critical Whiteness Studies den Akzent auf die Kategorie „race“, ohne die Verbindung zu anderen Analysekategorien zu übersehen. Ich finde, dass es weniger Sinn macht, theoretische Unterscheidungen unterschiedlicher Zugänge vorzunehmen, sondern in der konkreten Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlichen Problematik die interdisziplinäre Vernetzung zu fördern.

y-nachten: Es bleibt also noch Handlungsbedarf – wie wichtig, dass ihr das Thema in den theologischen Diskurs einbringt. Vielen Dank!

 

Hashtag der Woche: #dearwhitetheology


Beitragsbild: Simone Fischer auf Unsplash

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marita wagner

hat (katholische) Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main und an der University of Pretoria in Südafrika studiert. Derzeit promoviert sie zu den dekolonialen Studierendenbewegungen in Südafrika und deren Konsequenzen für die Dekolonialisierung theologischer Bildung.

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