An Weihnachten wollen wir alles wieder gut machen, was das Jahr über schief gelaufen ist. Franca Spies blickt auf Sehnsüchte und Scheiternserfahrungen, die mit dem Weihnachtsfest verbunden sind.

In meiner Familie wird bis heute zu allen möglichen und unmöglichen Anlässen die Anekdote erzählt, in der eine damals fünfjährige Franca eines Heiligabendmorgens an einem hartnäckigen Husten erkrankte. Verzweifelt rief meine Mutter unseren Kinderarzt an. Der verordnete weder Tee oder Honig noch andere Drogen, sondern Geduld: „Warten Sie die Bescherung ab.“ Er sollte Recht behalten. Mit dem Anblick des Christbaums und der Geschenke war der Husten geheilt.

Was Weihnachten angeht, war und bin ich ein sehr durchschnittliches Kind aus dem christlichen Milieu in Deutschland. Der Glanz des liebevoll geschmückten Christbaumes, dieses kleinen Museums von über Jahren angehäuften weihnachtlichen Familienheiligtümern, die in immer neuen Konstellationen Beständigkeit und Wandel der Feiertage anzeigen, ruft in mir bis heute Gefühle hervor, die „Luthers Winterfreuden im Kreise seiner Familie“ in nichts nachstehen.

Weihnachten unter dem Hoppenstedt-Imperativ

Die ewige Wiederkehr des Gleichen könnte an Weihnachten zu einem kollektiven Déjà-vu führen, läge ihr nicht die Logik absichtlicher Wiederholung zugrunde: Durch die Musikauswahl beim Baumschmücken (sei es Bach oder Bublé), durch den Speiseplan für den Heiligen Abend oder durch die einhellige Feststellung, dass es der Predigt und Liedauswahl zum Trotz „schon gut“ gewesen sei, die Christmette besucht zu haben, knüpft man gekonnt an die guten alten Zeiten an. Weihnachten weckt nach einem Jahr, in dem die überzogenen eigenen Ansprüche wohl wieder nicht erreicht wurden und das man in einem hektischen Advent dennoch vor sich zu rechtfertigen versucht, das Bedürfnis nach Sicherheit und Ruhe. Das Fest bleibt oft auch in den liberalsten Familien eine Hochburg des ästhetischen Konservatismus.

„Jetzt wird erst der Baum fertig geschmückt, dann sagt Dickie ein Gedicht auf, dann holen wir die Geschenke rein, dann sehen wir uns die Weihnachtssendung im ersten Programm an, dann wird ausgepackt und dann machen wir es uns gemütlich!“
„Nein, Walter. Erst holen wir die Geschenke rein, dann sagt Dickie ein Gedicht auf und wir packen die Geschenke aus, dann machen wir erstmal Ordnung, dabei können wir fernsehen und dann wird’s gemütlich.“
(Loriot, Weihnachten bei Hoppenstedts)

Gut 130 Jahre nach der oben gezeigten idealisierten Radierung der reformatorischen Familie lässt Loriot die nicht minder bürgerlichen Hoppenstedts nach einem vergleichbar perfekten Familienidyll unter dem Christbaum suchen. Der heilige Imperativ der Feiertage lautet: Sei gemütlich! Eine gut verdauliche Portion Anachronismus schien für die Familie Hoppenstedt und scheint für viele von uns heute eine tragende Säule der Festtagsstimmung zu sein. Die Wiederholung weihnachtlicher Traditionen gleicht — wie das Bild der von Bora-Luthers von 1847 — oft genug der Jagd nach einem Idealzustand, in dem alles endlich wieder wird, wie es nie war.

Erfüllungssehnsucht

Doch verbirgt sich nicht hinter einem misslingenden Weihnachtskonservatismus (wie auch hinter anderen Konservatismen), hinter dem Versuch, die imaginierte Vergangenheit wiederzubeleben, die Sehnsucht nach einer vollkommenen Gegenwart, nach einer Fülle des Lebens, die keine Fragen mehr offen lässt? Gehetzt und unvollkommen sind wir das ganze Jahr über — unter dem Christbaum, bei Kerzenlicht, mit vollem Bauch und den vertrautesten Menschen um uns herum soll es anders sein. Der Advent ist die verdichtete Zeit der Sehnsucht, Weihnachten drängt auf Erfüllung.

Mein jüngeres Ich, das vor lauter Aufregung und Vorfreude am Heiligabend nur noch zu husten wusste und schlagartig Heilung erfuhr, hatte durchaus etwas von Weihnachten verstanden. In der Unmittelbarkeit verzauberter Freude, mit der Kinder Geschenke empfangen können, steckt womöglich genau jene weihnachtliche Haltung, der Erwachsene durch die Wiederholung der immer gleichen Bräuche nachzustreben versuchen.

Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, überlegte wie ein Kind. Als ich aber erwachsen war, hatte ich das Wesen des Kindes abgelegt.
(1 Kor 13,11)

Kinder wissen nichts von ökonomischen Tauschtheorien, Konsumkritik oder Derridas „Unmöglichkeit der Gabe“. Sie machen sich keine Gedanken darüber, ob Geschenke ihrer puren Freude dienen oder eine Gegenleistung einfordern — erst recht nicht, wenn eine dritte Partei für das Geschenk verantwortlich gemacht wird wie in meinem Fall damals das Christkind. Die Forderung unmittelbarer, authentischer Dankbarkeit und Freude im jährlichen Rhythmus von adventlicher Verheißung und weihnachtlicher Erfüllung wird jedoch schnell zur Überforderung, wenn man nicht mehr kindliche*r Empfänger*in liebevoll orchestrierter Weihnachtstage ist, sondern selbst für das Gelingen des Festes und die richtige innere Haltung Verantwortung trägt. Allzu oft bleibt von den Feiertagen nur ein bisschen zu viel Alkoholkonsum und ein bisschen zu wenig Lametta.

Weihnachten: Gegenwart und Fragilität der Fülle

Die Theologie der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus erhält gerade zu Weihnachten einen mythisch-glitzernden Anstrich. Im neugeborenen Kind, das irgendwo in der Pampa der Levante das Licht der Welt erblickt, soll sich der epochale Wandel der Welt ereignen: Das Kind selbst soll das Licht der Welt sein, der Einbruch des Ewigen in die Zeit, der Beginn des eschatologischen Sieges Gottes über die Mächte der Finsternis, die Versöhnung des Endlichen mit dem Unendlichen.

Doch die Fülle des Lebens, von der der Neugeborene zeugt, ist bei aller hymnischen Untermalung im Lukasevangelium fragil. Trotz des königlichen Rahmens der Davidsstadt Bethlehem bringt Maria ihren Sohn unter prekärsten Bedingungen zur Welt.

Das Lukas-Evangelium macht diese armselige Krippe zum Ort der Gottesgeburt. Nicht erst das Kreuz Jesu, sondern schon sein Geburtsort ist eine Ungeheuerlichkeit, ein Skandalon, eine Provokation […]. Die Krippe verweist darauf, dass Jesus in Verwundbarkeit hineingeboren wird.
(Keul, Weihnachten, 64f.)

Lukas verbindet in seiner Erzählung die kosmische Bedeutung des Weihnachtsereignisses mit seinem tatsächlichen, armseligen Ort. Er durchbricht jede allzu romantisierte Vorstellung eines pausbäckigen Wonneproppens, aus dessen göttlichem Mund (o wie!) die Liebe lacht und der mit seinem ersten Schrei das Heil der Welt bewirkt. Gott erscheint an Weihnachten nicht in Glanz und Gloria auf der Erde, um augenblicklich alles zum Guten zu vollenden. Er setzt sich den Menschen aus: ihrer Fürsorge und Zärtlichkeit, ihrer Missgunst und schließlich ihrer Gewalt. Die weihnachtliche Freude weiß um ihre Zerbrechlichkeit, wenn sie glaubt, dass Gott die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens selbst auf sich genommen hat.

Die Heilige Nacht weckt den Wunsch danach, dass endlich alles ist, wie es sein soll. Sie tut dies in der Theologie — mit der Geburt des Herrn beginnt der Schuldogmatik gemäß die Wiederaufrichtung der gefallenen Schöpfung — und sie tut dies im Privatleben. Das Fest lebt jedoch alleine in seiner lukanischen Gestalt nicht nur von der Hoffnung auf die Fülle des Lebens und ihrer anbrechenden Gegenwart im Kind in der Krippe, sondern auch vom Wissen um die Fragilität dieser Fülle. Weihnachten ist eine Erfüllung, die sich ihrer durch die Menschen erwünschten Gestalt verweigert und gerade dadurch besonders menschlich ist. Das Wissen, dass ein Weihnachtsfest, das die eigenen Erwartungen nicht erfüllt, durchaus im Rahmen der Bibel liegt, mag ein wenig zur ersehnten festlichen Ruhe beitragen.

Hashtag der Woche: #christmess


(Beitragsbild: @kellysikkema)

Literatur: Hildegund Keul, Weihnachten. Das Wagnis der Verwundbarkeit, Ostfildern 2017 (3. Aufl.).

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franca spies

studierte katholische Theologie in Freiburg und Jerusalem. Nach ihrer Promotion in Freiburg arbeitet sie nun in der Fundamentaltheologie an der Universität Luzern. 2016 hat sie y-nachten mitgegründet und gehört bis heute der Redaktion an.

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