Heißgeliebt und stark kritisiert, zwischen Familienfreude und Einsamkeit, Sehnsucht und Melancholie – kaum eine Zeit im Jahr ist so spannungsreich aufgeladen wie der Advent. Für Annika Schmitz bleibt die Magie dieser vier Wochen erhalten. Bei uns erklärt sie, warum das so ist und Christ*innen mehr auf Weihnachtsmärkte gehen sollten.

Kaum beginnt der September, legen die Kritiker*innen los: Lebkuchen in den Supermarktregalen, wird ja auch jedes Jahr früher! Und überhaupt, diese Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes, der Stress im Advent, keine Spur von Ruhe und Besinnung und außerdem, das hat doch mit dem christlichen Inhalt eigentlich alles nichts mehr zu tun.

Ich mag Weihnachten trotz dieser Kritik unheimlich gerne. Und fast noch mehr liebe ich die Adventszeit und jene Novemberwochen vor dem ersten Advent, in denen die Straßen schon mit Lichterketten geschmückt sind und der Punschgeruch über die Kreuzungen zieht, wenn die ganz in Dunkelheit gehüllte Stadt für mich einen einzigen Verheißungshorizont adventlicher Vorfreude darstellt. Die letzte Oktobersonne ist endgültig gewichen, die Tage werden kürzer und kälter, am Morgen liegt Nebel über den Häusern, der Himmel präsentiert sich in Grautönen, die das gesamte Farbspektrum der loriotschen Eheberatung einschließen, und am späten Nachmittag malt mein Atem kleine Wölkchen in die Luft.
Es sind die Wochen im Jahr, in denen Magie und Staunen meinen Alltag bestimmen, in denen es mich nicht wundern würde, wenn irgendwo Elfen durch die Lüfte schweben, Schneeflocken zu tanzen beginnen und sich letztlich selbst Ebenezer Scrooge dem Zauber des nähernden Weihnachtsfestes beugen muss. Ich sehne mich das ganze Jahr danach.

Wär‘ uns der Himmel immer so nah

Sicherlich, meine Liebe zum Advent ist stark idealisiert und ist es immer schon gewesen. Doch war sie nie nur eine Verzauberung, die den Lichterketten und dem Kerzenschimmer geschuldet war, sondern enthielt immer auch ein Staunen. Ich erinnere mich noch gut an mein vier- oder fünfjähriges Ich, das voller Inbrunst und mit großer Textsicherheit die kirchlichen Adventsschlager im Sonntagsgottesdienst sang. Besonders Macht hoch die Tür hatte es mir angetan, wenn es da hieß „derhalben jauchzt, mit Freuden singt“ – was nur, dachte ich mir damals, muss das für ein Gott sein! Der jauchzt nicht nur dem ganzen Menschen zu – dem erwachsenen, dem großen und glücklichen Menschen, sondern auch „dem halben“ Menschen: jenem, der klein, traurig und schwach ist, und macht ihn so wieder ganz.

Nun ist diese Interpretation eher meiner semantischen Unkenntnis von ‚derhalben‘ zuzusprechen als einer sich bereits in jungen Jahren abzeichnenden theologischen Kompetenz. Das Staunen ist geblieben. Was ist das für ein Gott, der sich nicht auf irgendwelchen Himmelsthronen von einem im weißen Gewand gekleideten und auf der Harfe spielenden Aloisius den ganzen Tag Halleluja zurufen lässt, sondern der tatsächlich in die Geschichte eingeht, Himmel und Erde verbindet und so auch die Welt ein bisschen mehr verzaubert!1 Die Inkarnation ist Ausgangspunkt für eine radikale Geschichtlichkeit Gottes, von der die Theologie gar nicht genug sprechen kann.

Wenn ich an Weihnachten denk‘

Während Weihnachten die Erfüllung ist, ist der Advent vor allem noch die Sehnsucht. Eine so starke Sehnsucht, die hofft, dass hinter den langsam sich entzündenden Kerzen am Adventskranz, hinter den Türchen des Adventskalenders, hinter jedem durch den Raum geisternden Weihnachtsschlager etwas ist, was diese Sehnsucht auffangen kann:

Die sich am Weihnachtsfest artikulierende religiöse Sehnsucht lässt mutmaßen, dass es im Menschen einen massiven Widerstand gibt, sich mit dem abfinden zu sollen, was ist und in der Härte seiner Erfahrung nicht zu beschwichtigen ist.2

Die Sehnsucht als conditio humana drängt danach, die Wirklichkeit überschreiten zu wollen. Sie könnte als Erweis gesehen werden, dass sich unser Leben nicht auf den „immanenten Weltrahmen“3 beschränken lässt. Menschen sehnen sich nach Verzauberung. Deswegen schauen wir Filme, lesen Bücher, hören Musik, hängen Tagträumen nach.

Doch der Verdacht liegt nahe, dass das adventliche Brimborium nicht mehr ist als das oberflächliche Pflaster, das in den dunkelsten Tagen des Jahres auf eine tiefe Wunde geklebt wird. In der Sehnsucht liegt kein Gottesbeweis, sondern nur die Möglichkeit der Öffnung gegenüber dem Transzendenten:

Die Skepsis bleibt, aber die Sehnsucht nach einem solchen Gott lässt sich auch nicht stillen, solange der Mensch groß von sich denkt, um die Würde und Schönheit des menschlichen Daseins weiß.4

Es bleibt die Ungewissheit, in der die Hoffnung auf Gewissheit durchschimmert, dass sich die Botschaft des Christentums auf mehr bezieht als auf das unstete Flackern einer Kerze.

Da wurde dir und mir ein neues Licht gegeben

Inmitten dieser Ungewissheit steht der Advent, der die Schlagworte von schon und noch nicht umfasst und einen nach Glühwein und Plätzchen schmeckenden Vorgeschmack auf Kommendes gibt. Er hängt in der dunklen Winternacht Lichterketten auf.

Deswegen: Hört doch bitte auf, euch über zu früh geöffnete oder falsch bezeichnete Weihnachtsmärkte zu beschweren. Genießt die Lebkuchen. Trinkt Punsch, esst heiße Maronen, singt Driving Home for Christmas auch im November, kauft Geschenke oder lasst es bleiben. Schneidet Papiersterne aus und verschönert damit die Fenster, ladet eure Nachbarn zum gemeinsamen Essen ein, schreibt Briefe und Gedichte, zieht singend durch die Stationen von Krankenhäusern und Altenheimen, stellt Kerzen im Dunkeln auf und bringt sie zu denen, die einsam sind, lest und hört all die Geschichten und Lieder, die euch als Kinder verzaubert haben und lasst zu, dass es wieder geschieht.

Anstatt uns über die säkulare Aneignung des Weihnachtsfestes zu beklagen, sollten wir uns lieber vor Augen halten, dass auch das Christentum auf bereits bestehende Traditionen zurückgreift und sie adaptiert. Schön und gut, das ist nicht weiter dramatisch. Advent und Weihnachten sind kein belohnendes Sondergut am Jahresende für die besonders fleißigen Kirchgänger, sondern „Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll.“ (Lk 2,10) Wenn von dieser Freude in ihrer säkularen Form und der Sehnsucht danach etwas erhalten bleibt, dürfte das wohl der Botschaft des in die Geschichte eingehenden Gottes entsprechen. Zudem dürfte es ebenjener Botschaft entsprechend widersprechen, wenn man ihr die Universalität aberkennt und die böse, heidnische Welt als Gegenpart zu den wenigen bekennenden Seelen ausmacht.

Auf einmal sind Dezemberträume wahr

Ich schlage stattdessen gemeinsames Glühweintrinken auf dem Weihnachtsmarkt vor. An den kleinen Tischen ist wenig Platz, uns einen die kalten Füße im Gedränge, und jeder hat warmen Alkohol in der Hand. Das sind ideale Voraussetzungen für ein gutes Gespräch. Bei einem solchen Gespräch könnte man dann überlegen, was die Möglichkeit bedeuten kann, dass der allmächtige Gott sich radikal auf die Geschichtlichkeit des Menschen eingelassen hat. Und warum es sich lohnen kann, die Hoffnung auf ebendiesen Gott und nicht nur auf die expandierende Selbstfindungsabteilung in den Buchhandlungen zu setzen:

[…] Weihnachten ist das Fest, an dem gefeiert wird, dass Gott durch seine Menschwerdung sich endgültig zum Exegeten seiner selbst macht. Er räumt mit dem bleibenden, von keiner menschlichen Vernunft aus sich selbst heraus beschwichtigenden Zweifel am Wesen seiner Existenz und seiner vorbehaltlosen Entschiedenheit für den Menschen auf, indem er selbst Mensch wird.5

Sollte sich das am Ende als religiöser Schwachsinn herausstellen, bliebe zumindest noch der Glühwein. Und damit auch ein bisschen säkularer Advent.

Advent ist Utopie inmitten der unnachsichtigen Realität, in ihn ist der Abgrund menschlichen Daseins, das Scheitern-Können, miteinbezogen. Advent ist Fiktion, die als solche die Aufgabe hat, Wirklichkeitsentwürfe zu hinterfragen, zu negieren und zu transformieren.6 Advent ist Hoffnung gerade im Angesicht der Widrigkeiten des sozialen, gesellschaftlichen und politischen Alltags.
Erst von diesen Untiefen unserer Existenz ausgehend wird sein Trotzdem sichtbar, das in einer nicht-Akzeptanz der Realität wurzelt und hoffen, träumen und handeln lässt.

Hashtag der Woche: #derhalbenjauchzt


(Beitragsbild @Jamie Davies)

1 Der Begriff der „Verzauberung“ ist hier vor allem angelehnt an Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014.

2 Magnus Striet, Krippengeflüster. Weihnachten zwischen Skepsis und Sehnsucht, Ostfildern 2007, 48f.

3 Vgl. dazu Charles Taylor, der insbesondere in Teil V seines Werkes Ein Säkulares Zeitalter (Frankfurt am Main 2009) die These des ‚immanenten Rahmens‘ aufstellt, in dem Menschen sich in der gegenwärtigen Zeit maßgeblich bewegen. Taylor spielt davon ausgehend sodann die verschiedenen Möglichkeiten von Glaubensoptionen durch.

4 Magnus Striet, Krippengeflüster, 41.

5 Ebd., 41.

6 Hierbei beziehe ich mich auf den Vortrag Die Aura des Fiktiven. Überlegungen zu Größe und Grenze der Literatur für die Religion, den Jörg Lauster im Rahmen eines Symposiums zu Literatur und Religion im Februar 2018 an der Universität Wien gehalten hat. Die Publikation ist für einen 2019 erscheinenden Tagungsband geplant.

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annika schmitz

studierte katholische Theologie in Freiburg, Jerusalem und an der Yale University/USA. An der Universität Wien promoviert sie im Bereich von Literatur und Religion. Seit Oktober 2020 arbeitet sie als Journalistin bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn.

2 Replies to “Ode an den Advent

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