Eine Religionskritik, die Gott zu einem Produkt des Gehirns erklärt, ist medial stark präsent. Sarah Scotti zeigt die Schwächen einer neurowissenschaftlich fundierten Religionskritik und eines reduktiven Naturalismus auf.

‚Gott im Kopf‘, ,Der Allmächtige steckt im Hirn’, ‚Gott – ein Hirngespinst’ – so und ähnlich wird oftmals geradezu euphorisch verkündet, wenn über die sogenannte Neurotheologie berichtet wird. Mit diesem irreführenden aber medienwirksamen Kunstwort wird der Zweig der Neurowissenschaften bezeichnet, der sich mit der Erforschung von Religiosität aus der neurowissenschaftlichen Perspektive beschäftigt. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Untersuchung der neuronalen Aktivitäten, die mit den verschiedenen Formen religiöser Erfahrungen einhergehen. Und die Ergebnisse dieser Forschung scheinen geradezu revolutionär zu sein: Durch den rasanten Fortschritt der Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten, insbesondere durch die Möglichkeit der bildgebenden Verfahren (dem sog. Neuroimaging1) scheint es, als könne man dem menschlichen Gehirn beim Denken – oder wie in diesem Fall, beim religiösen Erleben – nicht nur zusehen, sondern dadurch auch grundlegende Menschheitsfragen, wie die Frage nach der Existenz Gottes, endlich mit naturwissenschaftlicher Gewissheit beantworten.

Gott nur ein Produkt des Gehirns?

Und diese Antwort fällt oft eindeutig aus: Gott sei ein Produkt des Gehirns, das religiöse Erfahrungen als komplexe Illusionen erzeugt. Das Bild der Neurowissenschaften, die den Glauben ‚entschlüsselt‘, die religiöse Erfahrung naturwissenschaftlich ‚entzaubert‘ und Gott als bloßes Hirngespinst ‚entlarvt‘ haben, findet sich nicht nur prominent in religionskritischen Veröffentlichungen, sondern auch in populärwissenschaftlichen Publikationen sowie in der medialen Berichterstattung. Bei einem genaueren Blick auf die empirische neurowissenschaftliche   Erforschung von Religion zeigt sich jedoch, dass diese oftmals wenig aussagekräftig ist und kaum das Potential hat, irgendwen oder irgendetwas zu entlarven, zu entzaubern oder zu entschlüsseln – stattdessen hat sie mit begrifflichen und methodischen Schwierigkeiten zu kämpfen, ist oftmals sehr spekulativ und wirft noch mehr Fragen auf, als sie beantworten kann.

Über die Verbindung von Religionskritik und Neurowissenschaften

Wenn dem aber so ist, worin liegt dann die mit Vehemenz vorgetragene, sich auf die Neurowissenschaften berufende Religionskritik begründet? Die hier vorgestellten Überlegungen gehen davon aus, dass die religionskritische Interpretation der neurobiologischen Forschung zur Religiosität als ein Kristallisationspunkt identifiziert werden kann, an dem die Debatten um grundsätzlichere philosophische Fragen sichtbar werden: Die Frage nach Welt- und Menschenbildern, nach Reichweite und Grenzen eines rein naturwissenschaftlichen Zugangs und nach der Möglichkeit einer rein reduktiv-naturalistischen Erklärung der Wirklichkeit.

Der Begriff ‚Naturalismus‘ ist ein vieldeutiger Begriff mit einer langen Entwicklungsgeschichte. Für das Verständnis von Naturalismus, welches in diesem Kontext relevant ist, sind zwei Grundüberzeugungen entscheidend: Erstens, die Überzeugung, dass es in der Realität nur natürliche Dinge und Phänomene gibt – also keine Götter, Geister oder immaterielle Seelen. Dies sagen uns die Naturwissenschaften, denn die zweite Grundannahme des Naturalismus ist, dass es ausschließlich die Naturwissenschaften sind, die Auskunft darüber geben können, wie die Wirklichkeit beschaffen ist. Der Begriff ‚reduktiv‘ meint, dass alle Eigenschaften eines Systems allein durch die Rückführung auf seine Bestandteile und deren Anordnung erklärt werden können. So können dieser These zufolge z. B. mentale Gehalte vollständig auf neuronale Aktivitäten reduziert werden. Und auch Gott kann so als eine durch neuronale Aktivität hervorgerufene Halluzination naturwissenschaftlich erklärt werden. Jedoch lässt ein solches Reduktionsprogramm nicht nur Gott über die Klinge springen, sondern auch unser Selbstverständnis, ein freies Subjekt zu sein, das Urheber seiner eigenen Handlungen ist und fähig, sich an normativen Vorgaben zu orientieren. Denn in Wirklichkeit sei der Mensch nur eine Ansammlung von kausal und determiniert ablaufenden physiologischen und neuronalen Prozessen. In der Frage nach der Reichweite einer reduktiv-naturalistischen Welterklärung steht also einiges auf dem Spiel. Deswegen lohnt es sich, den reduktiven Naturalismus kritisch auf seine Kohärenz hin zu überprüfen.

Warum der reduktive Naturalismus zu kurz greift

Zunächst ist zu betonen, dass die naturwissenschaftlichen Theorien, Modelle und Erkenntnisse nicht einfach Wirklichkeit abbilden. Stattdessen beschreiben die Naturwissenschaften die empirische Wirklichkeit immer unter bestimmten Bedingungen und unter einer bestimmten Perspektive: aus der objektiven außenstehenden Perspektive der 3. Person. Indem aber der naturwissenschaftliche Zugang zur Wirklichkeit auf die Beobachter*innen-Perspektive festgelegt ist, um Erkenntnisse zu gewinnen, blendet er notwendigerweise alle Aspekte der Wirklichkeit aus, die aus dieser Perspektive nicht erfasst werden können. Diese Beschränkung der naturwissenschaftlichen Perspektive ist innerhalb des spezifischen Kontextes der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis auch sinnvoll und notwendig. Problematisch wird es dann, wenn diese methodische Setzung verabsolutiert und zum einzig gültigen Zugang zur Wirklichkeit erklärt wird. Dies führt dazu, dass die mit der naturwissenschaftlichen Methode nicht erfassbaren Qualitäten2 zum bloßen Epiphänomen erklärt werden bzw. ihre Existenz als naturwissenschaftlich widerlegt betrachtet wird. Eine solche Argumentation muss aber als eine unrechtmäßige Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Methode und des naturwissenschaftlichen Weltzugangs zurückgewiesen werden.

Was ist die Bedingung der Möglichkeit von Forschung?

Neben diesen Überlegungen zur Reichweite von Naturwissenschaften gilt es noch eine zweite Frage zu stellen: Was ist eigentlich die Bedingung der Möglichkeit von naturwissenschaftlicher Forschung und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirklichkeit? Naturwissenschaftliche Forschung geschieht nicht blind und willkürlich, sondern muss als Zusammenhang begriffen werden, für den zielgerichtetes Handeln, Abwägen von Gründen, Formulierung von Zwecken usw. konstitutiv sind. Dies hat zur Konsequenz, dass für die Durchführung naturwissenschaftlicher Forschung Subjekte im lebensweltlichen Sinne vorausgesetzt werden müssen – d.h. Forscher*innen mit dem Vermögen Gründe zu formulieren, diese abzuwägen, sich zu entscheiden, intentional zu handeln sowie Ziele und Zwecke zu setzen und diese verfolgen. Diese grundlegende Bedeutung des handlungsfähigen Subjekts für die Möglichkeit wissenschaftlicher Forschungspraxis, lässt sich jedoch selbst nicht vollständig naturwissenschaftlich erklären. Dies stellt eine Herausforderung für den reduktiven Naturalismus dar, der es nicht schafft, Größen wie Intentionalität, Urteil, Entscheidungen usw. adäquat zu erfassen. Damit ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, das Konzept des wissenschaftlichen Handelns innerhalb eines rein reduktiv-naturalistischen Wirklichkeitsverständnisses schlüssig zu begründen. Sowohl eine reduktiv-naturalistische Deutung des Menschen, als auch eine auf dieser Grundlage formulierte Religionskritik stehen damit auf tönernen Füßen.

Hashtag der Woche: #hirngespinst


(Bildrechte @gdj1086657)

1 Durch diese Verfahren können die Struktur und die Aktivität des lebendigen Gehirns dargestellt werden. Dies geschieht z.B. durch die Abbildung der Durchblutung oder des Sauerstoffverbrauchs bestimmter Hirnareale, durch die auf neuronale Aktivitäten rückgeschlossen werden kann.

2 Z.B. die sog. Qualia, d.h. den bewussten Erlebnisgehalt eines mentalen Zustandes; das wie es sich für mich als Subjekt anfühlt, Sommerregen zu riechen, die Farbe blau zu sehen, Schokoladeneis zu schmecken usw.

Verwendete Literatur

Beckermann, Ansgar: Naturwissenschaften und manifestes Weltbild. Über den Naturalismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 60 (1) 2012. S. 5 – 26.

Kather, Regine: Sinn im Sinnlichen – oder: Wie weit ist das Physische physikalisierbar? In: Knaup, M. / Müller, T. / Spät, P. (Hg.): Post-Physikalismus. Freiburg 2011. S. 60 – 86.

McNamara, Patrick: The Neuroscience of Religious Experience. Cambridge [u.a.] 2009.

Müller, Tobias: Naturwissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis. Eine wissenschaftsphilosophische Analyse zur Unverzichtbarkeit lebensweltlicher Qualitäten. In: Müller, T. / Schmidt, T.: Abschied von der Lebenswelt? Zur Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze. Freiburg / München 2015. S. 31 – 52.

Rahner, Johanna: Gott im Gehirn? Neurotheologie zwischen der ‚Vermessung des Glaubens‘ und der Vermessenheit naturalistischer Erklärungsversuche von Glaube, Religion und Gott. In: Böttigheimer, C. / Bruckmann, F. (Hg.): Glaubensverantwortung im Horizont der „Zeichen der Zeit“. Freiburg 2012. S. 287 – 303.

sarah scotti

studierte von 2013 bis 2018 Katholischen Theologie, Philosophie und Geschichte in Freiburg und Rom. Seit 2018 ist sie Masterstudentin der Hochschule für Philosophie in München.

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