Die Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte ist eine bleibende Aufgabe für die Staaten der ehemaligen Kolonialmächte Europas. Wie diese Vergangenheit als Teil der eigenen Familiengeschichte plötzlich als Person vor der Tür steht, schildert Francesca Melandri in ihrem Roman „Alle, außer mir“. Henrik Heinicke erzählt von seinen Leseeindrücken.

Ein Gespräch am Nebentisch lässt mich während einer Zugfahrt aufhorchen. Zwei Geschäftsmänner aus Süddeutschland debattieren hitzig über ein Thema, das dieser Tage wahrlich kein Schattendasein fristet: die sogenannte „Flüchtlingskrise“. Kaum hat der Zug den Bahnhof verlassen, haben die beiden das Großraumabteil bereits in einen Stammtisch verwandelt. Sie werfen sich rassistische und fremdenfeindliche Äußerungen zu und reden sich in Rage. Das Gespräch gipfelt darin, dass sie von den Ländern Afrikas quasi eine Dankbarkeit gegenüber der Kolonisation verlangen, schließlich habe sie ja Bildung gebracht. Ich schlucke. Noch 53 Minuten bis zu meinem Zielbahnhof. Das wird eine lange Reise.

Gerne würde ich den beiden Geschäftsmännern ein Buch empfehlen, das mich diesen Sommer beschäftigt hat: den zeitgeschichtlichen Roman „Alle, außer mir“1 von Francesca Melandri, der im vorigen Jahr erschienen ist. In dem 608 Seiten starken Werk setzt sich die italienische Autorin mit den Auswirkungen der europäischen Kolonialgeschichte auseinander und bezieht diese auf die Lebenswirklichkeit einer römischen Familie der Gegenwart.

Die Ouvertüre: Im Rom der vielen Kulturen

Wir folgen der 46-jährigen Ilaria auf den Esquelin, einen der sieben klassischen Hügel Roms, über welchem der Geruch von Kebab, Kimchi und Masala dosa weht. Auf dem Treppenabsatz begegnen wir der Nachbarin: „Ciao, Lina“, grüßt die Angesprochene im Vorbeigehen, da wird sie schon energisch aufgehalten: „Da oben wartet ein schwarzer Mann auf dich“. Mit Nachdruck: „Ein Afrikaner. Komplett schwarz.“ Die erste Begegnung mit Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti.

Zunächst hält Ilaria das Auftreten „des Jungen“ für einen schlechten Scherz. Zumal er vorgibt, wie ihr Vater zu heißen: Attilio Profeti. Auch der Rest seiner Geschichte weckt grundlegend Misstrauen in ihr: Der junge Mann, selbst wie Ilaria Lehrer, ist aus Äthiopien geflohen, weil er dort politische Verfolgung fürchtet. Nun beteuert er, der Enkelsohn jenes Attilio Profeti zu sein. Die Lesenden fragen sich mit Ilaria: Steht ihr dort auf dem Treppenabsatz zu ihrer eigenen Wohnung tatsächlich ihr Neffe gegenüber? Ihr Neffe, von dessen Existenz sie bisher keine Kenntnis hatte?

Erst glaubt Ilaria, alles sei ein Zufall und der Pass sei gefälscht. Doch dann beginnt die Geschichte von Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti sie zu überzeugen. Er schildert seine Flucht aus Äthiopien. Ein grausames Unterfangen, das sein Cousin nicht überlebt hat. In ihrer Darstellung greift die Autorin auf verschiedene Stilmittel zurück, eines verdichtet die Tragik der Situation dabei in besonderer Weise: Die Odyssee, welche Shimeta in Italien zurücklegt, listet sie unter zeitlichen Gesichtspunkten auf. Die nüchterne Darstellung wirkt beklemmend:

Übersetzung in Sekunden für ein eritreisches Mädchen – gerade aus dem Krankenhaus zurück, wo sie die Frucht der Vergewaltigung in den lybischen Gefängnissen hat abtreiben lassen – des Ablehnungsbescheids, den auch sie bekommen hat: fünfundvierzig. Minuten, die das Mädchen auf der Erde liegt, nachdem sie am Ende des Bescheids zusammengebrochen ist: elf.2

Spurensuche in der dunklen Vergangenheit

Nun hätte der Roman bei der ersten Lüftung des Geheimnisses, ungefähr auf Seite 16, bereits enden können. Doch Ilaria wäre nicht Ilaria, wenn sie der Sache nicht auf den Grund ginge. Die Recherche gestaltet sich derweil mehr als schwierig, immerhin ist ihr Vater, der 95-jährige Attilio Profeti, im hohen Alter dement geworden.

Ilaria beginnt also zu nachzuforschen. Sie findet heraus, dass ihr Vater in der Mussolini-Ära als Soldat in den Abessinienkrieg involviert war. Zwischen 1935 und 1941 fielen schätzungsweise 500.000 Bürger*innen des ostafrikanischen Kaiserreiches Abessinien dem blutigen Eroberungskrieg zum Opfer, der in der Herrschaft des italienischen Königreiches über die Kolonie Italienisch-Ostafrika mündete.

Mehr und mehr tritt die dunkle Vergangenheit ihres Vaters zu Tage. Als sie einen Aufsatz aus seiner Feder in den Händen hält, in welchem er die faschistische Rassenideologie wissenschaftlich zu manifestieren versucht, lässt er sich nicht mehr in Schutz nehmen. Er ist damals nicht nur „mitgelaufen“, nein, er war überzeugter Anhänger einer Weltanschauung, welche bestimmte Rassen für minderwertig erklärte und die Herrschaft über die Bevölkerung des heutigen Äthiopiens rechtfertigen sollte.

Im Verlauf des Romans werden auch die Ambivalenzen sichtbar. So nehme ich als Leser dem fiktiven Hauptcharakter seine Zuneigung zu Abeba, der Großmutter Shimeta Ietmgeta Attilaprofetis ab. Ein bigottes System, in welches sich damals der junge Attilio flüchtet: Auf der einen Seite setzt er die Herrschaft der faschistischen Kolonialherren gegen die abessinische Bevölkerung um, auf der anderen Seite liebt er eine junge Frau aus eben jenem Volk, den Kolonialisierten. Die Lebenslüge des Attilio Profeti. Nur die Lebenslüge des Attilio Profeti?

Eine bleibende Aufgabe: Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Europas

„Die können froh sein, dass wir ihnen Bildung gebracht haben“. Die beiden Geschäftsmänner, denen ich im Schnellzug zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Hannover begegnet bin, offenbaren einen sehr fragwürdiger Blick auf ein dunkles Kapitel der Geschichte der westlichen Zivilisation, das in großen Teilen alles andere als aufgearbeitet scheint – man denke etwa an die Beteiligung des deutschen Kaiserreiches am Massenmord an den Herero und Nama in Namibia, damals Deutsch-Südwestafrika. Eine andere, hingegen wissenschaftlich fundierte Definition von Kolonialismus bietet der Historiker Jürgen Osterhammel:

Kolonialismus ist eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden.

Auf eindrückliche Art und Weise führt die Journalistin Francesca Melandri den Lesenden ihres Romans vor Augen, dass die Schatten der Kolonialzeit bis in die Gegenwart hineinwirken. Die Lektüre macht deutlich, dass die Entwicklung verschiedener Länder nicht unabhängig voneinander betrachtet werden kann, ganz so, als ob kein Zusammenhang zwischen dem Verhalten zahlreicher Staaten in Europa und den Ursachen der Migrationsbewegungen bestünde. Dieser Versuchung, der zur Stunde nicht wenige Menschen zu erliegen scheinen, widerspricht die Autorin. Vielmehr zeichnet sie eine Verbindung zwischen der politischen Situation, die Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti dazu bewogen hat, sein Land zu verlassen und den Verbrechen der europäischen Kolonialmächte.

Angesichts der blutigen Vergangenheit erscheint es mehr als naiv, anzunehmen, die Staaten der ehemaligen Kolonialmächte seien für die neueren Entwicklungen in den ehemaligen Kolonien nicht mitverantwortlich. Massive Formen der Unterdrückung, Ausbeutung und Erniedrigung zeigen bis zum heutigen Tag ihre Folgen.3 Die schuldhaften Verstrickungen, in welche sich Attilio Profeti begibt, verstehe ich als eine Form der Stellvertretung. Seine Lebensgeschichte steht beispielhaft für das Beziehungsgeflecht zwischen europäischen Staaten und denen des globalen Südens. Wie Ilaria Licht in das Dunkel der eigenen Familiengeschichte bringt, gilt es auch gesellschaftlich das koloniale Erbe aufzuarbeiten und gewachsene Machtstrukturen, die heute beispielsweise in Handelsbeziehungen noch wirken, zu hinterfragen.

Hashtag der Woche: #alleaußermir


(Beitragsbild @wenphotos)

1 Francesca Melandri, Alle, außer mir. Aus dem Italienischen von Esther Hansen, Berlin 2018.

2 Ebd. 92.

3 Vgl. dazu Gero von Randow, Die Neuvermessung der Welt (DIE ZEIT 32/2018) sowie die Replik von Jochen Bittner, Matthias Krupa und Ulrich Ladurner, Nicht bloß Opfer der Geschichte (DIE ZEIT 34/2018).

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henrik heinicke

ist Pfarrer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Er hat evangelische Theologie in Wuppertal, Erlangen und Jerusalem studiert. In seiner Examensarbeit beschäftigte er sich mit Inklusion als Herausforderung für Kirche und Diakonie.

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