Christus kam nur bis Hildesheim
Pasolinis Verfilmung des Matthäus-Evangeliums war sein Erweckungsmoment: Salvatore, Protagonist des gleichnamigen Romans von Arnold Stadler, verlässt das Kino und ist fortan getrieben von jener Botschaft, die ihm die Stunden zuvor in für ihn vollendeter Ästhetik vermittelt worden ist. Es ist seine eigene Neuentdeckung des Evangeliums, allem voran jedoch ist es das Wiederfinden des Lebensantriebs – Salvatore hat Sehnsucht. Und sie ist gerichtet auf die Hoffnung, die der Film zum Inhalt hat.
Sehnsucht ist zudem Titel eines weiteren Romans aus der Feder von Stadler. Es ist derselbe Protagonist, doch der Ausgangspunkt ist ein anderer. Salvatore entscheidet sich gegen das Kino, fährt stattdessen auf eine Tagung mit Zwischenstop im Swingerclub und erinnert sich an seine Jugend, an sexuelle Begegnungen und die erste Liebe, kurzum an das, was ihn einst erfüllte. Heute drängt es ihn und seine „heimatlosen Erektionen“ nur noch ans Meer.
Salvatore und Sehnsucht erzählen eine Geschichte, ein Menschenleben, nur in radikal verschiedenen Ausdeutungen eines einzigen Entscheidungsmoments; ebenjene Radikalität, die dem Glauben und Nicht-Glauben, dem Angesprochen-Sein und dem verzweifeltem Suchen innewohnt.
Die Romane teilen jedoch nicht nur den Protagonisten und die Sehnsucht als Grundmotiv, sondern auch einen sich stets wiederholenden Satz: Christus kam nur bis Hildesheim. Salvatore jedoch lebt weiter nördlich.
Christus kam nur bis Eboli
Damit greift Stadler den autobiographischen Bericht Christus kam nur bis Eboli von Carlo Levi aus dem Jahr 1945 auf und macht ihn sich zu eigen. Eine ausgedörrte, unwirtschaftliche Gebirgswelt im Süden Italiens markiert den Lebensraum, der Levi als Ort der Verbannung zugewiesen wurde.
Abgesehen von dem abgewandelten Zitat erwähnt Stadler Levi an keiner Stelle, und doch spiegelt die italienische Einöde Salvatores Gemütszustand, der sich aus der Einöde seines Lebens heraus sehnt nach Sinn, Erfüllung und Zweck. In Sehnsucht ist das Meer seine Antwort, der krasse Gegensatz zu der unfruchtbaren Höhenlandschaft, in der Levi lebt. Die Weite und das Brausen des Wassers sind erlösende Sehnsuchtsmomente, für Salvatore innerlich so unerreichbar wie für Levi körperlich. Geographische Landschaftsmerkmale finden ihr Spiegelbild in der Topographie der Seele und versuchen sich in Metaphern der inhaltlichen Bestimmung der stadlerschen Sehnsuchtsbewegung zu nähern.
Nun sind diese Sätze lediglich ein kurzer und verkümmerter Abriss dreier Romane und die Sehnsucht ist stichprobenartig als Interpretationsmotiv herausgerissen. Mögen Stadler und Levi zwei Autoren sein, die aus dem schier unendlichen Kosmos der Literatur willkürlich herausgegriffen wurden, so soll ihre Erwähnung weniger exemplarisch als nicht viel mehr symptomatisch sein, ist ihr Kern doch keine linear argumentative Wissenschaft, sondern das Brennen, an dem ein Mensch irre werden kann; anders formuliert, es ist die versprachlichte Sucht nach der Welt, das glühende Sehnen nach dem Zueigen-Machen und Erweitert-Werden durch das Leben selbst.
Denn:
Es ist eine Tatsache, dass der Mensch Sehnsucht hat, und seine Sehnsucht ist wahr, unabhängig davon, ob etwas daraus wird oder nicht. (Arnold Stadler, Salvatore. Frankfurt am Main 2015, 192.)
Bei Stadler ist der Mensch Mensch, weil er sich sehnt.
Sehn-Sucht
Mit dem Abklingen der Weihnachtszeit verschwindet der zuvor inflationär verwendete und stets auf das Kind in der Krippe ausgerichtete Sehnsuchts-Begriff aus den Sonntagspredigten. Das ist Wohltat für jedes Auge und Ohr, die das Erleben der persönlichen Sehnsuchtsmomente nicht auf Kerzenschein, Plätzchenduft und den Advent mit seinem sonntäglich monotonen Gleichklang reduzieren wollen. Es darf deswegen aber nicht außer Acht gelassen werden, was dem Begriff innewohnt und ihn dadurch ganzjährlich aktuell macht. Deutlich wird dies am Versuch einer Übersetzung: Die deutsche Sprache bietet einige wundersame Wörter, die außerhalb des eigenen Sprachraums höchstens zu beschreiben, nicht aber zu übersetzen sind. Wer einmal probiert hat, Gemütlichkeit ins Englische zu übertragen, wird scheitern. Ebenso ergeht es jenem, der sich an der Sehnsucht versucht. Man mag auf longing kommen, auf yearning, vielleicht auf desire oder craving. Das mag das Sehnen noch einigermaßen treffen, der Gedanke der Sucht aber geht unter. Sehnsucht, vielleicht am besten zu übersetzen mit addiction to yearn?
Es ist genau dieses Moment der Sucht, der das Sehnen durch das Jahr hindurch präsent sein lässt. Sucht vermag einzelne Höhepunkte, aufblitzende Erfüllungen oder – kirchlich gesprochen – ein alljährliches Weihnachtsfest zuzulassen, doch sie drängt immer weiter, weil sie nie genug hat; die Abhängigkeit des Sehnens, ist sie noch so antreibend, so lebensbejahend, hat immer den Hang zum Diabolischen.
Das erfährt auch Salvatore, der am Ende von Sehnsucht endlich am Meer angekommen ist und bitter enttäuscht wird, denn die verspürte Sehnsucht war erfüllender als die reale Erfahrung. Das Träumen und Hoffen hat den irdischen Gegenstand bei weitem übertroffen, das Wasser, vor dem Salvatore steht, ist einfach nicht genug, er muss weiter, wohin auch immer. Die Sehnsucht fordert Einlösung ein, um sich anschließend umso stärker bemerkbar zu machen. Sie kann schlichtweg nicht eingelöst werden.
Sehnsucht und Erlösung
Damit stellt sich ein radikales Problem: Wenn sich der Mensch an der Sehnsucht als Mensch erkennt, dann würde ein Einlösen von Sehnsucht zugleich das Aufheben des Wissens um sich selbst bedeuten. Doch vielleicht kommt man dadurch dem näher, was Erlösung bedeuten könnte: Sie ist jenes Ziel, das am Ende nicht enttäuschen, sondern übertreffen wird – ein Meer, das genug ist und das die Sehnsuchtsbewegung trotzdem nicht aufhebt. Dies kann dann geschehen, wenn Sehnsucht und Erfüllung gleichzeitig einhergehen. Einen Vorgeschmack dessen bieten die Augenblicke im Leben, in denen die Zeit still zu stehen scheint.
Solche Augenblicke jedoch sind inhaltlich individuell gefüllt. Das führt dazu, dass die einzig gültige Deutungshoheit jener Sehnsucht einer Religionsgemeinschaft, geschweige denn gar einer einzelnen Konfession, nicht zugesprochen werden kann. Würde die Erfüllung jeder Sehnsucht im Vorhinein unabänderlich feststehen, dann hätten Träume keinen Platz mehr, dann wäre das Wünschen eine Farce. Buchstaben müssten sich nicht mehr zu Worten formen, Töne keine Musik zum Erklingen bringen. Das Sehnen wäre nicht mehr als ein Nachfahren vorgefertigter Linien statt eines Ausprobieren dessen, was sein könnte. Gotteserfahrung und keine Gotteserfahrung inklusive. Die Orte jener Erfahrungen lassen sich nicht bestimmen und überwachen, geschweige denn vorhersagen. Kirchlicherseits bedeutet dies, die Sehnsucht auch außerhalb der eigenen Statuten anzuerkennen und nicht nur vorgefertigte Antworten zu geben, sondern sich bereichern zu lassen von der Vielfalt, die die Welt bietet. Das ist keine Gefahr für die kirchliche Lehre, sondern ihre Chance. Schließlich erfährt sich der Mensch im Zulassen von Sehnsucht als transzendenzoffenes Wesen, dessen antagonistische Perspektiven sich zumindest literarisch mannigfaltig durchspielen lassen.
Somit ist Sehnsucht, mag sie sich nun in den Bergen oder in der See widerspiegeln, eine, vielleicht sogar die anthropologische Grundkonstante, die sich in Kunst und Literatur manifestiert. Als auszudeutendes Moment menschlicher Wirklichkeitserfahrung bildet sie den Grundstein einer Transzendenzoffenheit, die zugleich Basis jedweder Theologie ist:
Wenn es denn Theologie gibt, dann nur als Durst, dann im Verlangen: Komm über das Meer! (Christian Lehnert, Korinthische Brocken. Essay über Paulus. Berlin 2013, 225.)
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