Die MHG-Studie belegt, dass die zahlreichen Vorfälle sexualisierter Gewalt durch Kleriker Ausdruck struktureller Probleme in der Kirche sind. Christoph Koller plädiert daher für entsprechende strukturelle Reformen und lotet (kirchen-)rechtliche Möglichkeiten aus.

Seit einigen Tagen liegt schwarz auf weiß auf dem Tisch, was bisher zwar gemutmaßt oder angedeutet, aber nicht offen eingestanden wurde: Sexueller Missbrauch in der Kirche ist in erster Linie ein strukturelles Problem. Das ist die Hauptbotschaft der jetzt veröffentlichten Studie der Bischofskonferenz. Nicht der Einzelfall ist der Skandal, sondern die Strukturen, die es ermöglicht haben, dass in beklemmend hoher Anzahl Einzelfall auf Einzelfall folgen konnte. Die Autor*innen der Studie empfehlen deshalb unverblümt,

„dass das Augenmerk auch auf die für die katholische Kirche spezifischen Risiko- und Strukturmerkmale zu richten ist, die sexuellen Missbrauch Minderjähriger begünstigen oder dessen Prävention erschweren.“

(Zusammenfassung des Endberichts der Studie, S. 12)

Strukturellem Versagen aber muss mit strukturellen Maßnahmen begegnet werden. Willenserklärungen und Leitlinien sind zwar gut gemeint, bleiben aber nette Worte, solange sie nicht in Strukturen umgesetzt werden. Und „Strukturen“ bildet die katholische Kirche zuallererst in ihrem kanonischen Recht ab, beispielsweise durch ihre strikt hierarchische Verfassung mit nahezu unbegrenzten Kompetenzen für den Papst und in seinem je eigenen Bereich für den einzelnen Diözesanbischof. Eine strukturelle Antwort auf die Ergebnisse der Missbrauchs-Studie kann deshalb das Kirchenrecht nicht außer Acht lassen: mehr Recht wagen!

Versagen des Rechtssystems?

Doch zeigt der Missbrauchsskandal nicht gerade das Versagen dieses kirchlichen Rechts auf?

Ja und nein. Es wurden durchaus kirchenrechtliche Verfahren eingeleitet, aber nur ein geringer Anteil dieser Verfahren hatte wirklich gravierende Konsequenzen für die Beschuldigten, in einem Viertel der Fälle sogar gar keine.1 Wirklich dramatisch ist allerdings, dass ein solches kirchenrechtliches Verfahren nur in einem guten Drittel der Fälle überhaupt eingeleitet wurde! Es ist bestürzend, dass es trotz fortgesetzter Verschärfung der Regularien in über der Hälfte der Fälle gar nicht zu einem kirchenrechtlichen Verfahren kam; die Dunkelziffer ist wohl noch höher. Die Kirche verfügt über rechtliche Vorschriften, ihr Leitungspersonal wendet sie aber offensichtlich nicht oder nur ungenügend an.

Der Jesuit und Psychologe Hans Zollner, führender kirchlicher Experte in Fragen des Missbrauchs, weist darauf hin, dass sich die Rechtspraxis ändern müsse:

„Wir brauchen Normen, die tatsächlich greifen. Aber wir brauchen auch eine Bereitschaft, diese Normen tatsächlich auch in die Tat umzusetzen.“

Damit benennt er die doppelte Herausforderung für eine kirchenrechtliche Bewältigung der Missbrauchsskandale: Kirchliche Gesetze müssen zum einen so gestaltet sein, dass sie angewendet werden können; sie müssen aber vor allem auch tatsächlich angewandt werden.

Bestehendes Recht zur Anwendung bringen

Mehr Recht wagen heißt also zunächst einmal, die schon bestehenden Gesetze einzuhalten und sich rechtskonform zu verhalten. Rechtsbeugung im Namen falsch verstandener Barmherzigkeit oder aus männerbündischem Korps-Geist muss als Fehlverhalten benannt und geahndet werden. Denn Missbrauch und Vertuschung sind Gewalt- und Straftaten, die strafrechtlich verfolgt gehören; selbstverständlich von staatlicher Seite, aber erst recht auch gewissenhaft von kirchlicher Seite.

Die Autor*innen der Studie formulieren mit einigem Understatement:

„Die Studienergebnisse legen nahe, dass die Untersuchung und Sanktionierung sexueller Missbrauchsvorwürfe mittels kirchenrechtlicher Verfahren verbesserungsbedürftig ist.“

(Zusammenfassung des Endberichts, S. 13)

Als Verbesserungspunkte benennen sie unter anderem Transparenz, Vereinheitlichung, Angemessenheit der Strafen, brauchbare Reintegrationskonzepte für Täter und die Übernahme von Verantwortung auch dadurch, die strafrechtliche Aufarbeitung von Missbrauchs-Anschuldigungen nicht allein an die staatliche Justiz abzuwälzen.

An dieser Stelle werden aber auch die Grenzen des gegenwärtigen kirchlichen Rechtssystems offenbar. Denn wer kontrolliert die Einhaltung der Normen?

Dies ist gegenwärtig, nicht zuletzt aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen, nur die Hierarchie selbst. Und von ihrem Kirchen- und Amtsverständnis her ist es für viele Kleriker unvorstellbar, sich im Raum der Kirche dem Urteil von Nichtklerikern oder gar Nichtklerikerinnen unterwerfen zu müssen. Dennoch gilt es jetzt, Möglichkeiten zu finden, in denen das Recht und seine Durchsetzung nicht mehr abhängig sind vom einzelnen Bischof, der in seiner Diözese oberster Gesetzgeber und oberster Richter in einer Person ist. In diese Richtung geht auch der Vorschlag des Jesuiten Klaus Mertes. Er sieht die Notwendigkeit innerkirchlicher Gewaltenteilung, die

„nicht im Auftrag der Hierarchie, sondern in eigener Vollmacht Missbrauch und Amtsversagen untersuchen […] kann“.

Mehr Recht wagen heißt also auch, das kirchliche Straf- wie Verwaltungsrecht in moderne Strukturen überzuleiten, um einen willkürlichen Umgang damit zu unterbinden.

Rechtliche Differenzierungen sind nötig

Wenn wir schon über „strukturelle“ Ursachen des Missbrauchs in der katholischen Kirche reden, so reichen diese Strukturen natürlich viel tiefer als in den durch das Kirchenrecht geregelten äußerlich verfassten Bereich der Kirche. Fragen der Sexualmoral, der Geschlechterrollen und der Hierarchie sind zunächst theologische Fragen, bevor sie in den Normen des kanonischen Rechts abgebildet werden. Aber gerade was die Sexualmoral angeht, besteht rechtlich betrachtet Verbesserungsbedarf. Denn grundsätzlich verstößt der sexuelle Missbrauch Minderjähriger ja gleich mehrfach gegen Verhaltensgebote für Kleriker. Doch das kirchliche Recht differenziert an dieser Stelle nicht ausreichend: Ob freiwilliger Sex oder sexualisierte Gewalt, ob unter Erwachsenen oder mit Kindern, ob in beruflichem oder privatem Kontext – alles wird unter den schamhaften Sammelbegriff der „Sünde gegen das sechste Gebot“ gefasst. Richtig gelesen: Ehebruch.

Mehr Recht wagen heißt also auch, den Bereich der Sexualität im Strafrecht, auch unter Einbeziehung moderner humanwissenschaftlicher Erkenntnisse, so zu gestalten, dass es das Phänomen des Missbrauchs als solchen rechtlich fasst, angemessen definiert und vor allem von jenen Formen der sexuellen Betätigung unterscheidet, die vielleicht nicht mit der priesterlich-zölibatären Lebensform vereinbar sein mögen, aber keine Gewalt gegen andere darstellen.

Recht hilft

Mehr Recht wagen: Strafrecht, welches diesen Namen verdient und in fairen, transparenten und unabhängigen Prozessen Täter ihrer gerechten und angemessenen Strafe zuführt sowie Opfer Gerechtigkeit erfahren lässt. Verwaltungsgerichte, wie die Kirche sie bis jetzt nicht kennt, die den disziplinarischen Umgang von Vorgesetzten mit Missbrauchsfällen auf Richtigkeit und Angemessenheit überprüfen und somit Rechtssicherheit für Opfer wie Täter bieten können. Mehr Recht wagen – das ist nicht die Antwort auf die vielschichtige und unendlich gewichtige Missbrauchs-Problematik in der katholischen Kirche, aber ein Weg, um der Institution und ihren Strukturen zu neuer Glaubwürdigkeit zu verhelfen und angemessen auf das Geschehene zu reagieren.

Hashtag: #zurecht


(Beitragsbild: @nilshuber)

1 Vgl. Zusammenfassung, S. 6; vgl. auch S. 294-296 des Abschlussberichts.

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christoph koller

ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Kirchenrecht der Universität Freiburg. Dort arbeitet er an einer Dissertation zum Thema Barmherzigkeit und Kirchenrecht.

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