Kürzlich schlug Friedrich Merz vor, das Grundrecht auf Asyl zu überdenken. Benedikt Rediker — bei aller Ablehnung gegenüber Merz’ Vorschlag — verwies hier auf die Möglichkeit eines öffentlichen moralischen Diskurses über die Grundrechte. Philipp Brutscher blickt in die Geschichte unserer Verfassung und meint: Menschenrechte sind nicht verhandelbar.

Friedrich Merz will also das Grundrecht auf Asyl überdenken lassen – oder auch nicht, je nach dem, welcher Pressemeldung man mehr Beachtung schenken möchte. Als Jurist kennt er sicher die besonders hohen Hürden, die das Grundgesetz formuliert, um ein Grundrecht zu ändern.

Zentrum der Debatte: Die Würde des Menschen

Das Grundrecht auf Asyl: Nicht nur Merz würde dieses derzeit gerne inhaltlich neu bestimmen lassen oder abschaffen. Es geht aber weder ersteres noch letzteres, denn Grundrechte können nicht einfach durch Mehrheiten verändert werden. Grundrechte genießen im Grundgesetz besondere Geltung. Dreh- und Angelpunkt dieser Debatte müsste aber eigentlich nicht Artikel 16a sein, in dem das Grundrecht auf Asyl festgehalten wird. Zentrum der inhaltlichen Debatte ist nämlich der Artikel 1 des Grundgesetzes:

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.1

Entscheidend ist also die Frage nach dem Umgang mit Artikel 1 GG. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes, die sich von September 1948 bis Mai/Juni 1949 versammelt hatten, um eine für das Nachkriegsdeutschland verbindliche Verfassung auszuarbeiten, war vieles wichtig, aber eines ganz besonders: Einen totalitären Staat durfte es auf deutschem Boden nicht mehr geben. Aus den leidvollen Erfahrungen des Dritten Reiches war es Konsens einer überwältigenden Mehrheit des Parlamentarischen Rates, dass es starke Abwehrrechte der*des Einzelnen gegenüber dem Staat geben müsse. Die „Würde des Menschen“ schien als Terminus geeignet, fand sie sich doch schon in vielen Denkschriften von Widerstandsgruppen und schon in den meisten zu dieser Zeit gültigen Verfassungen einzelner Bundesländer auf deutschem Boden.

„Würde des Menschen“, damit verbanden die Mitglieder des Parlamentarischen Rates ein Verständnis des Menschen als Subjekt und eben nicht als Objekt. Der Mensch soll verbindlich als Rechtssubjekt anerkannt werden. Weil der Mensch Subjekt ist, soll das Staatswesen zukünftig nach dieser Maßgabe das Zusammenleben organisieren und die Menschenrechte für verbindlich erklären. Über diese Vorstellung wurde diskutiert, sowohl die christliche Anthropologie als auch die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant wurden zurate gezogen. Das Ergebnis der Debatten war: Der Staat hat den Menschen zu schützen, seine Freiheit zu garantieren und seine Entfaltung zu fördern. Es galt die Überzeugung, dass die Politik über eine Veränderung dieser Aufgaben nicht mehr entscheiden darf. Der Staat sollte nur noch für den Menschen da sein und seine Rechte garantieren – das sollte so bleiben, für immer.2

Zusammenhang von Grundrechten und Menschenwürde

Orientiert an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde eine Grundrechtekatalog entwickelt, der die äußeren Bedingungen der Achtung der Menschenwürde darstellen sollte. Nach Auffassung des Parlamentarischen Rates war dieser Katalog ein Mindestmaß – die weitere Ausgestaltung sollte damit den Parlamenten und den Gerichten eingeräumt werden. Hinter dieses Mindestmaß zurückzutreten war allerdings nicht vorgesehen.3

Damit ist der innere Zusammenhang zwischen der Würde des Menschen nach Artikel 1 und den Grundrechten im GG klar – weil der Mensch eine Würde hat, verpflichtet sich der deutsche Staat zur Achtung der Grundrechte in Artikel 2-17 des Grundgesetzes. Diese Grundrechte sind als Ausgestaltung der Würde des Menschen zu sehen und genießen durch Artikel 1 eine vor-staatliche Legitimation.4 Das heißt nicht, dass der Grundrechtekatalog unveränderbar ist, aber die Voraussetzungen für Änderungen sind entsprechend hoch.5

Die Unveränderlichkeit von Artikel 1 ist in diesem Zusammenhang besonders zu beachten: Ernst-Wolfgang Böckenförde ist in seiner Auslegung von Artikel 1 als vor-staatlich geltendes und die Grundrechte begründendes Prinzip eindeutig. Es soll dem Staat oder der Rechtsfortschreibung nicht möglich sein, am Prinzip der Menschenwürde etwas zu ändern. Sie soll in den formulierten Grundrechten verbindlich und gleichzeitig Grenze für staatliches Handeln sein.6

Und das gilt auch noch nach 69 Jahren?

Das Bedürfnis der Menschen, ihre Abwehrrechte gegenüber einem Staatswesen zu formulieren und zu festigen, sollte nie ahistorisch betrachtet werden, da dieses Bedürfnis immer aus konkreten Umständen heraus entsteht. Das deutsche Grundgesetz mag keinen metaphysischen Unterbau haben, formuliert aber aus den Erfahrungen der Schreckensherrschaft der Nazis die Achtung der Menschenwürde und die daraus folgenden Achtung der Menschenrechte in Form der Grundrechte. Das ist ein „von 0 auf 100“ aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges und kann durchaus als Gründungsmythos verstanden und gefeiert werden. Natürlich verändern sich die Gründe, Bedürfnisse nach Rechten zu formulieren. Dennoch dürfen historische Genese und normative Verbindlichkeit nicht verwechselt werden. Ausgehend von Gewalterfahrungen, Schutzlosigkeit und Heimatlosigkeit haben uns die Mütter und Väter des Grundgesetzes ein Ziel mitgegeben, auf das jede moralische Debatte hinführen muss: die Achtung des Menschen als Subjekt, die Achtung seiner Würde! Eine moralische Debatte darüber könnte dieses Ziel in Frage stellen. Wollen wir das?

Über Grundrechte diskutieren?

Eine Debatte über die Grundrechte oder den Wunsch nach Veränderung derselben zu führen, ist in Zeiten erodierender Zustimmung zu Menschenrechten möglich, aber hochgefährlich. Menschenrechte und damit Grundrechte sind zwar Mehrheitsergebnisse parlamentarischer Versammlung, aber entfalten eine besondere normative Wirkung: Sie gelten unbedingt. Es geht hier nicht um die Ausgestaltung des deutschen Steuerrechts, sondern um die Frage, ob der Mensch, unabhängig von sexueller Orientierung, Hautfarbe, Religion etc. besonderen Schutz und Achtung in seinen Lebensvollzügen vom Staat genießt. Der Parlamentarische Rat hat das mit einem deutlichen „Ja“ beantwortet. Selbst wenn die Zustimmung zu einigen dieser Gesetze geschrumpft ist, heißt das nicht, dass sie deshalb in Frage zu stellen sind – im Gegenteil. Es müsste viel mehr in das Verständnis dafür investiert werden, warum Menschenrechte gelten sollen und warum es richtig ist, den Mensch als Rechtssubjekt anzuerkennen.

Sollte das nicht passieren, wird der Mensch als Rechtssubjekt in Frage gestellt und wird wieder zum Objekt der Rechtsprechung. Das darf nicht passieren. Wir dürfen hinter die epochale Anerkennung des Menschen als Subjekt und die damit einhergehende Zuschreibung von Menschenrechten nicht mehr zurückfallen.

Menschenrechte müssen gelten!

Hashtag der Woche: #ideendesmerz


(Beitragsbild: WilliamCho)

1 Deutscher Bundestag (Hg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Berlin 2010. (GG).

2 Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hg.): Der Parlamentarische Rat: Plenum. (Band 9). Bearbeitet von Wolfram Werner. Boppard am Rhein 1996. 324. Und Wortlaut Artikel 79,3 GG

3 Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hg.): Der Parlamentarische Rat. Ausschuss für Grundsatzfragen (Band 5 I+II). Bearbeitet von Eberhard Pikart, Wolfram Werner. Boppard am Rhein 1993. 66.

4 Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hg.): Der Parlamentarische Rat: Plenum. (Band 9). Bearbeitet von Wolfram Werner. Boppard am Rhein 1996. 324.

5 Vgl. Art 19 GG Wesensgehalt der Grundrechte und Art. 79 GG Ewigkeitsklausel.

6 Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Bleibt die Menschenwürde unantastbar? In: Ders. (Hg.): Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt 2006. 407-419. 416.

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philipp brutscher

studierte mit Zwischenstopps im Bundestag und bei einer Münchener Unternehmensberatung katholische Theologie in Freiburg. Er ist Pastoralreferent, Jugendseelsorger und Referent der Fachstelle Ministrant*innen im Erzbistum Freiburg.

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