Friedrich Merz hat mit seinem Vorschlag einer möglichen Änderung des Grundrechts auf Asyl heftige Diskussionen ausgelöst. Benedikt Rediker plädiert dafür, den Vorschlag inhaltlich zu kritisieren und ihn dennoch nicht unter den Tisch zu kehren: Denn er öffnet das Feld für eine moralische Grundsatzdebatte darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen.  

Viele Zuhörer*innen staunten am vergangenen Mittwoch nicht schlecht, als Friedrich Merz auf einer CDU-Regionalkonferenz in Thüringen verkündete, dass man darüber nachdenken müsse, das Grundrecht auf Asyl angesichts der bleibenden Herausforderungen im Umgang mit Flüchtenden zu überdenken. Er schlug also nichts Geringeres vor als eine mögliche Änderung der Verfassung. Tobender Applaus auf Seiten der AfD, Ablehnung und Entsetzen bei einer Vielzahl anderer Parteien. Auch innerhalb der CDU gab es massive Kritik, Merz ruderte daraufhin zurück. Es sei ihm nie darum gegangen, das Grundrecht auf Asyl grundsätzlich aus der Verfassung zu streichen, sondern nur darum, Änderungen vorzunehmen.

Ein nüchterner Rechtstext als moralische Säule unserer Gesellschaft?

Soweit die Fakten. Was bleibt, ist ein provokanter Nadelstich, der, selbst wenn er anders gemeint war, Spuren hinterlassen wird. Denn ganz unabhängig davon, dass der Artikel 16a GG faktisch überhaupt nicht zentral für die Vergabe von Asyl ist und dies meistens durch europäisches Recht geregelt wird, stellt der Vorschlag einen Tabubruch dar: Denn wenn es überhaupt etwas in Deutschland gibt, auf das öffentlich mit Stolz verwiesen wird, dann ist es die deutsche Verfassung und die durch sie verkörperten Prinzipien. Kein Gründungsmythos und kein Unabhängigkeitskrieg, sondern ein nüchterner Rechtstext soll dafür sorgen, dass die freiheitlich-demokratischen Grundwerte als unumstößliche kulturelle und moralische Säulen unserer Gesellschaft gesichert sind.1

Nun kann man mit Verweis auf die Tradition der eigenen Verfassung auf die nicht hinterfragbare Gültigkeit der in ihr enthaltenen Grundwerte verweisen. Kramp-Karrenbauer wählte einen ähnlichen Weg, als sie in ihrer Kritik am Vorschlag an die Tradition der CDU erinnerte, nach deren Werten es unmöglich sei, eine solche Änderung zu unterstützen. So verantwortungsvoll und inhaltlich richtig eine solche Argumentation ist, sie hat eine entscheidende Schwäche: Sie verdeckt die eigentliche Brisanz des Vorschlags.

Stehen wir noch hinter dem Recht auf Asyl?

Eine zweite Möglichkeit im Umgang mit Merz besteht somit darin, seinen Vorschlag als Chance zu sehen, auch wenn man ihn inhaltlich zutiefst ablehnt. Denn er lenkt die Flüchtlingsdebatte – ob intendiert oder nicht – auf eine Ebene, die in der bisherigen Diskussion oft viel zu kurz gekommen ist. In ihr ging es häufig um juristische Fragen eines Rechtsbruchs oder um mögliche Grenzschließungen. Durch Merz‘ Vorstoß kommt jedoch die eigentlich entscheidende Frage auf den Tisch: Möchte Deutschland weiterhin eine Gesellschaft sein, die politisch Verfolgten unbedingt Schutz gewährt? Oder anders gefragt: Steht unsere Gesellschaft eigentlich noch hinter dem in Art. 16 stehenden Grundrecht auf Asyl und dem in ihn implizierten Werten? Dass die Antwort auf diese Fragen alles andere als selbstverständlich ist, macht das Erstarken rechtsextremer Strömungen unmissverständlich klar.

Die Verfassung kann die demokratischen Grundwerte nicht alleine garantieren

Auf diese Anfrage an die hinter dem Art. 16 stehenden Werte kann nun nicht durch einen einfachen Rekurs auf die Verfassung und deren Grundrechte geantwortet werden. Die Verfassung ist rechtlich nichts weiter als Ausdruck des demokratisch legitimierten Mehrheitswillens der Gesellschaft. Der Staatsrechtler Horst Dreier unterstreicht dies im Hinblick auf die parlamentarische Rechtssetzung. Diese sei „im wesentlichen Produkt von politischem Wettbewerb und Mehrheitsentscheidungen.“ Der Demokratie und der durch ihre Verfahren legitimierten Verfassung wohne somit „unweigerlich ein voluntaristisches Element inne.“2 Das heißt konkret: Die Verfassung genießt weder einen metaphysischen Unterbau, noch ist sie Ausdruck eines universalen Wertekanons, der ihr Bestehen auf ewig garantieren könnte. Vielmehr ist sie Ausdruck der in einer Gesellschaft vertretenen moralisch-sittlichen Anschauungen, die über den demokratischen Rechtssetzungsprozess im Parlament Eingang in sie finden. Sie ist somit endlich, kontingent und wandelbar. Das macht ihre demokratische Kraft und Fragilität zugleich aus.

Das Böckenförde-Diktum: aktueller denn je

Es war der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde, der dieses Dilemma des säkularen Rechtsstaats in seinem berühmten Diktum zum Ausdruck gebracht hat:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“3

Auf unseren Fall angewendet: Damit der Staat das Grundrecht auf Asyl auf Dauer durchsetzen und legitimieren kann, bedarf er des zivilen Engagements und der moralischen Zustimmung der Bürger*innen zur den in diesem Grundrecht implizierten Werten. Er ist angewiesen auf das freiwillige Engagement in der Flüchtlingshilfe und auf die Bereitschaft, den Integrationsprozess durch eine Willkommenskultur zu erleichtern. Dies setzt zugleich die Gesinnung voraus, das Grundrecht auch in seinem moralischen Fundament zu unterstützen. Geht diese moralische Akzeptanz verloren, kann auch das Grundrecht auf Asyl trotz seiner verfassungsrechtlichen Verankerung auf Dauer keine demokratische Legitimation für sich beanspruchen. Es wäre substantiell ausgehöhlt, entkoppelt von den moralischen Ansichten der Gesellschaft. Das wäre höchst gefährlich. Denn eine Verfassungsänderung wäre, sobald sich die notwendigen Mehrheiten finden ließen, dann nur noch eine Frage der Zeit. Und sie wäre, strikt demokratisch gesehen, sogar konsequent und legitim.

Der Diskurs über die Legitimität des Merz’schen Vorschlags ist also keine Frage, die mit dem Verweis auf die Würde und Tradition unserer Verfassung oder einen historisch gewachsenen Wertekanon allein betrieben werden kann. Will man ihm etwas entgegensetzen, dann muss man Argumente anführen, warum das Grundrecht auf Asyl aus moralischen Gründen ein fundamentaler Bestandteil unserer Gesellschaft ist und bleiben soll. Es handelt sich hier somit nicht um einen rechtlichen oder historischen, sondern einen moralischen Diskurs. Dass Merz‘ Vorschlag eine Ausweitung des öffentlichen Diskurses auf diese moralische Ebene ermöglicht, scheint mir – so zynisch das klingen mag – auch eine Chance zu bieten. Es wäre der Versuch aus einem hochproblematischen Vorschlag dennoch etwas Produktives entstehen zu lassen.

Chancen für eine theologische und sozialethische Beteiligung am Diskurs

Gerade aus theologischer und sozialethischer Perspektive ließe sich hierzu Wichtiges beitragen: Zunächst mal wäre es schon ein wichtiger Schritt, auf die moralische Dimension des Konflikts hinzuweisen. Dass dieser nämlich stattdessen primär pragmatisch-rechtlich geführt wird, beweist ironischerweise Merz’ eigene Begründung für seinen Vorschlag: Es gehe darum, der Gefahr vorzubeugen, dass durch eine Verankerung des Asylrechts in der Verfassung alle anderswo abgelehnten Asylbewerber*innen nach Deutschland kommen könnten. Dies unterschätzt die moralische Botschaft, die eine Änderung der Verfassung in diesem Punkt implizieren würde. Die Verfassung ist Spiegelbild der in einer Gesellschaft mehrheitlich vorherrechenden Grundwerte, zumindest sollte sie dies sein. Eine Änderung des Grundrechtes auf Asyl wäre also zugleich eine Aussage über die moralischen Auffassungen unserer Gesellschaft zu dieser Frage. Sie würde dann als eine Gesellschaft gelten, in der Geflüchtete nicht mit offenen Armen empfangen würden. Keine Willkommensgesellschaft mehr, sondern eine Abschottungsgesellschaft.

Aus sozialethischer Perspektive könnte jedoch auch die inhaltliche Gestaltung des moralischen Diskurses vorangetrieben werden. Das wird gerade in der Theologie teils schon vorbildlich gemacht ,4 nur dringt es zu selten zum öffentlichen Diskurs durch. Fragen, die hier diskutiert werden müssten, sind beispielsweise: Wie können wir die Idee der Menschenwürde, die das Grundrecht auf Asyl moralisch fundiert, so plausibilisieren, dass sie gerade auch in ihrer universalen, unbedingten Gültigkeit wieder höhere Zustimmung in der Gesellschaft erfährt? Aber auch Fragen ethischer Lebensführung wären zu diskutieren: Wird unsere Gesellschaft kulturell nicht reicher durch den Zugewinn von Menschen aus anderen kulturellen Kontexten? Und kompensiert dieser Zugewinn nicht die Herausforderungen und die möglichen Konflikte der Integrationsarbeit?

In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Noch scheint die moralische Substanz unserer Gesellschaft stark genug zu sein, das Grundrecht auf Asyl zu unterstützen. Mögen rechtsextreme Stimmen auch noch so laut Stimmung machen, sie sind zum Glück noch eine Minderheit. Aber diese moralische Substanz erhält sich nicht von selbst und sie lässt sich auch nicht durch den Verweis auf Tradition und Verfassung garantieren. Die gesellschaftlich immer lauter werdenden Stimmen gegen die Idee einer multikulturellen Gesellschaft sollten Warnung genug sein. Für die Beibehaltung dieses Fundaments muss also argumentiert und gestritten werden und zwar moralisch, nicht nur historisch, pragmatisch und rechtlich. Friedrich Merz‘ Vorstoß kann man, selbst wenn er das selbst so nicht intendiert hat, als Einstieg in eine dringend nötige Debatte nutzen – auch oder gerade wenn man seinem Vorschlag inhaltlich so gar nicht zustimmen kann.

Hashtag der Woche: #ideendesmerz


(Beitragsbild @heathermount)

1 Vgl. die von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas propagierte Idee des Verfassungspatriotismus, die genau hieran anknüpfen will. Hierzu grundlegend Müller, Jan-Werner, Verfassungspatriotismus, Frankfurt a.M. 2010.

2 Dreier, Horst, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München 2018, 107.

3 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation [1967], in: Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, 42-64, 63.

4 Vgl. z.B. Heimbach-Steins, Marianne (Hg.), Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise, Freiburg i.Br. 2016.

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benedikt rediker

studierte Theologie, Philosophie und Anglistik in Freiburg und London. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Fundamentaltheologie und philosophische Anthropologie der Universität Freiburg und arbeitet an einer Dissertation zu Perspektiven einer skeptischen Theologie.

2 Replies to “Änderung des Rechts auf Asyl? Die Ideen des Merz

  1. Für mich war dieser Vorstoß von Friedrich Merz ein taktisches Manöver, eine Provokation, um den Rechten Futter zu geben und den Rest sich empören zu lassen, nur um gleich darauf zu versichern, das hätte man ja garnicht so gesagt.

    Wer das ernsthaft diskutieren will, wählt da andere Wege.

  2. Ein Ansatz, die Aussage von Friedrich Merz und die Reaktionen darauf auf eine Art und Weise zu betrachten, auf die man erst einmal kommen muss. Denn genau wie hier beschrieben, zeigen die Diskussionen und die große Aufmerksamkeit bezüglich der Merz’schen Aussage, dass es notwendig ist, diese Fragen nicht „totzuschweigen“, dass es eben kein „selbstverständlich“ gibt. Umso wichtiger ist es, sich neue Wege zu trauen, den moralischen Diskurs der Thematik zuzulassen und so aus der polarisierten Situation etwas Positives zu ziehen.

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