Die aktuellen antifaschistischen Proteste nimmt Jan Niklas Collet zum Anlass, um über deren Bedeutung für den Kampf gegen eine zunehmende rechtsextreme Normalisierung nachzudenken. 

Seit der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche über ein geheimes Treffen in Brandenburg, bei dem extreme Rechte von der Identitären Bewegung über die WerteUnion bis hin zu Vertreter*innen der AfD über Pläne für Massendeportationen beraten haben, finden überall in Deutschland teilweise riesige Demonstrationen gegen Rechts statt. In Hamburg (20.01.24) und München (21.01.24) mussten Demonstrationen aus Sicherheitsgründen wegen Überfüllung sogar vorzeitig beendet werden. Auch in Städten wie Spremberg bei Hoyerswerda, wo wegen ihres Engagements gegen Rechts im Sommer noch ein Brandanschlag auf die Michaelskirche verübt wurde, gingen Hunderte auf die Straße. Im Folgenden stelle ich einige Überlegungen zu den Fragen an, warum die Correctiv-Recherche gerade jetzt eine derartige Protestwelle auslöst, welche Bedeutung die Proteste für den Kampf gegen eine zunehmende rechte Normalisierung haben könnten und warum der Aufbau einer „geschlossenen Front“ der demokratischen Kräfte dabei paradoxerweise Schlüssel und Fallstrick sein könnte.

Warum (erst) jetzt?

Die Frage, warum die Correctiv-Recherche ausgerechnet jetzt eine so breite Protestbewegung ausgelöst hat, stellt sich deswegen, weil sie eigentlich gar nichts Neues enthüllt hat. Sowohl was die Inhalte des Treffens (Massendeportationen) angeht, als auch was den deutlich gewordenen Vernetzungsgrad innerhalb der äußersten Rechten betrifft: All das war der Sache nach auch schon vor dem 10. Januar 2024 bekannt. Rechte Aktivist*innen und Parteifunktionäre der AfD haben diese Dinge seit Jahren in Büchern, Zeitschriften oder Blogs öffentlich erklärt. Jede*r hätte es wissen können.

Was die Recherche nun aber anscheinend erreicht hat, ist dieses prinzipiell auch schon vorher vorliegende Wissen einer breiten Öffentlichkeit als konkretes Szenario vor Augen zu stellen – und zwar in einem Moment, in dem die AfD in den Umfragen zu den anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen deutlich vor den anderen Parteien liegt. Möglicherweise hat manch eine*r aus der viel beschworenen „Mitte der Gesellschaft“ in den letzten Monaten und Jahren noch gedacht, dass eine rechte Oppositionspartei ohne realistische Machtoption schon keinen größeren Schaden für das eigene Leben anrichten würde. Aber angesichts aktueller Umfragen ist man sich nun vielleicht nicht mehr so sicher, ob die Massendeportationsphantasien der extremen Rechten mittelfristig nicht vielleicht doch Realität werden könnten. Davon wären dann nicht mehr nur – wie derzeit – Asylbewerber*innen betroffen, die durch das System der Lagerunterbringung gezielt vom sozialen Leben der Städte und Gemeinden isoliert werden und denen viele in ihrem Alltag deswegen so gut wie nie begegnen, sondern Freund*innen, Nachbar*innen, Kolleg*innen aus dem sozialen Nahbereich.

Neu ist also vor allem ein gestiegenes Bewusstsein in manchen Milieus, dass die Politik der extremen Rechten einschneidende Folgen nicht nur für Andere, sondern auch für das eigene Leben haben könnte.

Auf dem Weg zur „geschlossene Front“ demokratischer Kräfte?

Aus der historischen Forschung ist bekannt, dass das wirksamste Mittel gegen das Sterben von Demokratien durch die Hand eines formierten rechten Projekts eine „geschlossene Front“1 der demokratischen Kräfte ist. In den derzeitigen Protesten könnte sich so etwas wie die ersten Schritte eines solchen antifaschistischen Konsenses im Bereich der Zivilgesellschaft ankündigen. Aus diesem Grund sind die Proteste ebenso begrüßenswert wie z. B. die Erklärungen der für Ostdeutschland zuständigen katholischen Bischöfe sowie des Bischöflichen Hilfswerks Misereor oder der Beschluss der Landessynode der der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), die alle die Positionen der AfD für unvereinbar mit dem christlichen Glauben erklärt haben.

Im toten Winkel der „geschlossenen Front“: Demokratischer Rassismus?

Zugleich ist es problematisch, dass viele die Bedrohung, die die extreme Rechte darstellt, offenbar erst in dem Moment praktisch erkennen, wo es ihr unmittelbares Lebensumfeld betreffen könnte.

Das gilt gerade aus einer christlichen Perspektive, in der die Nächstenliebe gerade nicht auf den sozialen Nahbereich beschränkt ist, sondern auch die Fernsten miteinschließt und sich gerade am Verhältnis zu diesen zu bewähren hat. Ist Rassismus erst ab einer bestimmten Eskalationsstufe abzulehnen?

Diese Frage drängt sich auch deshalb auf, weil eben jene demokratischen Parteien, deren Vertreter*innen jetzt emphatische Erklärungen zum Kampf gegen Rechts abgeben, in der gleichen Woche das sogenannten „Rückführungsverbesserungsgesetz“ mit zahlreichen Grundrechtseinschränkungen für Geflüchtete beschlossen haben – und dies wie z. B. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) damit begründet haben, dass die im letzten Jahr ohnehin schon um 27 Prozent gestiegene Zahl der Abschiebungen noch weiter erhöht werde. Es sind die gleichen Parteien, die noch im Dezember 2023 die Reform des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems mitgetragen und begrüßt haben – eine Reform, die den Zugang zum Asylrecht für viele in Europa Ankommende de facto verstellen und die rechtlichen Möglichkeiten der Auslagerung von Asylverfahren außerhalb der EU schaffen wird (und deswegen z. B. von ProAsyl als „Abschottungsreform“ bezeichnet wurde). Noch am 18. Januar 2024 verkündete wiederum Nancy Faeser in der Talksendung Maybrit Illner, die Bundesregierung beobachte interessiert entsprechende Verhandlungen der extrem Rechten Regierung Italiens, „die das mit Albanien gerade versuchen“.

Die Protestierenden müssen aufpassen, dass sie sich in der begrüßenswerten Einigkeit über die Ablehnung der AfD und der extremen Rechten insgesamt nicht unversehens für Politiken einbinden lassen, die den Phantasien der extremen Rechten manchmal bedrohlich nahe kommen.

Die kritische Zivilgesellschaft muss Acht geben, dass sie sich nicht unversehens an der Ausbildung von so etwas wie einem „demokratischen Rassismus“ beteiligt – sozusagen im toten Winkel einer „geschlossenen Front“ der demokratischen Kräfte gegen die AfD.

Ein Beispiel dafür, wie ein solcher „demokratischer Rassismus“ aussehen könnte, lieferte unversehens etwa eine Vertreterin der Kölner SPD bei der Demonstration des Bündnisses „Köln stellt sich quer“ am 21. Januar 2024: Auf die Frage, wie das Bekenntnis der SPD zum Kampf gegen Rechts zur Foderung von Bundeskanzlers Olaf Scholz passe, Deutschland müsse „endlich im großen Stil abschieben“, antwortete sie, das Interview sei viel differenzierter als die Überschrift des SPIEGELS. Welche Abschiebungen im großen Stil durchzuführen sind – das bestimmen immer noch wir, und nicht die Faschisten? Wessen Abschiebungen haben das Potential, die nötige Eskalationsstufe für eine breite Protestbewegung zu erreichen – und wessen Abschiebung nicht?

Plädoyer für einen neuen antirassistischen Dissens

Natürlich besteht ein Unterschied zwischen den Positionen der AfD und Politik der Ampel-Parteien oder der CDU, die sich in ihrem neuen Grundsatzprogramm z. B. ebenfalls die prinzipielle Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten auf die Fahnen schreibt und für Kontingentlösungen plädiert (Z. 595–647) – also quasi für eine Abschaffung des individuellen Asylrechts. Diese Unterschiede müssen benannt und herausgearbeitet werden. Die Messlatte für die Beurteilung nicht nur, aber insbesondere von asyl- und migrationspolitischen Politiken kann aber nicht die Position der extremen Rechten sein. Daher kann das Herausarbeiten der Unterschiede für die kritische Zivilgesellschaft gerade nicht bedeuten, die Konsequenzen dieser Politiken oder ihre graduellen Kontinuitäten mit denen extrem rechter Akteur*innen zu beschweigen.

Gegen die rechte Normalisierung braucht es nicht nur eine „geschlossene Front“ der demokratischen Kräfte gegen die AfD – sondern innerhalb dieser Front auch einen antirassistischen Dissens gegen den „demokratischen Rassismus“ der Europäischen Union, der Bundesregierung und der Unionsparteien.

1 Levitsky, Steven / Ziblatt, Daniel: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, München 62018, 36.

Hashtag der Woche: #antirassismus


(Beitragsbild: ev)

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jan niklas collet

arbeitet beim Ökumenischen Netzwerk für Asyl in der Kirche in NRW e. V. und ist darüber hinaus als freier Theologe tätig. Schwerpunktthemen sind Befreiende und Politische Theologien, Marxismus und lateinamerikanisches Befreiungsdenken, rechte Normalisierung, Kirchenasyl und Klimakämpfe.

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