Der immer noch tobende Angriffskrieg Russlands in der Ukraine beschäftigt uns weiterhin. Auch theologische Stimmen mischen sich immer wieder mit Verweis auf die Bergpredigt in den Diskurs ein. Für Hanna Mehring benötigt es dafür jedoch mehr als bloße Steinbruchexegese.
Krieg und Pazifismus im Widerstreit?
Am 24.2.2022 fand der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 seine Fortsetzung. Nach einer Schockstarre und der Zeugenschaft der Wehrhaftigkeit der Ukraine und eines völkerrechtswidrigen Krieges mitten in Europa wurde durch Deutschland die Zeitenwende eingeläutet. Diese Zeitenwende machte eine Festlegung des Maßes an Unterstützung für die Ukraine notwendig. Auch DBK und EKD beteiligten sich an diesem Diskurs in mehreren Erklärungen mit der Abwägung zwischen dem Ideal der Gewaltfreiheit und dem für die Ukraine unbestrittenen Recht auf Selbstverteidigung. Innerhalb dieses Diskursraumes wurde immer wieder von Vertreter:innen der jeweiligen Kirche die Bibel – insbesondere das Gebot der Feindesliebe oder das Hinhalten der anderen Wange aus der Bergpredigt – herangezogen. Eine prominente und gewichtige Stimme ist die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Margot Käßmann, die zu den Erstunterzeichner:innen des Manifests für den Frieden gehört. In einem Interview mit ihr und der derzeitigen Regionalbischöfin für Hannover Petra Bahr in der Zeitung „Die Zeit“ erläutert Margot Käßmann ihre Motivation und die zugrundeliegende (pazifistische) Haltung; sie argumentiert dabei für einen Waffenstillstand und das Ende der Waffenlieferungen (und Schuldlosigkeit) auch mit dem Beispiel des Hinhaltens der anderen Wange aus der Bergpredigt (Matthäusevangelium, Kapitel 5, Vers 39).
„Gilt nicht im Kriegsfall“
Käßmann: „Ich bin erstaunt, wie locker du die Bergpredigt vom Tisch wischst. Das erinnert mich an ein Gebetbuch für deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Da stand unter dem fünften Gebot, du sollst nicht töten: ‚Gilt nicht im Kriegsfall.‘ Ich finde, so einfach können wir es uns nicht machen. Die Bergpredigt provoziert: Was passiert, wenn du die andere Wange hinhältst, statt zurückzuschlagen? Du verstörst den Angreifer, weil er das nicht erwartet. Nur so wird die Spirale der Gewalt unterbrochen! Du zwingst den Aggressor, aus der Logik des Krieges herauszutreten.“1
Käßmann versteht Mt 5,39 intentional als Beispiel für die Verstörung des Aggressors, die als Konsequenz nicht nur die Unterbrechung der Gewaltspirale hat, sondern das Heraustreten aus der Logik des Krieges erzwingt. Ich möchte rückfragen, ob dem wirklich so ist, denn in dieser Deutung steht – wie so häufig – der Aggressor im Fokus. Ich möchte hingegen eine Auslegung der fünften sogenannten Antithese (Mt 5,39–41) vornehmen, in der die Perspektive des Bedrohten und Geschädigten zentral ist.
Drei Beispiele für Resilienz
Springen wir in den neutestamentlichen Text des Matthäusevangeliums (5,39–41) mit seinen drei Beispielen für resilientes Reagieren auf das aggressive Verhalten eines Überlegenen.
„ Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“ (Mt 5,39)
Ein Aggressor tritt auf und agiert körperlich gewalttätig gegenüber einem Geschädigten, der körperlich und sozial unterlegen ist. Die Antwort auf diese Form der schweren Beleidigung ist ein aktives Hinhalten und die damit einhergehende weitere Gefährdung des eigenen Körpers durch den Gedemütigten. Sie entkräftet die Beleidigung, schwächt sie ab, macht sie lächerlich. Hier wird ein Handeln mit Provokationspotential vor Augen geführt!
„Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel!“ (Mt 5,40)
Ein Gläubiger zieht einem Schuldner das letzte Hemd im Rahmen eines Schuldprozesses aus! Die Nacktheit des Schuldners demaskiert zugleich den Gläubiger, der einem sozioökonomisch Schlechtergestellten seinen Besitz über das Maß hinaus bis auf das letzte Hemd pfändet.
„Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm!“ (Mt 5,41)
Hier wird die Situation der Zwangsverpflichtung in der römischen Provinz Judäa/Syria durch einen römischen Soldaten zum Transport- oder Geleitdienst, Verproviantierung und Zwangsarbeit geschildert. Auch hier kein passives Ergeben in die Zwangsverpflichtung als Reaktion, sondern die freiwillige Verdopplung des abgepressten Dienstes!
Die Situationen, in der die drei Exempla angesiedelt sind, sind analog gestaltet: Es findet die Durchsetzung von Recht durch die Schädiger in einem bestehenden Rechtssystem in obszöner Weise statt. Damit instrumentalisieren sie das Recht grenzüberschreitend zu ihren Gunsten. Der Geschädigte ist damit in einer Situation der Ungerechtigkeit und der Ohnmacht und gibt daraufhin seinen Rechtsschutz selbst preis – siehe das Geben des eigentlich unverpfändbaren Mantels.
Der ungerecht Behandelte als sozial Isolierter
Im Zentrum steht jeweils die aus dem AT bekannte Figuration eines ungerecht Behandelten als dem sozial Isolierten, der sich einer Übermacht von Feinden ausgesetzt sieht. In Mt 5,38–42 wird dieser als (Re-)Agierender gezeigt, der seine Selbstwirksamkeit durch eine kreative adaptive Anpassungsleistung aufrechterhält. Mittels einer gewaltfreien Gegenreaktion bleibt er nicht nur auf Augenhöhe mit dem Schädiger, sondern sein Handeln überbietet sogar fast schon provozierend. Zugleich offenbaren die Figurationen des Geschädigten die Maßlosigkeit des Handelns der Schädiger. Als oppositionelles Referenzsystem für die Aktivierung und Legitimierung des eigenen Handlungspotentials braucht es zudem einen utopos, der Gerechtigkeit gewährleistet: das Himmelreich. Denn die Bergpredigt ist in Mt 5,17-20 mit einem Vorwort versehen, das die Leitidee für die Auslegung der Tora durch Jesus bietet. Das Kommen in das Himmelreich ist korreliert mit der Erfüllung der bleibend gültigen Tora und ist damit an (die eigene ausgeübte) Gerechtigkeit gebunden.
Keine Unterbrechung!
Mt 5,39-41 dient damit in erster Linie eben nicht der Unterbrechung der Gewaltspirale wie von Käßmann beschworen; dies ist nur eine der möglichen Konsequenzen der geforderten Verhaltensmaxime. Vornehmliche Wirkabsicht sind zum einen das ‚Offenbaren‘ der Ungerechtigkeit im Sinne eines Machtgefälles. Dadurch kommt es zu einer strukturell bedingten Erhöhung von Vulnerabilität innerhalb eines bestehenden Ordnungs- und Rechtssystems. Damit spricht die fünfte sogenannte Antithese der Bergpredigt in keinem Fall in die Situation eines (heißen) Krieges wie der Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg hinein. Zum anderen werden Modi der Aufrechterhaltung von Selbstwirksamkeit und Strategien für den Aufbau bzw. die Stärkung der eigenen Resilienz gezeigt. Die fünfte Antithese fungiert als literarischer Text mit ihren Beispielen als kreativer Lernort und Möglichkeitsraum für die Erprobung von Resilienz.
Feindesliebe muss man sich leisten können
Auch die folgende letzte Antithese, die das Gebot der Feindesliebe enthält, fand in der Diskussion um das Für und Wider von Waffenlieferungen an die Ukraine prominent durch Kirchenvertreter:innen Anwendung – im Jahr 2023 durch den Hamburger Erzbischof Stefan Heße in einem Brief an junge Katholik:innen.2 Er formuliert das herausfordernde Gebot der Feindesliebe in die Forderung um: Hasst eure Feinde nicht! Dies bewahrt die wichtige Leistung der Feindesliebe, zumindest in Auseinandersetzung und Beziehung mit dem Feind zu bleiben. Es weist zudem bereits auf das Problem einer moralischen Staffelung und eines moralischen Gefälles hin – nur wer zur Feindesliebe fähig ist, ist wahrhaft integer. Für die adäquate Kontextualisierung des Gebots der Feindesliebe muss man die Bergpredigt in ihrer literarischen Struktur und in ihrer engen Verbindung zur fünften Antithese ernst nehmen. Erst wenn die Aufrechterhaltung von Selbstwirksamkeit in der 1-zu1-Begegnung mit einem Aggressor gelingt, kann man sich auch als Gruppe Feindesliebe leisten – im Modus der Resilienz.
Bessere Gerechtigkeit der Gruppe der Christusanhänger
Denn mit der Feindesliebe in der Bergpredigt ist zugleich die bessere Gerechtigkeit der Gruppe der Christusanhänger markiert. Damit geht eine Höherwertung im Vergleich zum Ethos anderer Gruppen wie den Pharisäern und den Heiden einher. Das Gebot der Feindesliebe fungiert sowohl als Abgrenzung der Gruppe der Christusanhänger nach außen sowie als Stärkung und Legitimierung der eigenen Gruppenidentität nach innen. Die Forderung der Feindesliebe ist in eine Situation der Marginalisierung der Christusanhänger:innen hineingesprochen und dient der Selbstvergewisserung durch die Behauptung moralischen Oberwassers – nicht nur gegenüber der paganen Umwelt, sondern auch gegenüber anderen jüdischen Gruppierungen. Zu diesen jüdischen Gruppierungen zählen neben den Christusanhänger:innen auch die Pharisäer. Das beschriebene und eingeforderte Ethos der Gruppe der Christusanhänger ist ebenso wie die kreative gewaltfreie Provokation durch den Einzelnen kontinuierliche alltägliche Selbstvergewisserung im Modus der Resilienz. Die gewaltfreie Provokation und das Gebot der Feindesliebe stützen und sichern sich gegenseitig in ihrer Wirkung – die Stärkung von Resilienz – ab. Beide Handlungsmaximen stehen im Horizont des gekommenen, aber noch nicht vollendeten Himmelreichs und wappnen so für herausragende Alltagssituationen, nicht aber für die Situation eines Angriffskriegs.
Hashtag der Woche: #LogikDerWange
1 https://www.zeit.de/2023/09/ukraine-krieg-frieden-petra-bahr-margot-kaessmann-waffenlieferungen, abgerufen am 15.01.2024.
2 https://www.zeit.de/news/2022-06/30/erzbischof-kein-hass-statt-feindesliebe-im-ukraine-konflikt, abgerufen am 14.01.2024.
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