[CONTENTNOTE: der folgende Text thematisiert Fehl- und Totgeburt. Bitte pass beim Lesen auf dich auf oder falls die Themen dich belasten: lies einen unserer anderen Artikel]

„Es ist etwas Totes in mir, in meinem Körper“ – Beschreibt Susanne die körperliche Erfahrung, ein Kind während der Schwangerschaft zu verlieren. Nadja Waibel wirft einen Blick auf das Phänomen „stillbirth“ und zeigt biblische, historische und pastorale Perspektiven auf.

Nach dem Therapiehandbuch Gynäkologie und Geburtshilfe enden etwa 15% aller klinischen erkannten Schwangerschaften, die meisten davon (80 %), im ersten Trimester.1 Diese Spontanaborte werden umgangssprachlich als Fehlgeburt bezeichnet und finden sich auch in biblischen Zeugnissen: Ex 21,22 beschreibt, wie vorzugehen ist, wenn zwei Männer raufen und dabei eine schwangere Frau verletzen und diese darum das Kind verliert. Hiob und Jeremias wäre angesichts ihres Leidensweges lieber gar nicht erst geboren worden (Hi 3,16; Jer 20,18). Die Thematik findet sich auch in biblischen Hoffnungsbildern. Elias prophezeit sauberes Wasser, durch das es keine Fehlgeburten mehr geben wird (2. Kön 2,21) und das Buch Exodus (Ex 23,26) beschreibt das gelobe Land, als ein Ort, an dem es keine Fehlgeburten mehr geben wird.

Wallfahrtsorte

Im Mittelalter nahm mit der zunehmenden Verbreitung der Kindstaufe die Sorge um das Seelenheil der ungetauft verstorbenen Kinder zu. Nach mittelalterlichen Vorstellungen irrte die Seele eines ungetauften Kindes zwischen Himmel und Erde umher. Diese armen Seelen machte man verantwortlich für Missernten und Pestfälle. Die Eltern wurden dafür verantwortlich gemacht, dass diese Seelen erlöst werden und so das Übel von der Gemeinschaft fernblieb. Um die Seelen zu befreien, pilgerte man an spezielle Wallfahrtsorte, an „Gnadenstätten, wie Oberbühren, Rigi-Kaltbad und Disentis“2 statt. Die Hoffnung war, dass das Kind für einen kurzen Moment ein Lebenszeichen von sich gab, sodass man es taufen konnte. Als Lebenszeichen wurden gedeutet: eine Feder, die sich durch den Atem des Säuglings bewegte, glänzende Augen oder eine rosige Haut. Getaufte Kinder durften auf dem Friedhof beerdigt werden. Ungetaufte durften nicht auf geweihten Boden begraben werden, darum fanden sich an manchen Orten auch Gräber in den Friedhofsmauern. An den Wallfahrtsorten fanden sich Einzel- oder Gemeinschaftsgräber, bestattet wurde

„nach Osten ausgerichtet, d.h. der Kopf liegt im Westen, der Blick ist nach Osten gerichtet, wo am Jüngsten Tag der Herr erscheinen soll.”3

Pastorale Perspektiven

Totgeburt befinden sich in der Schnittstelle zwischen Leben und Tod. Geboren zu sein und tot zu sein, ist ein Widerspruch in sich. Der englische Begriff stillbirth beschreibt dieses Moment der stillen Geburt:

„Wenn ein Kind tot zur Welt kommt, ist es eine stille Geburt, eine lautlose Geburt, denn dieses Kind verkündet nicht mit einem ersten Schrei seine Ankunft auf der Welt. Diese Lautlosigkeit der Geburt findet nicht selten ihre Fortsetzung in einer Atmosphäre der Sprachlosigkeit, die die Eltern nach dem Tod ihres Kindes erleben. Den Eltern und ihren Begleitern fehlen oft die Worte, um Schmerz und auch Anteilnahme auszudrücken.“4

Betroffen von dem Verlust sind nicht nur Mütter, sondern auch andere Personen, die sich auf ein Leben mit Kind vorbereitet haben. Oft erleben es betroffenen Frauen als belastend, wenn die Partner:innen nicht gleichermaßen emotional involviert sind. Auch wenn der/die Partner:in vielleicht auch trauert, dies aber auf eine andere Art kommuniziert oder ausdrückt. Ein Kindsverlust ist eine Beziehungsprobe, an der viele Paarbeziehungen zerbrechen. Andere Paare entschließen sich danach auch bewusst für eine Familie.

Die interviewte Susanne und ihr Freund haben nach dem Verlust geheiratet und weitere Kinder bekommen, doch die Erinnerung schmerzt sie noch immer. Für nachfolgende Kinder besteht die Gefahr, Ersatzkinder zu werden. Nach Hirsch kann dies zu einem Ringen um die eigene Identität in Abgrenzung zum Geschwister führen:

„Betroffene Geschwisterkinder glauben nicht selten, sie hätten es nicht verdient zu überleben. Manchmal führt das dazu, dass sie nicht für sich selbst sorgen, weil sie meinen, sie seien es nicht wert, zu leben. Manchmal ist mit diesem fehlenden Selbstwertgefühl die Forderung an sich selbst verbunden, sehr viel zu leisten und alle ihnen gestellten Aufgaben zu erfüllen.“5

Als prominentes Beispiel hierfür nennt Hirsch den Maler Vincent van Gogh, der den Namen seines verstorbenen Bruders trug.6

Seelsorgegespräch und Umgang mit Schuldgefühlen

Eine Spitalseelsorgerin beschreibt, dass sich Frauen, die ihr Kind während der Schwangerschaft verlieren, oft Fragen stellen, wie: Habe ich zu viel gearbeitet? Hatte ich zu viel Stress? Hätte ich dieses Möbel nicht heben sollen? Medizinisch lassen sich die Ursachen von Spontanaborten nicht festmachen. Manchmal haben Betroffene auch ambivalente Gefühle, die Schwangerschaft kommt vielleicht nicht zum richtigen Zeitpunkt. Beziehungen können geprägt sein von Konflikten und häuslicher Gewalt. Dann kommen Gedanken auf, wie: „Ja, vielleicht musste es ja so sein.“ Solche Deutungen werden in Gesprächen oft nicht direkt angesprochen. Dies zu hören, braucht von Seelsorgerin die Fähigkeit, genau hinzuhören und zwischen den Zeilen zu lesen.

Namensgebung- und Segensritual

Dem verstorbenen Kind einen Namen zu geben, kann helfen, später das Geschehene zu benennen. Für die Feier der Bestattung von tot geborenen Kindern und Fehlgeburten findet sich im deutschsprachigen Rituale Romanum zur kirchlichen Begräbnisfeier eine Handreichung.7 Oft sind Betroffenen nach einem pränatalen Kindstod mit der Frage, ob sie ein Abschiedsritual wollen, überfordert. Regelmäßige Angebote wie einen monatlich stattfindenden Gottesdienst für verstorbene Säuglinge, können darum bei dieser Entscheidung helfen. Oft wissen bei einem Kindsverlust in der frühen Schwangerschaft erst ein kleiner Personenkreis von der Schwangerschaft, darum finden diese Rituale meist im kleinen Rahmen statt. Durch ein gemeinsames Ritual kann eine Verbundenheit im Familien- und Freundeskreis entstehen. Dabei werden später oft nicht die gesprochenen Worte, sondern die bloßen Anwesenheit erinnert:

„die fragile Identität als Mutter, als Vater, als Großeltern wird durch die Anwesenheit von andern bestätigt und mitgeformt.“8

Erinnerungsstücke sammeln

Das verstorbene Kind hat noch keine Lebensgeschichten, doch die Hinterbliebenen haben eine Geschichte mit dem Kind. Seelsorgende können dazu auffordern, die Geschichte zu erzählen und zu erinnern. Erinnerungshilfe können Kleidungsstücke, Spielsachen oder ein Foto eines Ultraschalls sein.

Orte des Gedenkens

Grabfelder bieten die Möglichkeit, einen Ort zu haben, an dem Betroffene gehen können, um zu trauern. Gedächtnisorte können auch zuhause eingerichtet werden. Dies kann ein aufgestelltes Foto sein, oder im Garten kann in Erinnerung an das Kind ein Baum oder ein Rosenstrauch gepflanzt werden.

Seelsorgeangebote für Betroffene

Meist ist in der Gemeinde nicht bekannt, wer von Kindsverlust betroffen ist. Spezifische Angebote ermöglichen es, dass Betroffene einander finden und austauschen können. Am zweiten Advent wird vielerorts die Aktion Candle Lightning durchgeführt, bei dem verwaiste Eltern ihren verstobenen Kindern gedenken, in dem sie für sie eine Kerze anzünden.

Eine Auszeit kann Betroffenen dabei helfen, zur Ruhe zu kommen. Eine interviewte Ordensfrau beschreibt, wie sie eine Betroffene in einer mehrtägigen Auszeit begleitete. Sie führten Gespräche und für jedes verlorene Kind schliff die junge Frau einen Speckstein. Als sie das Kloster verließ, ließ sie diese im Kloster. Dem Verlust eines Kindes folgt ein Trauerprozess, der oft über mehrere Jahre andauert, auch noch Jahre später können Abschiedsrituale und Begleitung helfen, um die Zuversicht zu erlangen, dass das Geschöpf getragen ist.

Hashtag der Woche: #stillbirth


Beitragsbild: privat

1 Sillem, Martin et al.: Therapiehandbuch Gynäkologie und Geburtshilfe. 3. Auflage. Berlin 2020, 88.

2 Hugger, Paul: Taufe. In: Historisches Lexikon der Schweiz. http://www.hls-dhs- dss.ch/textes/d/D25623.php, abgerufen am 22.11.2023.

3 Susi Ulrich-Bochsler, Daniel Gutscher, Wiedererweckung von Totgeborenen. Ein Schweizer Wallfahrtszentrum im Blick von Archäologie und Anthropologie. In: Jürgen Schlumbohm, Barbara Duden, Jacques Gélis, Patrice Veit (Hg.), Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte (München 1998) 244-268, hier 256.

4 Nijs, Michaela: Trauern hat seine Zeit. Göttingen 1999, 15.

5 Nijs, Michaela: Trauern hat seine Zeit. Göttingen 1999, 138.

6 Hirsch, Mathias: Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjektion. Göttingen 2017, 184-187.

7 Die Feier der gemeinsamen Verabschiedung oder Bestattung von tot geborenen Kindern und Fehlgeburten, In: Die kirchliche Begräbnisfeier in den Bistümern des deutschen Sprachgebietes. 2. authentische Ausg., auf Grundlage der Editio typica 1969. Freiburg  2009, Anhang: Teil 3, 347-359.

8 Morgenstern, Andrea: Perinataler Tod. Bestattungen von Frühgeborenen. In: Klie, Thomas. Praktische Theologie der Bestattung. Berlin 2015, 413-427, hier: 420.

Weiterführende Literatur:

Schlumbohm, Jürgen. Rituale der Geburt : eine Kulturgeschichte. München: Beck, 1998.

 

Hashtag der Woche: #stillbirth


Beitragsbild: privat

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najda waibel

studierte Psychologie, Theologie und Judaistik in Zürich, Fribourg und Luzern. Für ihre Masterarbeit Ungeboren - gestorben: Wie kann Seelsorge Betroffene von pränatalem Kindstod unterstützen? führte sie Interviews mit Betroffenen und Seelsorgenden.

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