In Jerusalem ist die Lage angespannt wie lange nicht mehr. Die Folgen des Terroranschlags der Hamas und der Reaktionen darauf prägen die Stadt. Jerusalem, eine geteilte Stadt schon vorher. Wie er das erlebt hat in seinem Auslandsstudium in Jerusalem erzählt für uns Michael Hlavka.

Im Zuge des 49. Theologischen Studienjahrs verbrachte ich im vergangenen Jahr gemeinsam mit 19 anderen deutschsprachigen Studierenden 8 Monate in Jerusalem, um an der Wurzel des Christentums Theologie zu studieren und das Land sowie seine Menschen kennen zu lernen. Jerusalem ist insofern ein besonderer Ort, da man dort, wie sonst nirgends auf der Welt, jüdischen, muslimischen und christlichen Glauben in verschiedensten Ausprägungen und Konfessionen Seite an Seite vorfindet.

Neben verschiedenen theologischen und archäologischen Fächern waren auch Geschichte und Politik des Nahen Ostens zentrale Schwerpunkte des Studienjahres. So hatten wir einige Vorlesungen sowie wöchentliche Abendvorträge, wo Personen aus unterschiedlichsten Bereichen (Vertreter*innen aus Politik, Medien, Religion und Bildung sowie Friedensaktivist*innen und NGOs – sowohl israelische als auch palästinensische) eingeladen wurden, um über ihre Wahrnehmungen zum Nahostkonflikt zu sprechen. Dabei war es der Studienleitung sehr wichtig, eine breit gefächerte Palette an Positionen zur Sprache kommen zu lassen, um uns eine möglichst differenzierte Sichtweise zu ermöglichen. Auch mehrere Studientage zusammen mit israelischen Studierenden (in Jerusalem und Tel Aviv) sowie mit palästinensischen Studierenden (in Ramallah und Bethlehem) standen am Programm, wo wir uns mit Menschen unseren Alters austauschen, ihre Geschichten hören und dabei auch neue Freund*innen gewinnen konnten.

Jerusalem übte mit seiner bewegten Geschichte eine große Faszination auf mich aus, doch zeigte sich bald noch eine weitere Facette der Heiligen Stadt: Es herrschte eine permanent spürbare Anspannung.

Waffen und Soldat*innen waren omnipräsent, strenge Sicherheitskontrollen beklemmende Routine. Für mich war es eine neue und ungewohnte Erfahrung, gelebte und praktizierte Religion Hand in Hand mit so viel Aggression und daraus resultierender Gewalt zu sehen. Beide Elemente sind in Jerusalem wohl nur schwer voneinander zu trennen und haben fließende Übergänge. Obwohl ich schon mit der Erwartungshaltung ankam, dass es während unseres Aufenthalts mitunter zu Zwischenfällen, gewaltsamen Auseinandersetzungen oder auch Anschlägen kommen kann, war ich doch überrascht, wie bald wir damit konfrontiert wurden:

Schon der Tag unserer Ankunft stand ganz im Zeichen des Konflikts zwischen Israel und Palästina: Wenige Stunden vor unserer Landung gab es einen Raketenangriff der palästinensischen Terrororganisation „Islamischer Jihad“ auf Tel Aviv als Reaktion auf die Tötung eines Anführers durch Israel im Zuge der „Operation Breaking Dawn“1. Auch am Folgetag flogen wieder hunderte Raketen aus dem Gazastreifen nach Israel – zum Glück wurden aber fast alle vom Iron Dome abgefangen.2 Während wir quasi ins kalte Wasser geworfen wurden und noch nicht wirklich wussten, wie wir diese Situation einordnen können, gab es zu unserer Verwunderung keine spürbare Reaktion der israelischen Bevölkerung auf diese Vorkommnisse – das Alltagsleben schien völlig unbehelligt davon weiterzugehen.

Nur eine Woche später wurde ich dann selbst Zeuge eines Terroranschlags: Von meinem Zimmer im Gästehaus der Dormitio-Abtei am Zionsberg aus hörte ich in der Nacht Schüsse ganz in der Nähe. Der Anschlag galt einem Bus, der Jüd*innen von der Klagemauer nach Hause brachte. Acht Personen wurden dabei (zum Teil schwer) verletzt.3 Besorgt und schockiert erwartete ich mir für den nächsten Tag einen ähnlichen Ausnahmezustand, wie ich ihn damals in Wien am Tag nach dem Terroranschlag vom 2. November 20204 erlebt hatte.

Umso erstaunter war ich dann aber, dass bis auf einige Zeitungsberichte absolut nichts mehr auf den Anschlag hindeutete. Es war ein völlig „normaler“ Tag wie jeder andere.

Als junger Europäer, der nur den Frieden kennt, stellte ich mir immer wieder die Frage, was es wohl mit Menschen macht, die von Geburt an mit dieser Gewalt konfrontiert sind? Was macht es mit Menschen, die von klein auf lernen, vor anderen Menschen Todesangst zu haben5; mit Kindern, die darin erzogen werden, andere Menschen zu hassen und lernen, dass es etwas Gutes ist, wenn diesen Menschen Leid zugefügt wird?6

Und so kam es, dass ich, je mehr Zeit ich dort verbrachte und je mehr ich gehört, gesehen, gelernt und erfahren habe, immer resignierter wurde über diese augenscheinlich völlig gegen die Wand gefahrene Situation: Die Fronten innerhalb der Gesellschaft sind dermaßen verhärtet, dass eine realistische und friedliche Lösung des Nahostkonflikts in sehr weiter Ferne liegt. Mit Blick auf inzwischen rund 700.000 israelische Siedler*innen auf palästinensischen Gebieten7, die sicherlich nicht freiwillig umziehen werden und unzählige Palästinenser*innen, die Israel unter keinen Umständen anerkennen wollen, ist eine Zweistaatenlösung nach dem ursprünglichen Plan wohl gescheitert. Als Alternative kam bei verschiedenen Abendvorträgen immer wieder eine Ein-Staat-Lösung zur Sprache (also quasi ein Staat für israelische UND palästinensische Bürger*innen, wo beiden Gruppen die gleichen Rechte zukommen), doch auch diese kann – vor allem nach der aktuellsten Eskalation – als Utopie bezeichnet werden.8 Hier müssten sehr viele Menschen sehr große Schritte aufeinander zugehen. Ein Szenario, welches angesichts des gegenseitigen Hasses äußerst unwahrscheinlich ist. Die gesamte Situation befindet sich inzwischen leider in einer Lage, die meines Erachtens nicht mehr wirklich lösbar ist und das ist wirklich deprimierend.

Als naive*r Europäer*in kommt man in dieses Land und denkt sich: „Ach, da wird es schon eine Lösung geben, die Leute müssen doch nur miteinander reden“ – allerdings wird dabei übersehen, dass die meisten Leute gar nicht reden wollen. Viele Israelis und Palästinenser*innen leben quasi Tür an Tür und wechseln dennoch ihr Leben lang kein Wort miteinander. Wir haben etwa mit säkularen israelischen Studierenden gesprochen, die noch kein einziges Mal in ihrem Leben Kontakt mit einer palästinensischen Person hatten – und das auch nicht wollen. Gleiches gilt auch für Palästinenser*innen, die sich schon bei der alleinigen Erwähnung Israels völlig vor einem Diskurs verschließen (auch das habe ich in Gesprächen erlebt: „There is no Israel. If you use this term, you are normalizing the occupation and I won’t talk to you anymore”). Die Narrative über den jeweils anderen als Todfeind sind in der Gesellschaft tief verankert und werden vielfach auch aktiv von Regierung, Medien und zum Teil auch in Schulbüchern propagiert.9 Wie kann man also angesichts solcher Aussagen erwarten, dass hier irgendwo die Bereitschaft zum Gespräch besteht?

Natürlich gibt es einige bilaterale Initiativen und NGOs (etwa Neve Shalom, Combatants for Peace, Rabbis for Human Rights, etc.) und auch Personen aus der Zivilbevölkerung, die sich für Dialog und gewaltfreie Lösungen einsetzen, jedoch bilden diese meinen Erfahrungen nach leider eine ziemliche Minderheit.

Für mich als Außenstehenden war und ist es wichtig, so viele verschiedene Stimmen und Positionen zu hören wie möglich. Ich möchte mich hineinfühlen können in die Menschen, möchte ihre Gedanken und Geschichte kennen- und verstehen lernen. Immer wieder hatte ich dabei aber das Gefühl, dass von mir gefordert wird, mich klar auf die Seite der jeweiligen Gesprächspartner*innen zu stellen, bevor mit mir weitergesprochen wird. Ein Gefühl, welches ich seit dem 7. Oktober leider auch im Diskurs hierzulande verspüre.10 Doch kann es wirklich eine Lösung sein, sich gegenüber anderen Perspektiven völlig zu verschließen? Man muss diese Perspektiven ja nicht gleich adaptieren, sie können, dürfen und müssen sogar kritisch reflektiert werden – doch sie schon von vornherein zu diskreditieren halte ich für falsch.

Hören wir einander zu, versuchen wir einander zu verstehen und verlieren wir trotz allem nicht die Hoffnung.

Hashtag der Woche: #einanderzuhören

Beitragsbild: Michael Hlavka


[Alle Links zuletzt abgerufen am 17.11.2023]

1 Vgl. The Jerusalem Post: Gantz approves draft of over 25,000 reservists after IDF strikes in Gaza. URL: https://www.jpost.com/arab-israeli-conflict/gaza-news/article-714026.

2 Vgl. The Jerusalem Post: Over 350 rockets fired toward Israel, sirens sound in Tel Aviv. URL: https://www.jpost.com/breaking-news/article-714038.

3 Vgl. The Jerusalem Post: Jerusalem terror attack: Shooter turns himself over to Israel Police. URL: https://www.jpost.com/breaking-news/article-714649.

4 Vgl. Der Standard: Terroranschlag in Wien. Ein Überblick. URL: https://www.derstandard.at/story/2000121392028/terroranschlag-in-wien-ein-ueberblick.

5 Vgl. z.B. The Jerusalem Post: Israelis, stop going to Ramallah, it’s dangerous. URL: https://www.jpost.com/opinion/article-699262.

6 Vgl. hierzu etwa: The Jerusalem Post: Palestinians distribute sweets after terrorist attack in Ariel. URL: https://www.jpost.com/arab-israeli-conflict/palestinians-distribute-sweets-after-terrorist-attack-in-ariel-report-583732 (das Feiern von Anschlägen mit Feuerwerkskörpern und Süßigkeiten für die Kinder war keine Seltenheit und konnte ich vor Ort des Öfteren miterleben); The Guardian: Israelis gather on hillsides to watch and cheer as military drops bombs on Gaza. URL: https://www.theguardian.com/world/2014/jul/20/israelis-cheer-gaza-bombing.

7 Vgl. Deutschlandfunk: Wie die Siedlerbewegung ins Zentrum von Israels Politik rückte. URL: https://www.deutschlandfunk.de/israel-westjordanland-siedlungspolitik-100.html.

8 Vgl. tagesschau: Gideon Levy, Tageszeitung „Haaretz“, über Israels polarisierte Öffentlichkeit und die Misere der Palästinenser. URL: https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/video-1269928.html.

9 Vgl. z.B. The Guardian: Academic claims Israeli school textbooks contain bias. URL: https://www.theguardian.com/world/2011/aug/07/israeli-school-racism-claim.

10 Vgl. z.B. Übermedien: Wie die „Welt“ Prominente vorführt, weil sie ihr kein „Statement gegen den Judenhass“ schicken. URL: https://uebermedien.de/89231/wie-die-welt-prominente-vorfuehrt-weil-sie-ihr-kein-statement-gegen-den-judenhass-schicken/.

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michael hlavka

studiert(e) Religionspädagogik und Katholische Fachtheologie in Klagenfurt, Jerusalem und Wien und arbeitet aktuell als prae-doc Universitätsassistent am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien, wo er im Fachbereich Pastoraltheologie und Kerygmatik promoviert.

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