CN: In diesem Beitrag werden sensible Themen besprochen, die die Erfahrung von Missbrauch betreffen.

Drei Jahre nachdem 23 Frauen Berichte von sexuellem und spirituellem Missbrauch in „Erzählen als Widerstand“ veröffentlicht haben, gibt es nun seit Oktober 2023 ein Online-Tutorial auf der Seite missbrauchsmuster.de, das sich dem Thema widmet. Für y-nachten.de hat Claudia Danzer nachgefragt, was es mit diesem Tutorial auf sich hat.

y-nachten: Zu Beginn: Kannst du für unsere Leser*innen einen Einblick in die Geschichte hinter dem Online-Tutorial „Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche“ geben?

Magdalena Hürten: Die Idee hinter dem Tutorial, das aus einer Kooperation zwischen der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik der Universität Regensburg und dem KDFB entstand, war eine Lücke in bestehenden Präventionsschulungen zu schließen. Diese thematisieren in der Regel nur sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und Schutzbefohlenen. Der Handlungstext des Synodalforums III „Maßnahmen gegen Missbrauch an Frauen in der Kirche“ fordert Schulungsprogramme zum Thema Missbrauch an Erwachsenen – das holt das Tutorial nun ein. Es ist eine wichtige Ergänzung zu den guten, bereits implementierten Schulungen und vermittelt Wissen zu Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche auf einer niedrigschwelligen Ebene. Daher auch das Format des kostenfreien Online-Tutorials.

y-nachten: Es ist immer noch wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bei Gewalt gegen Frauen keine „Opferstereotypen“ gibt. Welche zentralen Missbrauchsmuster konntet ihr in der Forschung identifizieren?

Magdalena Hürten: So ist es. Es gibt keine bestimmten Eigenschaften oder Vorerfahrungen, die eine Person für Missbrauch prädisponieren. Zugleich muss man auch sagen, dass es keine Stereotype in Bezug auf die Täter*innen gibt. So verüben etwa auch Frauen Missbrauch, eher konservativ ausgerichtete Personen genauso wie eher liberale. Die Muster, die wir erkennen, liegen im Handeln der Täter*innen und den zugrundeliegenden Strukturen. Wenn man Betroffenenberichte liest, scheint es manchmal eine Art verstecktes Skript zu geben, das die verschiedenen Fälle durchzieht. Zum Beispiel besteht eine häufige Taktik der Tatanbahnung darin, das Urteilsvermögen der Betroffenen zu manipulieren, indem der Täter ihr immer wieder suggeriert, er wisse besser als sie selbst, was gut für sie ist, zum Teil auch spirituell aufgeladen, indem er die Taten als „Willen Gottes“ oder als Heilungshandeln maskiert. Versteckte Muster zeigen sich aber auch im Nachgang des Missbrauchs, wenn Betroffene darüber berichten. Viele der Betroffenen werden dann erneut verletzt, weil ihr Gegenüber ihnen nicht glaubt oder ihre Aussagen als „nicht plausibel“ abwertet. Die Reaktionen sind durch geschlechtsspezifische Vorurteile geprägt. So wird Frauen häufig unterstellt, hysterisch zu sein, zu übertreiben oder aus Rache bzw. Geldgier zu handeln. In anderen Fällen lastet man den betroffenen Frauen die Schuld für die Taten an, weil sie den Täter verführt hätten, man deutet die Vorfälle als eine „Affäre“ oder wirft den Betroffenen vor, nicht „Nein“ gesagt zu haben. Gerade auch mit solchen Vorurteilen und Mythen wollen wir im Tutorial aufräumen.

y-nachten: Welchen Ansatz verfolgt ihr in eurem Projekt zur Gewalt gegen Frauen in der römisch-katholischen Kirche? Was ist euch wichtig?

Magdalena Hürten: In unseren Forschungsprojekten ist uns besonders wichtig, eng mit Betroffenen zusammenzuarbeiten und von ihnen zu lernen. Wenn Betroffene nicht den Mut gehabt hätten, von dem Unrecht zu berichten, das sie erlebt haben, wären wir in der Forschung heute nicht da, wo wir sind. So schwerwiegend die Erfahrungen sind, die sie machen mussten, sie haben dadurch ein besonderes Wissen über Missbrauch, das essenziell ist, um die Zusammenhänge zu verstehen und die Aufarbeitung, Intervention und Prävention zu verbessern.

Wichtig ist uns zudem ein gendertheoretischer Ansatz, der die besonderen Machtverhältnisse berücksichtigt, die durch traditionelle Geschlechterbilder entstehen. Uns geht es darum, die spezifischen Erfahrungen von Frauen sichtbar zu machen und zugleich die zugrundeliegenden Geschlechterstereotype zu kritisieren.

y-nachten: Wie finden über die Gruppe von Frauen hinaus allgemeiner die Erfahrungen von FLINTA-Personen Raum in eurer Forschung?

Magdalena Hürten: Ich verstehe den aktuellen Fokus auf erwachsene Frauen, den wir in unserer Forschung haben und der auch dem Tutorial zugrunde liegt, als einen Anfang, um die bisherige Perspektive in der Missbrauchsforschung auch auf erwachsene Personen im Allgemeinen auszweiten. Nimmt man die gendertheoretische Perspektive ernst, muss man natürlich auch auf die Auswirkungen auf lesbische und asexuelle Personen sowie auf trans*, inter* und nicht-binäre Personen eingehen. Initiativen wie #OutInChurch sind hier ein wichtiger erster Schritt, um die Erfahrungen dieser Gruppen sichtbar zu machen. Mit unterschiedlichen Betroffenengruppen können dann auch weitere Formen des Missbrauchs in den Blick kommen. Schon der Blick auf erwachsene Frauen zeigt uns, dass unsere Perspektive auf Missbrauch in der katholischen Kirche an vielen Stellen zu eng ist und wir dringend auf die Berichte der Betroffenen hören müssen, um das Ausmaß des Unrechts besser begreifen zu können.

y-nachten: Welche Zielgruppe habt ihr für euer Tutorial ausgewählt und wie erreicht ihr sie?

Magdalena Hürten: Kurz zusammengefasst richtet sich das Tutorial an alle kirchlichen Mitarbeiter*innen und solche, die es werden wollen, an religiöse (Frauen-)Gemeinschaften, an Präventionsbeauftragte und an alle Interessierten darüber hinaus. Letztendlich hatten wir bei der Erstellung des Tutorials vor allem Personen im Auge, die in ihrer ehren- oder hauptamtlichen Praxis Kontakt zu Betroffenen haben könnten. Unser Ziel ist es, mit dem Tutorial für Missbrauch an erwachsene Frauen zu sensibilisieren, auf Risikofaktoren hinzuweisen und die Teilnehmer*innen zu kompetenten Ansprechpartner*innen zu machen. Wir können die Teilnehmer*innen natürlich nicht zu professionellen Berater*innen ausbilden, das kann kein Online-Tutorial leisten. Unser Ziel ist es vielmehr, dass Personen im kirchlichen Raum ein Bewusstsein dafür haben, dass auch Erwachsene Missbrauch erfahren können, dass sie Berichte über Missbrauch ernst nehmen, wenn sie damit konfrontiert werden, sensibel für die Bedürfnisse Betroffener sind und sie ggf. darin unterstützen können, weitere Hilfe zu finden.

y-nachten: Die Inhalte sind für ein breites Spektrum an Personen aufbereitet. Gibt es neben dem großen informativen Teilen auch konkrete Hilfen oder Tipps für die Praxis?

Magdalena Hürten: Im Modul „Handeln“ gehen wir darauf ein, wir können allerdings keine Schritt-für-Schritt-Anleitungen geben, wie man die Kirche zu einem sicheren Raum macht. Das wäre utopisch. Aber wir geben Hinweise, wie der eigene Arbeitskontext und das eigene Handeln auf Risikofaktoren hin überprüft werden können und bieten Tipps für die Begleitung von Betroffenen. Zudem weisen wir auf viele bereits bestehende und gut ausgearbeitete Arbeitshilfen hin.

y-nachten: Welche Maßnahmen gegen Gewalt an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche sind deiner Meinung nach dringend notwendig?

Magdalena Hürten: Ich halte es für enorm wichtig, dass Missbrauch an erwachsenen Frauen umfassend anerkannt wird und dass sich dies auch in der Rechtsprechung widerspiegelt. Mit Blick auf die rechtliche Situation in Deutschland ist die Aufnahme von Missbrauch in Seelsorgeverhältnissen in den § 174c StGB anzustreben. Auch die katholische Kirche sollte die Abhängigkeitsverhältnisse, die konsensuelle Beziehungen in Seelsorgeverhältnissen ausschließen, umfassend anerkennen, wie es die deutschen Bischöfe in „In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirchebereits getan haben. Zudem ist eine Einordnung von sexuellem Missbrauch an Erwachsenen als Verletzung des Selbstbestimmungsrechts notwendig.

#missbrauchsmuster


(Beitragsbild @missbrauchsmuster.de)

Anlaufstellen für Betroffene sind umfänglich auf der Seite missbrauchsmuster.de verlinkt und beschrieben.

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Magdalena Hürten

hat katholische Theologie und Political and Social Studies in Münster, Würzburg und Leuven studiert, arbeitet seit 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik der Universität Regensburg und war dabei maßgeblich an der Entwicklung des Tutorials beteiligt.

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