Was ist und wie gelingt politischer Religionsunterricht? Rebecca Hedenkamp hat für uns einen Blick in die jüngst erschienene Dissertation von Jan-Hendrik Herbst geworfen.

Wie politisch darf Religionsunterricht (heute) sein, ohne dabei die Theologie aus den Augen zu verlieren?

Diese Frage nach Verbindungen von politischer und religiöser Bildung stellt seit Jahrzehnten einen wichtigen Aspekt der religionspädagogischen Forschung dar. Besonders in den letzten Jahren jedoch nimmt die konkrete Beschäftigung mit der politischen Dimension innerhalb von Religionsunterricht deutlich Fahrt auf. Innerhalb dieses „Aufbruchs“1 verortet sich auch die 2022 an der Ruhr-Universität Bochum eingereichte und im Brill Schöningh Verlag veröffentlichte Dissertationsschrift des katholischen Theologen und Religionspädagogen Jan-Hendrik Herbst. Unter kritisch-reflektiertem Rückgriff auf die politisch-religionspädagogischen Reformansätze der 1960er und 70er Jahre und die aus ihr entsprungene Problemorientierung legt Herbst neue konzeptionelle Grundlinien und exemplarische Konkretisierungen für einen politischen Religionsunterricht vor. Seine konkrete Forschungsfrage lautet:

Welche konzeptionellen Leitlinien und -vorstellungen, didaktischen Gründe und konkreten Praxisorientierungen lassen sich für einen politischen Religionsunterricht auf der Höhe der Zeit anführen, wenn sowohl die Probleme, Defizite und Aporien als auch die Potenziale und Perspektive der politisch orientierten Konzeptionen der religionspädagogischen Reformdekade um 1968 im Spiegel der gegenwärtigen Debatte um eine neue politische Religionspädagogik angemessen beachtet werden?2

Was meint „politischer Religionsunterricht“ eigentlich?

Den „Auftakt“ bildet das Herantasten an Begriffe wie „Religion“, „Politik“ und „Bildung“; Herbst lotet zu Beginn seiner Dissertation vor allem die großen Dinge aus, um in der Beantwortung seiner Fragestellung arbeitsfähig zu werden. Auch macht er deutlich, wie er sich zur unumgänglichen Verstrickung von politikdidaktischen und religionspädagogischen Strängen verhalten möchte, ohne dabei eine Verwischung der beiden Didaktiken innewohnenden Eigenheiten vorzunehmen.

Innerhalb dieses ersten Teils formuliert Herbst auch die methodologische Ausrichtung, indem er die These aufstellt, „dass ein politischer Religionsunterricht auf der Basis der hier profilierten Religionspädagogik herrschaftskritisch, theopolitisch und messianisch ist.“3. Anschließend kreist die Arbeit um diese These, indem sie an manchen Stellen konkret aufgegriffen und mit Forschungsergebnissen belegt wird und an anderen lediglich vage anklingt.

Politischer Religionsunterricht im Laufe der Jahrzehnte

Im zweiten Teil der Arbeit („Bruchlinien der Gegenwart“) beginnt Herbst nun die politische Phase der Religionspädagogik anhand der Zäsur 1968 aufzufächern und macht deutlich, dass diese bis heute ganz gegensätzlich (sowohl als „negative Kontrastfolie“ als auch als „positive Ausgangsbasis“ oder „ambivalenter Abgrenzungspunkt“4) rezipiert wird. Anhand der unterschiedlichen Wahrnehmungen schärft der Autor nun auch die unterschiedlichen politischen Zugänge und das daran anknüpfende Verhältnis zur Religion. Diese erste Verhältnisbestimmung gipfelt in der konkreten Formulierung dreier Herausforderungen für einen politischen Religionsunterricht, welche im Folgenden im Zentrum stehen. Diese lauten:

Inwiefern reproduziert der Religionsunterricht gesellschaftspolitische Herrschaftsverhältnisse?

Inwiefern kann das Politische eine durchgängige Grundperspektive religiöser Bildung darstellen?

Inwiefern sollte Religionsunterricht politisch positioniert und wirksam sein? (später konkretisiert: […] politisch positioniert und es anstreben, gesellschaftspolitische Verhältnisse zu verändern?)

Unter „Bezugspunkte der Vergangenheit“ werden dann vor allem „Lernmöglichkeiten hinsichtlich der drei […] formulierten Herausforderungen herauspräpariert“5. So erarbeitet der Verfasser vor der Folie der Politisierung des Religionsunterrichts in den 60er und 70er Jahren neue Impulse, indem er ihre Chancen erkennt und zugleich ihre Grenzen auslotet. Dies geschieht exemplarisch an den formulierten Herausforderungen, die auch im nächsten Teil unter dem Titel „Fluchtlinien in die Zukunft“ im Fokus stehen. Hier geht es Herbst vor allem darum, unterschiedliche Modelle für das Politische im Religionsunterricht zu etablieren. Herbst plädiert außerdem für eine Didaktik der Unterbrechung und eine Förderung der Subjektorientierung, um personale Überwältigung zu verhindern. So ist die Positionalität im Religionsunterricht zwar gewünscht, jedoch unbedingt multiperspektivisch anzulegen und „problemhaltig [zu präsentieren].“6

Wie gelingt politischer Religionsunterricht in der Praxis?

Die anschließende „Konkretisierung für die Unterrichtspraxis“ bezieht die vorher herausgearbeiteten Modelle nun auf exemplarische Fälle und Themen im Religionsunterricht. Dieser Teil wirkt wie ein Extra, eine Verschnaufpause nach dem starken theoretischen Fundament. Dadurch bekommen diese Konkretisierungen auch eine Eigendynamik, welche im Gegenüber der anderen Teile auffällt. Es wird ein bisschen wuselig zwischen der Analyse aktueller Fällen wie Fridays for Future, dem politischen Wert von Paulus (welcher auch schon in der Reformdekade diskutiert wurde) und einer möglichen Reaktion bzw. der Einflechtung von stark politisierten Schüler:innenäußerungen im Unterricht. Die gewählten Themen sind gut und fügen sich nahtlos in die vorangegangenen Modelle und Überlegungen zum Politischen im Religionsunterricht ein, dies zeigt noch einmal, wie stark der von Herbst gewählte Ansatz ist. Wünschenswert wäre an dieser Stelle jedoch ebenso die Reflexion von mehr konflikthaften Fällen gewesen, um deutlich zu machen, an welche Grenzen ein politischer Religionsunterricht stoßen kann.

Warum diese Dissertation ein Must-read ist

Es ist noch einmal zu betonen, wie relevant die vorliegende Arbeit ist; Jan-Hendrik Herbst setzt mit seiner Neujustierung von politischer Religionspädagogik Maßstäbe. Auch schafft er es, trotz des deutlich katholischen Schwerpunktes, konfessionsübergreifende Impulse zu geben, die auch für den evangelischen bzw. überkonfessionellen Religionsunterricht fruchtbar gemacht werden können.

Ebenfalls hervorzuheben ist die hervorragende Lektürearbeit und vor allem der weitgreifende Blick in die Arbeit seiner Vorgänger:innen, was sich nicht nur im Vorwort, sondern auch im umfassenden Literaturverzeichnis zeigt. Die Dissertationsschrift kann deshalb allen angehenden Religionslehrkräften empfohlen werden, die sich nicht nur mit dem Politischen im Religionsunterricht, sondern auch mit der Relevanz von Religion für die politische Bildung von Schüler:innen vertraut machen möchten.

Herbst, Jan-Hendrik: Die politische Dimension des Religionsunterrichts. Religionspädagogische Reflexionen, interdisziplinäre Impulse und praktische Perspektiven. Schöningh, 2022 (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 31).

(c) Schöningh, 2022.
(c) Schöningh, 2022.

Hashtag der Woche: #religionsunterricht


Beitragsbild: Kimberly Farmer / unsplash.com

1 Jan-Hendrik Herbst, Die politische Dimension des Religionsunterrichts. Religionspädagogische Reflexionen, interdisziplinäre Impulse und praktische Perspektiven (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft 31), Paderborn 2022, 5.

2 Ebd., 17.

3 Ebd., 71.

4 Ebd., 79.

5 Ebd., 295.

6 Ebd., 395.

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rebecca hedenkamp

arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Uni Oldenburg. Ihr Promotionsprojekt beschäftigt sich mit erinnerungskulturellen Diskursen nach der Shoah und ihrer Darstellung im Religionsschulbuch.

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