Das evangelische Gesangbuch ist ebenso Glaubens- wie Geschichtskompendium. Wie schwierig diese Doppelfunktion zu balancieren ist, wird insbesondere am Umgang mit misogynen, rassistischen und antisemitischen Elementen im Gesang deutlich. Die Kritik aus der Glaubensgemeinschaft, aber auch breiteren Öffentlichkeit an gewissen Liedtexten führte dazu, dass bereits 2020 eine Gesangbuchkommission zur Überarbeitung von der EKD berufen wurde. Das geschlechtergerecht redigierte Gesangbuch soll 2025 in die Erprobung gehen. Doch wie transparent ist der Redigaturprozess und wie soll bzw. kann das Ergebnis dieses Prozesses überhaupt aussehen? Ein Kommentar von Laura Brauer

Der Protestantismus ist eine, bereits in seiner Genese, singende Gemeinschaft. Angefangen bei der ausgeprägten Musikliebe Luthers, die ihm den Namen „Wittenbergische Nachtigall“ einbrachte, war die Reformation nicht zuletzt auch eine vulgar-sprachlich klingende Medienrevolution. Die Durchdringung des Glaubens über die Musikalität als performativem, gemeinschaftsstiftendem Akt schlug sich gleichsam im Wittenberger Liederbuch von 1529 nieder. Bis heute bilden die Formen geistlich-weltlicher Musikalität ein bedeutendes Erbe des Protestantismus, das prägenden Einfluss auf die westliche Kultur entfaltet. In der Handreichung der EKD „Kirche klingt“1 liest sich die Herleitung der musikalischen Tradition dann so:

„Von Martin Luther über Paul Gerhardt bis zu Rolf Schweizer und Fritz Baltruweit, Jürgen Henkys und Klaus-Peter Hertzsch reicht das Spektrum derjenigen, die der Gemeinde Lieder für Gottesdienst und Gemeindeleben geschenkt haben. Die evangelische Kantorei ist seit Jahrhunderten ein Erfolgsmodell christlicher Kulturarbeit […], das weltweit nahezu einzigartig ist.“

Ein Kulturerbe, mit dem man sich nicht nur schmückt, sondern auf dessen Kontinuitäten sich die EKD sogar explizit beruft. Doch wie steht es um die Auseinandersetzung mit den problematischen Strukturen, die in der Überzeitlichkeit dieses musikalischen Erbes gegenwärtig wirken? In der zitierten Handreichung erstreckt sich das dort angesprochene Spektrum derjenigen, ja genau, auf Männer und auf aus männlicher Erfahrungswelt und patriarchaler Logik geschriebene und komponierte Lieder. Wie wird also mit den vielfältigen Unrechts-Dimensionen der geschlechtlichen Asymmetrie im gegenwärtigen Überarbeitungsprozess des evangelischen Gesangbuches umgegangen?

Genese des aktuellen EG

1996 wurde das erste gemeinsame Evangelische Kirchengesangbuch (EKG) deutscher Kirchgemeinden von dem Evangelischen Gesangbuch (EG) abgelöst. 2017 wurde dann im Kontext der Perikopenneuordnung der Lutherbibel die Überarbeitung des EG beschlossen. Offiziell begründet wird die Überarbeitungsbedürftigkeit auf der Website der EKD wie folgt:

„Aktueller Anlass für ein neues Gesangbuch sind liturgische Veränderungen, viele neue Gottesdienstformen und die vielen technischen Möglichkeiten, an die auch in den 90ern noch keiner denken konnte.“

Kein Wort über vorausgegangene Kontroversen über Misogynie, Antisemitismus und Fremdenhass. Dabei geriet die evangelische Kirche in dieser Frage nicht nur innergemeindlich (etwa durch die Initiative der queer-community) unter Druck. Auch die mediale Berichterstattung griff die fragwürdigen NS-Biografien von Kirchliedtextern wie Hermann Claudius (1878-1980) auf.2 Die 2020 in einem geschlossenen Verfahren vom Rat der EKD berufene Gesangbuchkommission scheint auf den ersten Blick divers aufgestellt: verschiedene Bildungshintergründe, Alter, institutionelle, lokale Verankerungen, allerdings keine (offizielle) Vertreter*in aus der queer-community. Bisher gibt es kaum Möglichkeiten als interessierte Öffentlichkeit am Redigaturprozess mitzuwirken bzw. Auskunft über Zwischenergebnisse zu bekommen.

Dilemma patriarchale Struktur

In der Verbindung von Melodie und Botschaft liegen mächtige Instrumente. Evangelische Kirchenmusik nimmt – nach dem auf der EKD-Website starkgemachtem Selbstverständnis – einen, in die gesellschaftliche Mitte hineinreichenden Bildungsauftrag wahr, indem sie elementare Hör- und Ausdrucksfähigkeit schult, nimmt sie zugleich in Anspruch die Hör- und Ausdrucksfähigkeit füreinander zu sensibilisieren. Es ist ein Anspruch, der unmittelbar mit der Verantwortung einhergehen muss, keine Diskriminierungsmechanismen zu reproduzieren. Dabei dürfte allerdings die Gleichzeitigkeit von Tradition und Innovation in der Musik als innerem Konflikt und grundlegendem Problem vielen Gläubigen bekannt sein. Insbesondere für die queer-community könnte die musikalische Rahmung des Gottesdiensts kaum ambivalenter sein: An Beispielen binärer Markierung und geschlechtlicher Hierarchisierung mangelt es im evangelischen Gesangbuch wirklich nicht. Ich beschränke mich hier aus Platzgründen auf drei prägnante, weithin bekannte Lieder:

Beispiel 1

Ihn, ihn lass tun und walten, er ist ein weiser Fürst und wird sich so verhalten, dass du dich wundern wirst, wenn er, wie ihm gebühret, mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat.“ 

„[…] bist du doch nicht Regente, der alles führen soll, Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.“ – Liednummer 361, „Befiehl du deine Wege“

Am Beispiel des Lieds „Befiehl du deine Wege“ wird die ausgeprägte männliche Markierung deutlich. Nicht nur, dass Geschlechtlichkeit, nämlich „das Männliche“, hierdurch hervorgehoben wird; binär codierte „Vergeschlechtlichung“ opprimiert gleichsam eine Repräsentation von Anders- oder Nichtgeschlechtlichkeit. Die Identifikation mit dem Gesungen ist nicht egalitär und öffnet in der „Grundstimmung“ keinen übergeschlechtlichen Raum. Auch, wenn dieses angesprochene „DU“ kein Geschlecht hat, sind viele Lieder dieser Sprachart in meiner Wahrnehmung mehr ein exklusiv männliches Zwiegespräch. Dieser Eindruck dürfte sich auch auf die Omnipräsenz (politischer) Amtspositionen zurückführen lassen. Die historische Verbindung von Männlichkeit und Macht kann kaum besser als über Ämter nachvollzogen werden, da sich hierin die gesellschaftlich-hierarchisch Privilegierung – Geld, Recht, Bildung – niederschlagen.

Beispiel 2

„Sieh dein Volk in Gnaden an. Hilf uns, segne, Herr, dein Erbe; leit es auf der rechten Bahn, dass der Feind es nicht verderbe. Führe es durch diese Zeit, nimm es auf in Ewigkeit.“– Liednummer 331, „Großer Gott wir loben dich“

Am Beispiel dieses Lieds wird die Vorstellung von ererbter Beauftragung (aus Rechtsposition) portraitiert. Die Handlungs- und Wahrnehmungsräume von Frauen waren über Jahrhunderte auf Grundlage des Erbgedankens determiniert. Der Bruch mit der als „natürlich“ geltenden Ordnung ist eine moderne Errungenschaft. Hieran begründeten sich u.a. die Entfesselung der weiblichen wie auch queeren Selbstwirksamkeit und ihrem fortwährenden Prozess der Erkundung und Perpetuierung nicht-binärer Identitäten.

Beispiel 3

„»Kommt her zu mir«, spricht Gottes Sohn, »all die ihr seid beschweret nun, mit Sünden hart beladen, ihr Jungen, Alten, Frau und Mann, ich will euch geben, was ich hab, will heilen euren Schaden.“ – Liednummer 363, „Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn“

Angst ist ein altes, doch lange nicht aus unserer Gegenwart verbanntes Instrument der Repression und Gehorsamkeitssicherung. So ist auch die Erfahrung von Angst geschlechtlich gebunden und rückgekoppelt an ein binär gedachtes Geschlechtersystem; im Kontext explizit weiblicher (aber auch nonbinärer) Angsterfahrung mit Themen wie Reinheit, Emotionalität, Alterität usw. Es handelt sich bei diesen Wertekonstrukten um Unterdrückungssysteme, die auf männlicher Zuschreibung beruhen. Ein strafender Gott ist aus feministischer Perspektive eine (weltliche) Anmaßung, insbesondere für all jene Menschen, deren Unterdrückungserfahrungen auf historischer Kontinuität beruhen. Daher wurde zu Recht der strafende Gott aus der protestantischen Gegenwart weitestgehend verbannt.

Anhand dieser exemplarischen Ausführungen wird ein durchgreifendes Problem sichtbar: die patriarchalen Strukturen in den Texten. Binarität, Hegemonie und patrimoniale (Familien-)Struktur sind der historischen Lebensrealität des antiken Christentums nachgebildet. Gott wird durch sein (männlich konnotiertes) Wirken in der Welt doch irgendwie körperlich-materiell an die bekannte Gesellschaftsstruktur zurückgebunden. Entscheidungs- und Verfügungsgewalt, Macht aus unbegreiflicher Stärke und Führung als Naturgesetz: als würde Gott die gelebte Gesellschaft um einen „übermenschlichen Vater“ erweitern. Und mit dieser (zugegeben komplexitätsreduzierten) Interpretation ist mensch bereits knietief in gegenwärtig erbittert geführten Auseinandersetzungen zwischen einer konservativ-traditionalistischen Dogmatik und feministischer Hermeneutik. Das Strukturelle tangiert zwangsläufig grundfeste Formeln wie das Apostolikum und Vater Unser; insbesondere, wenn die in der EKD-Handreichung „Kirche klingt“ behauptete Gleichwertigkeit von gesprochenem und gesungenem Wort ernstgenommen wird. Die Ergebnisse der Überarbeitung des Gesangbuchs haben damit automatisch „eruptives Potential“.

Wie soll man eine Liedersammlung überarbeiten, die im Ganzen von patriarchalen Gedankenwelten gerahmt ist? Wie mit den strukturellen geschlechter- und fremdenfeindlichen Mechanismen, die in der Musik wirken, umgehen? Ich zitiere aus der Antwort einer EKD-Sprecherin auf diese Fragen:

„Das Thema Geschlechtergerechtigkeit spielt in vielfältiger Weise eine Rolle beim neuen Gesangbuch. Zum einen betrifft es die unmittelbare Lied- und Textauswahl. […] Von Umdichten bis Kommentarfunktionen im digitalen Bereich ist derzeit noch schlicht alles im Gespräch. […] Im Laufe der Erprobungsphase (2025) werden wir sicher auch Rückmeldungen dazu erbitten, ob die überlegten Darstellungsformen allgemein geeignet erscheinen.“

Man zeigt sich durchaus aufgeschlossen, nicht nur das (ältere) Liedergut von seiner sprachlichen Exklusivität zu bereinigen. Vielversprechend im Hinblick auf die diskursive Würdigung gesungener Texte scheint die angesprochene Kommentarfunktion. Es bleibt abzuwarten, wie (selbst-)kritisch und zugleich popkulturell zugewandt der künftige Austausch über den neuen Liederkanon gedacht wird.

Ein Kompromiss als offener Prozess

Meines Erachtens wird das Ergebnis zwangsläufig ein Kompromiss, der unbefriedigend und vor allem unabgeschlossen bleibt. Mit der gänzlichen Eliminierung von Liedern aus dem Gesangsbuch kommt man schnell in Bereiche, in denen über Geschichtsrevisionismus gesprochen werden muss. Die historisch gewachsene Tradition dieser singenden Gemeinschaft lässt sich eben auch nur vor dem Hintergrund von Frauen-, Fremden- und Judenfeindlichkeit erklären. Andererseits muss man sich genau überlegen, welche Lieder für die gegenwärtige Glaubenspraxis eine Rolle spielen sollten. Positiv gewendet: Die Kontextualisierung und der Austausch über Inhalte des Gesangbuchs können aktiv zur Dekonstruktion von Geschlechterdichotomien eingesetzt werden. Mit der Revision in der Vergangenheit hervorgebrachter und tradierter Kulturgüter werden Traditionsadaptionen sowie Kontinuitäten verschleiert und der fortwährende Aushandlungsprozess seiner Grundlage beraubt. In der Gegenwart sollten dabei insbesondere die „Layer“ vorausgegangener Überarbeitungen – wie etwa die „Entjudung“ des Deutschen Evangelischen Gesangbuchs durch Alttestamentler wie Wilhelm Caspari –  nicht außer Acht geraten. Ausschlaggebend ist, dass dieser Aushandlungsprozess transparent geführt wird und nicht exklusiv werden darf. Damit dieses unbeweglich anmutende Konstrukt „freiheitlich demokratische Grundordnung“ nicht eine Worthülse bleibt, müssen wir sie mit Leben füllen; durch Wort und Tat und auch: Gesang.

Hashtag der Woche: #polyphon


Beitragsbild: @Kazuo ota auf Unsplash.com

1 https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/ekd_texte_99.pdf sowie https://www.ekd.de/pm63_2009_ekd_text99_kirche_klingt.htm

2 u.a. online abrufbar auf den Websites vom Tagesspiegel, Deutschlandfunk sowie evangelisch.de

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laura brauer

lebt und arbeitet seit nunmehr sechs Jahren in Berlin. Sie studiert Geschichte im Master an der Humboldt-Universität und schreibt für die Jüdische Allgemeine.

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