Homosexualität war in der DDR tabuisiert, dennoch gründete sich unter dem Dach der Evangelischen Studierendengemeinde Leipzig ein Arbeitskreis von und für homosexuelle Menschen. Wer kam in den Arbeitskreis? Wie reagierte die Landeskirche darauf? Und was hielt der Staat eigentlich davon? Lea Salchert berichtet.

Eine Initiative in Gründung      
April 1994. Ein Hauch von Frühling liegt in der Luft. Melancholische Augen schauen ihr Gegenüber unter buschigen Augenbrauen hervor an. Ein paar Minuten später: „Wenn mir das nur zehn Jahre früher eingefallen wäre, dass ich sagen muss, dass ich schwul bin!“

Der Mann, der hier spricht, ist Eduard Stapel. Er hat das Unrechtsregime der DDR hautnah miterlebt, in ihm gelitten, aber auch gekämpft. 1990 hat er den Vorgänger des Lesben- Schwulenverbandes Deutschland mitbegründet. Und er war Teil einer Bewegung, von der heute vielen nur noch die ‚Schwester‘ aus der BRD bekannt ist: Zusammen mit vielen anderen Männern und Frauen engagierte er sich in der Homosexuellenbewegung der DDR.

Rückblick: Im Herbst 1981 gründet sich in Leipzig eine „informelle Schwulengruppe“. Hier sprechen einige Männer über ihre Homosexualität und erfahrene Diskriminierung – darunter Eduard Stapel, damals Theologiestudent an der Universität Leipzig. Doch dabei soll es nicht bleiben. Im Januar 1982 besucht die Gruppe eine Tagung der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg zum Thema „Homosexualität als Frage an Theologie und Gemeinde“. Damit ist der Impuls gesetzt, an die Öffentlichkeit zu treten. Aber wie?

Homosexualität – war da was?
Wer in der DDR der beginnenden 80er Jahre homosexuell ist, lebt unter völligem Tabu. Heterosexualität gilt als ‚natürlicher‘ Ausdruck von Sexualität, alles, was davon abweicht, hat nicht zu existieren. Auch die Gesetzeslage ist und bleibt repressiv, trotz Abschaffung des aus der Kaiserzeit stammenden „Schwulenparagraphen“ §175 im Jahr 1968.
Es ist nicht verwunderlich, dass viele homosexuelle Männer und Frauen unter dieser Sexualmoral leiden. Doch einzelne Versuche, das Tabu bereits in den 1970ern zu durchbrechen, scheitern am staatlichen Verbot. In den 80ern bietet dann die Evangelische Kirche der DDR eine Ausflucht: Die in der Verfassung festgelegte Trennung von Staat und Kirche ermöglicht es oppositionell gestimmten DDR-Bürger*innen, Probleme um Frieden, Umwelt, Menschenrechte, Gleichberechtigung oder Minderheiten zur Sprache zu bringen. Und auch für die Leipziger Selbsthilfegruppe soll die Kirche zum Forum werden: Nach anfänglichen Schwierigkeiten, eine Gemeinde zu finden, stößt die Gruppe unter Studierenden auf Anklang. Noch im April 1982 findet unter dem Thema „Tabu Homosexualität – Wie gehen wir damit um?“ die Eröffnungsveranstaltung des Arbeitskreises Homosexualität (HAK) der Evangelischen Studentengemeinde Leipzig statt.

Einen bei der Institution Kirche angesiedelten Arbeitskreis für homosexuelle Menschen – das hat es zuvor noch nicht gegeben.

„Schwule Volkshochschule“
Oberstes Ziel des HAK ist es, zur „Bildung eines homosexuellen Bewußtseins“ beizutragen. Er bietet Gesprächsmöglichkeiten für Homosexuelle als auch Nicht-Homosexuelle; will Ort der seelsorgerlichen Hilfe, aber auch Forum für Partner*innensuche und Geselligkeiten sein. Alle zwei Wochen halten Sexualwissenschaftler Vorträge, lesen Schriftsteller aus ihren Werken oder werden theologische Themen um die Homosexualität besprochen.
Außerdem bilden sich bald Kleingruppen, in denen z.B. Sport getrieben oder Kabarett gespielt wird. Im Februar 1984 entsteht sogar eine Lesbengruppe. Die Frauen verfolgen hier ein anderen Ziel als die Männer der Kreises und wollen die „eigene Auseinandersetzung mit dem Lesbisch-sein auf ein wirklich notwendiges Maß“ abbauen um „der Umwelt begreiflich […] machen, daß wir Frauen wie alle anderen Frauen sind.“ Aus Mangel an Beteiligung löst sich die Gruppe aber bald wieder auf. Erst 1989 wird lesbisches Engagement in Leipzig – mit dem Verein „Lila Pause“, der aus dem Arbeitskreis hervorgeht – wieder sichtbar.

Aus dem Lutherjubiläum entwächst ein Netzwerk
Schon früh tritt der Arbeitskreis an die Öffentlichkeit. Die DDR-Kirchentage im Jahr 1983 bieten sich als Forum an: Während Luthers 500. Geburtstag begangen wird, treten Mitglieder des Arbeitskreises u.a. in Eisleben, Erfurt und Magdeburg auf dem „Markt der Möglichkeiten“ mit einem Informationsstand auf. Inspiriert durch die Leipziger Gruppe bilden sich bald auch in anderen Städten Homosexuellenarbeitskreise. Gründungsmitglied Eduard Stapel hält später fest, dass zum Ende der DDR in fast allen großen Städten der DDR ein Homosexuellenarbeitskreis existiert. Aber nicht nur das: Die Kreise halten auch untereinander regen Kontakt. Ab April 1984 treffen sich Vertreter*innen aller Kreise regelmäßig, um sich auszutauschen, Problemfragen und Sachthemen zu besprechen – die ostdeutsche Homosexuellenbewegung ist geboren. Landesweite Organisation, Strukturen und ‚Funktionäre‘ prägen sie.

Ringen mit der Sächsischen Landeskirche
Bisher hat der*die Leser*in die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens (EVLKS) der DDR als Schutzraum für homosexuelle Menschen kennengelernt. Tatsächlich aber ringt die Kirchenleitungsebene der EVLKS lange darum, ob man dem HAK diesen Raum tatsächlich gewähren sollte. Nachdem Bischof Hempel und das Landeskirchenamt von der Gründung des Arbeitskreises erfahren haben, fordern sie Informationen an – ein „Werkstattbericht“ entsteht. Der HAK erhebt darin u.a. Vorwürfe an die Evangelische Kirche, schreibt von „Homosexuellen-Feindlichkeit“ und fordert eine offene kirchliche Homosexuellenarbeit ein. Daraufhin folgt eine Phase der Annäherung: Im Frühjahr 1983 trifft sich erstmals eine Sonderarbeitsgruppe „Homosexualität und Kirche“ mit Vertretern des Arbeitskreises. Auch eine von der Kirchenleitung angeforderte Studie zum Thema tritt unumwoben „dafür ein, die unheilvolle Geschichte der Verurteilung und Verfolgung der Homosexuellen nicht länger fortzuschreiben“. Dann ein weiterer Lichtblick: In seinem Osterbrief 1984 übt Bischof Hempel Kritik an homophoben Äußerungen in seiner Kirche und bekundet persönlich seine Loyalität zu homosexuellen Mitgliedern der Gemeinschaft. Doch die Kirchenleitungsebene schweigt weiter – eine öffentliche Zustimmung erhält der HAK von ihr nie.

Schild und Schwert der Partei schlagen zu       
Auch die Überwachung der Gruppe durch den Staatsicherheitsdienst bleibt nicht aus: Der vermutet hinter dem HAK imperialistische Bestrebungen des „Klassenfeindes“ und produziert mehrere zehntausend Akten.

Inoffizielle Mitarbeiter bespitzeln ab 1984 im Operativen Vorgang „Bruder“ minutiös die „feindlich-negativen Personen“ des Arbeitskreises. So soll der HAK an der Umsetzung öffentlichkeitswirksamer Aktionen gehindert werden.

Gemessen an seinem eigenen Anspruch, das homosexuelle Engagement zu verhindern oder zu zerschlagen, scheitert das Ministerium für Staatssicherheit jedoch: Die Bewegung besteht weiter, wächst, kann an Profil gewinnen und sich organisieren.

Was bleibt?
Mit dem Zerfall der DDR wird der Schutzraum der Evangelischen Kirche für homosexuelle Menschen überflüssig – Anfang der 2000er löst sich der HAK dann endgültig auf. Dass er Keimzelle für die Homosexuellen-Bewegung der DDR war und wie Lesben und Schwule in jenem Staat für ihre Rechte eingestanden sind, weiß heute kaum noch jemand. Auch Öffentlichkeit und Geschichtsschreibung haben das vergessen: Eine große Monografie über das Engagement homosexueller Menschen in der DDR fehlt bis heute. Für viele Zeitzeug*innen und Beteiligte ist das bitter. Auch Eduard Stapel wird es nicht mehr miterleben, sollte der ostdeutschen Lesben- und Schwulenbewegung doch noch die Aufmerksamkeit zuteilwerden, die ihr gebührt: Er verstarb 2017 an Krebs.

Hashtag der Woche: #homosexualitätinderddr


Beitragsbild: Michał Franczak bei Unsplash

lea salchert

studierte in Leipzig Gymnasiallehramt für die Fächer Deutsch und Geschichte und schrieb 2022 ihre Staatsexamensarbeit zum Arbeitskreis Homosexualität der Evangelischen Studierendengemeinde Leipzig. Von 2020 bis 2022 war sie Archivbeauftragte der ESG Leipzig.

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