Am Dienstag jährt sich die Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils zum 60. Mal. Pünktlich zum Jubiläum blickt Fabian Brand auf die Eröffnungsansprache Gaudet Mater Ecclesia von Papst Johannes XXIII. und fragt, was diese für die Kirche auf dem Synodalen Weg bedeuten kann.
Es war am 11. Oktober 1962, als Papst Johannes XXIII. zusammen mit unzähligen Bischöfen aus der ganzen Weltkirche in den Petersdom einzog, der vom Gotteshaus zu einer Synodenaula umfunktioniert worden war. Es sollte der Auftakt für ein wegweisendes Konzil werden. Eigentlich, so erzählen es die Anekdoten, wollte der Papst zu Fuß hinter den Bischöfen herziehen und auf die sedia gestatoria, den barocken Tragesitz, verzichten. Jedoch mehrten sich die Stimmen im Umfeld des Pontifex, die ihm rieten, dass die Menschen doch den Papst sehen wollen. Immerhin trug Johannes dabei nur die bischöfliche Mitra auf dem Kopf. Die päpstliche Tiara hatte er schon zu diesem Anlass beiseitegelassen.
Von der Sänfte auf die Füße
Wegweisend war folglich nicht so sehr der Einzug in die Konzilsaula und dessen Inszenierung als vielmehr die Ansprache, die Johannes XXIII. zu diesem Anlass hielt. Sie beginnt mit den Worten Gaudet Mater Ecclesia, „heute freut sich die Kirche, unsere Mutter“1. Der Papst hat die im Original in italienischer Sprache geschriebene Rede selbst verfasst. Sie ist das ureigene Produkt seines Pontifikats. Der Privatsekretär von Johannes und spätere Erzbischof Loris F. Capovilla notiert hierzu:
„Die Ansprache vom 11. Oktober [1962] entstand Schritt für Schritt. Das beweist eine aufmerksame Lektüre der vielen Äußerungen des Papstes, seiner Briefe an die Familienangehörigen aus den Jahren 1959 bis 1962 (…).“2
Die Ansprache zur Konzilseröffnung zeigt, wie Johannes das Konzil verstanden hat und was sein Plan für dieses Konzil war.
Der Text von Gaudet Mater Ecclesia ist von einer Polarität durchzogen. Sie ist die Grammatik dieser Ansprache. Diese Polarität bringt zwei Größen miteinander ins Spiel, die zuvor in der Theologie wenig miteinander zu tun hatten. Weit gefasst geht es um die Polarität von intra und extra, enger gefasst um die Polarität von Leben und Lehre. Letzteres ist es auch, was der Papst mit dem Wort „pastoral“ begreift. Es muss das Ziel des Pastoralkonzils sein, so Johannes, von dieser Grammatik ganz und gar durchzogen zu werden. Will das Konzil wirklich pastoral sein, so muss es zum Ausdruck bringen, dass es fähig ist, diese Polarität durchzutragen und fruchtbar zu machen. Damit tut sich das Konzil in den ersten Wochen schwer. Es kreist zu sehr konzentrisch um einen Mittelpunkt. Erst als der Erzbischof von Mechelen, Leon-Joseph Kardinal Suenens, seinen Plan vorlegt, die Kirche in einer polaren Bestimmung ad intra und ad extra zu behandeln, stellt er das Konzil vom Kopf auf die Füße. In der Folge lehnen die Konzilsväter es auch ab, von der „ecclesia militans“ zu sprechen, wie es noch im ersten Schema von „De Ecclesia“, der späteren Kirchenkonstitution Lumen gentium, hieß. Vielmehr nötigt sie diese neue Konzilsgrammatik, die „Kirche in der Welt von heute“ zu denken.
Vom Sprung der Kirche in das Leben der Menschen
Für Johannes XXIII. ist das Konzil mehr als eine bloße Beschäftigungsmaßnahme, die in einer Sessio abgehandelt werden kann, wie die römischen Kurialen bei der Eröffnung des Konzils noch glaubten. Worum es dem Papst geht, markiert er in der Eröffnungsansprache eindeutig:
„Der springende Punkt für dieses Konzil ist es also nicht, den ein oder den andern der grundlegenden Glaubensartikel zu diskutieren (…). Es wird vorausgesetzt, dass all dies hier wohl bekannt und vertraut ist. Dafür braucht es kein Konzil.“3
Die Zeit ist vergeudet, wenn die Kirche im Konzil nur um sich selbst kreist. Betrachtet sich die Kirche ausschließlich ad intra, leugnet sie ihre Verantwortung für die Welt und die Menschen. Sie kann dann nicht pastoral sein. Vielmehr hebt der Papst hervor, dass die Geschichte „eine Lehrmeisterin des Lebens ist“4, dass die Kirche „mit den Menschen zusammen“ wirkt5, dass die Lehre der Kirche „den ganzen Menschen mit Leib und Seele“ betrifft6. Wer diese Polarität leugnet, stellt sich auf die Seite der „Unglückspropheten“7, die meinen, es sei damit getan, einfach die Lehre zu wiederholen, weil es so Tradition sei. Nachdrücklich markiert Johannes dagegen einen Ortswechsel der Kirche, den er mit der Metapher vom „Sprung nach vorn“ deutlich macht. Dieser soll
„zu je größerer Übereinstimmung mit dem authentischen Glaubensgut führen, indem es mit wissenschaftlichen Methoden erforscht und mit den sprachlichen Ausdrucksformen des modernen Denkens dargelegt wird. Denn eines ist die Substanz der tradierten Lehre (…); etwas anderes ist die Formulierung, in der sie dargelegt wird.“8
Hierzu braucht es ein „Lehramt von vorrangig pastoralem Charakter“9.
In seiner Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils macht Papst Johannes XXIII. deutlich, dass die Kirche in eine Spannung zur Welt gesetzt ist. Es gibt keine Kirche ohne die Menschen, die Kirche steht immer in einem Verhältnis zu ihrem Außen und muss sich damit auseinandersetzen. Aufgabe des Konzils ist es nicht, bloß eine Lehrmeinung zu reproduzieren. Es kommt durchwegs auf die Bezugnahme der Lehre auf das Leben der Menschen an: „Zunehmend sind die Menschen vom überragenden Wert der Würde der menschlichen Person überzeugt und dass sie mehr Beachtung und Engagement verdient.“10 Der springende Punkt des Konzils ist es, die Lehre in eine produktive Spannung zu diesem konkreten Leben der Menschen zu setzen. Das ist es, was für Johannes der Ausdruck pastoral meint: „Auf den Menschen, und zwar auf den Menschen in seinen konkreten Situationen bezogen, muss nicht nur das ‚Wirken‘, sondern auch das ‚Lehren‘ der Kirche sein, weil es überhaupt sinnlos ist, von Wahrheiten ‚an sich‘ (…) zu reden, wenn anders es ja auch keine Offenbarung ‚an sich‘, sondern nur eine Offenbarung ‚für uns Menschen‘ gibt (…).“11
Die Relevanz der Konzilseröffnungsansprache für die Kirche von heute
Gaudet Mater Ecclesia ist ein Text, der auch nach 60 Jahren noch eine Aktualität besitzt. Vielleicht ist er gerade in diesen bewegten Tagen für die Kirche in Deutschland wichtiger denn je. Denn Johannes XXIII. wusste: Ein aggiornamento der Kirche ohne den „Sprung nach vorn“ ist nicht möglich. Oder anders gesagt: Die Kirche kann nur ihrem Auftrag gerecht werden, wenn sie von der Gegenwart lernend immer auf den Menschen in seiner konkreten Situation bezogen ist. Denn es geht in der Kirche nicht um abstrakte Prinzipien oder raumzeitlose Lehren. Es geht um den Menschen. Es geht um „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1).
Das muss auch heute noch die Maßgabe sein, wenn auf dem synodalen Weg über Texte beraten und abgestimmt wird. Auch heute braucht es den Ortswechsel: Den Ortswechsel von einer starren Fixierung auf Lehre und Tradition mitten hinein in das Leben der Menschen in der Welt von heute. Wie fremd manchen Bischöfen diese Polarität aus Leben und Lehre ist, zeigt exemplarisch ein Interview mit dem Bamberger Weihbischof Herwig Gössl vom 27.09.2021:
„Wenn man davon ausgeht, dass die kirchliche Sexualmoral neu geschrieben werden muss auf der Grundlage dessen, was die Humanwissenschaften heute über Sexualität sagen, wird in meinen Augen eine ganz wichtige theologische Basis verlassen: der Blick auf Schrift und Tradition.“12
Das „Heute“ und die „Tradition“ werden von Gössl als Gegensatz empfunden, also als blanke Binarität, die eine Entscheidung für eine Seite generiert. Der Gedanke, dass die Geschichte eine Lehrmeisterin ist, wie Johannes XXIII. festhält, ist dem Bischof fremd. Leben und Lehre werden nicht in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Dementsprechend erkennt der Weihbischof „in dem, was die Mehrheit will, eine Aufweichung der Lehre“, Wenn dann noch Kardinal Kurt Koch meint, es gelte zwar, die Zeichen der Zeit wahrzunehmen, sie seien „aber nicht neue Offenbarungsquellen“13, bleibt die Frage, wie weit das Erbe von Johannes XXIII. noch bewahrt wird, der ausdrücklich auf die menschliche Geschichte als locus theologicus verweist.
Doch nur wenn beides, die Tradition und das Leben der Menschen von heute, zueinander in eine kreative Spannung gesetzt wird, kann die Kirche ihrem pastoralen Auftrag gerecht werden. Denn dann sind die Menschen mit ihrem Leben im Hier und Heute ein locus theologicus; ein Ort, dem sich der theologische Diskurs stellen muss, wenn er den Ortswechsel des Zweiten Vaticanums mittragen möchte.
Hashtag der Woche: #VaticanII
(Beitragsbild: Burkard Meyendriesch)
1 Kaufmann, Ludwig/Klein, Nikolaus: Ansprache Papst Johannes` XXIII. zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (11. Oktober 1962), in: Dies.: Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis, Fribourg/Brig 1990, 116-150, 116.
2 Kaufmann, Ludwig/Klein, Nikolaus: Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis, Fribourg/Brig 1990, 109f.
3 Kaufmann/Klein: Ansprache, 134f.
4 Kaufmann/Klein: Ansprache, 125.
5 Kaufmann/Klein: Ansprache, 126.
6 Kaufmann/Klein: Ansprache, 129.
7 Kaufmann/Klein: Ansprache, 126.
8 Kaufmann/Klein: Ansprache, 136.
9 Kaufmann/Klein: Ansprache, 136.
10 Kaufmann/Klein: Ansprache, 139.
11 Kaufmann/Klein: Johannes XXIII., 77.
12 https://erzbistum-bamberg.de/nachrichten/auch-die-minderheit-sollte-gehoer-finden/a2d8d948-8ba8-4029-8145-854a88ff388d?mode=detail (abgerufen am 14.09.2022).
13 https://www.die-tagespost.de/kirche/aktuell/die-wahrheit-macht-frei-nicht-die-freiheit-wahr-art-232532 (abgerufen am 06.10.2022).