Mit einer Pille alles von Menschen erzeugte Übel aus der Welt schaffen? Dominik Winter greift für uns tief in die Science-Fiction-Trickkiste und denkt über moralische und theologische Nebenwirkungen nach.
Wie wäre es, wenn wir in einer Welt leben könnten, in der es keine Verbrechen gibt, und das nicht aufgrund eines perfekt funktionierenden (und wahrscheinlich dystopischen) Strafverfolgungssystems, wie es bspw. im Film Minority Reportgezeigt wird, sondern weil tatsächlich alle Menschen moralisch sind und Verbrechen niemanden mehr in den Sinn kommen? Hinter solchen und ähnlichen Versprechen stecken Anhänger*innen der Idee des sogenannten Moral Enhancements. Dabei geht es um Überlegungen, wie wir unser Moralverhalten mithilfe neurotechnischer Mittel – also bspw. durch die Einnahme einer Pille, Eingriffe in unser Genom oder Gehirnstimulation – verbessern können. Die Umsetzung dieser Idee ist aber mit verschiedenen grundsätzlichen Problemen konfrontiert.
Eines dieser Probleme, ist die Frage, was überhaupt genau verbessert werden soll. Moral ist etwas, das für die meisten von uns etwas Höchstpersönliches darstellt.
Unser Moralverhalten ist Ausdruck unserer Überzeugungen, unserer Persönlichkeit und macht unser Menschsein im großen Umfang aus. Damit aber neurotechnische Mittel für die Verbesserung unseres Moralverhaltens eingesetzt werden können, muss dieses in irgendeiner Form auf körperlichen Prozessen beruhen.
Nur dann können wir auch relevante Ergebnisse durch das Enhancement erwarten. In unserem Fall stellt sich also die Frage, ob es solche relevanten körperlichen Prozesse für unser Moralverhalten gibt.
Emotives Moral Enhancement
Vor dem Hintergrund dieser Frage ist deshalb die sogenannte emotive Variante des Moral Enhancement besonders interessant, da sie den Blick auf einen Aspekt unserer Moralität wirft, der gerade in theologisch-ethischer Perspektive bisher eher vernachlässigt worden ist. Bei dieser Variante – die vor allem mit den Namen Thomas Douglas, Julian Savulescu und Ingmar Persson verbunden wird – werden nämlich moralisch relevante Emotionen bzw. körperlich verankerte Dispositionen identifiziert, die durch ein Enhancement beeinflusst werden sollen, was zu besserem moralischem Verhalten führen soll. Thomas Douglas bspw. geht davon aus, dass eine allgemeine Reduktion unserer Aggression dazu führen würde, dass wir uns insgesamt moralischer verhalten. Gleichzeitig versucht er zu zeigen, dass Aggressivität zu relevanten Anteilen genetisch bedingt ist.[1] Er verweist dazu auf Studien, die das Verhalten von adoptierten mit leiblichen Kindern derselben Eltern vergleichen und relevante Unterschiede feststellen.[2] Wenn wir also davon ausgehen, dass zu viel Aggressivität schlecht für unsere Moralität ist und sie zumindest zu relevanten Teilen genetisch bedingt sind, wäre hier ein Weg vorgezeichnet, auf dem ein Moral Enhancement funktionieren könnte.
Unabhängig davon, was man nun von diesem konkreten Beispiel hält, lassen sich für die meisten Vertreter*innen des emotiven Moral Enhancement zwei Grundpositionen festhalten:
- Sie vertreten einen „schwachen“ Nonkognitivismus. D.h. in diesem Kontext im Wesentlichen nichts anderes, als dass sie im Gegensatz zu kognitivistischen Positionen, die nur dem Willen eine zentrale Rolle für unser Moralverhalten zusprechen, davon ausgehen, dass Emotionen eine relevante Rolle für unsere Moralität spielen.
- Sie vertreten einen Kompatibilismus in der Frage nach unserer Freiheit. Dies bedeutet, dass sie nicht davon ausgehen, dass wir völlig frei in unserem Verhalten sind, sondern durch – in diesem Fall körperliche – Determinanten unbewusst beeinflusst werden.[3]
Leib und Seele zusammenhalten?
Diese beiden Grundpositionen sind aus theologisch-ethischer Perspektive durchaus bedenkenswert. Zur ersten: Wenn Emotionen und damit für uns teilweise nicht direkt kontrollierbare oder sogar unbewusste körperliche Prozesse einen entscheidenden Einfluss auf unser (moralisches) Handeln nehmen, kann das Auswirkungen darauf haben, wie wir uns selbst verstehen, gerade vor dem Hintergrund, wie wichtig Moral für dieses Selbst-Bild ist. Ich bin der Überzeugung, dass diese Auswirkungen sowohl dazu führen, dass wir einerseits die Idee des Moral Enhancement sehr kritisch sehen müssen, andererseits aber ein vertieftes Verständnis von uns selbst als Leib-seelischer-Einheit4 erlangen können.
Wenn die zweite Grundposition – also der Kompatibilismus – plausibel ist, müssen wir auch davon ausgehen, dass körperliche Prozesse schon immer unser Selbstbild beeinflusst haben. Neurowissenschaftlich wurde dieses Bild bspw. von Wolfgang Prinz oder Thomas Goschke plausibilisiert.[5] Beide konstatieren eine enge Verbindung zwischen unserer Selbst-Wahrnehmung und unbewussten körperlichen Prozessen (Prinz spricht hier von „subpersonalen Prozessen“), die sich gegenseitig beeinflussen. Das Selbst basiert im eigentlichen Sinn bereits auf solchen Prozessen und ist damit kein „Organ der Seele“, sondern eher eine konstruierte Wissensstruktur. Gleichzeitig nimmt diese Wissensstruktur aber maßgeblichen Einfluss auf diese subpersonalen Prozesse, indem die Wissens- und Reflexionsbasis verbreitert wird.[6] Das, was klassischer Weise in mentale und körperliche Prozesse getrennt wird, steht also in sehr enger Verbindung und das eine kann ohne das andere nicht verstanden werden.
Wenn wir dies zur Grundlage nehmen, wird aber schnell klar, dass jede Beeinflussung von körperlichen Aspekten – bspw. Emotionen – auch eine Veränderung unseres Selbst nach sich ziehen würde. Moral Enhancement hätte damit nicht nur Auswirkung darauf, wie wir uns moralisch verhalten, sondern auf unser ganzes Wesen. Die Kosten und Konsequenzen für ein solches Enhancement wären also deutlich größer, als uns Vertreter*innen vorstellen. Es geht hier um eine tiefgreifende Veränderung der Persönlichkeit und nicht um eine kleine Anpassung unseres Verhaltens.[7]
Diese Veränderung wird aber häufiger von Vertreter*innen durchaus positiv gesehen: Es ist ja schließlich dieser körperliche Einfluss auf unser Selbst, der uns zu schlechtem Verhalten „verführt“. Wir sollten diesen also möglichst so beeinflussen, dass wir am Ende mehr so sind, wie wir selbst schon immer sein wollten.[8]
Was kann die Theologie hier leisten?
Hier bietet sich die Chance der Theologie allgemein, der hier implizierten Leibfeindlichkeit durch ein besser ausgearbeitetes und positiv besetztes Konzept des Menschen als Leib-seelischer-Einheit zu begegnen und so auch die eigene Reflexion darüber zu schärfen. Wie verstehen wir eigentlich in theologischer Perspektive die leibliche Dimension des Menschen und warum sollte sie wertgeschätzt werden?
In ethischer Perspektive eröffnet sich hier auch ein Raum, Emotionen eine angemessene Rolle im Moralsystem zuzuweisen – eine Frage, die erst in den letzten Jahren aufgegriffen wird und noch viel Raum für Forschung offen lässt.
Vor diesem Hintergrund kann eine nähere Beschäftigung mit den Ideen des Moral Enhancement auch aus theologisch-ethischer Perspektive zu einer positiven Schärfung theologischer Positionen führen, obwohl die Idee selbst mit großen Problemen behaftet ist.
Hashtag der Woche: #moralenhacement
(Beitragsbild: Christina Victoria Craft)
[1] Douglas, Thomas: Enhancement der Moral. In: van Riel, Raphael/Di Nucci, Ezio/Schildmann, Jan (Hg.): Enhancement der Moral. Münster 2015, 85–111, hier 91.
[2] Vgl. beispielsweise Raymond R. Crowe, An Adoption Study of Antisocial Personality, in: Archives of General Psychiatry 31 (1974), 785–791, DOI: 10.1001/archpsyc.1974.01760180027003; Remi J. Cadoret, Psychopathology in Adopted-Away Offspring of Biologic Parents With Antisocial Behaviour, in: Archives of General Psychiatry 35 (1978), 176–184, DOI: 10.1001/archpsyc.1978.01770260054005.
[3] Für eine nähere Erläuterung siehe: Winter, Dominik: Falsche Hoffnung. Warum emotives Moral Enhancement nicht die Freiheit vergrößern kann. In: Zeitschrift für Theologie und Philosophie 144/2 (2022), 220–242. DOI: 10.35070/ztp.v144i2.3764.
[4] Ich unterscheide generell zwischen den Begriffen „Körper“, als „objektiver“ Außenperspektive und „Leib“, als „subjektiver“, ganzheitlicher Ich-Perspektive.
[5] Vgl. Goschke, Thomas: Vom freien Willen zur Selbstdetermination. In: Psychologische Rundschau 55/4 (2004), 186–197; Prinz, Wolfgang: Kritik des freien Willens. In: Psychologische Rundschau 55/4 (2004), 198–206.
[6] Vgl. Prinz: Kritik, 202-204.
[7] Vgl. Winter: Falsche Hoffnung, 234-240.
[8] Vgl. Douglas: Enhancement, 98f., 107.