Bei der Recherche zu einer Hausarbeit stößt Kathrin Senger auf eine Frage, die sie schon länger beschäftigt. Für uns denkt sie daher über den Ritus des Muttersegens und seine Entwicklung nach.
Heute vor genau 29 Jahren, am 31. Oktober 1993, wurde ich getauft. „Sechs Wochen nach der Geburt, so wie sich das gehört“, sagt meine Mutter dazu. Woher hat sie das eigentlich? Ich habe das noch nie zuvor gehört und meine Mutter selbst kann mir das auch nicht so genau sagen. Nach jahrelangem Kopfzerbrechen kam endlich Licht ins Dunkle, als ich mich mit dem alten Ritus des Muttersegens beschäftigt habe. Jenem Ritus, der heute nur noch ganz selten einen eigenen Auftritt genießt, sondern sich seit dem II. Vatikanum in Form eines kurzen Schlusssegens von Mutter und Kind kaum wahrnehmbar in den Ritus der Kindertaufe geschlichen hat. „Aussegnung der Mutter nach der Geburt“, diese Bezeichnung hat noch jeder Person einen entsetzen Blick entlockt, wenn ich vom Thema meiner letzten Hausarbeit erzählt habe. Ist das nicht so ein „frauenfeindliches Reinigungsding“? Ja, auch. Und doch steckt dahinter viel mehr. Vor allem viel Potenzial.
Kultische Reinigung oder Segen?
Die biblische Grundlage des Muttersegens ist die Perikope der Darstellung des Herrn (Lk 2, 23-40), in der Maria 40 Tage nach der Entbindung ein Reinigungsopfer nach levitischem Gebot (Lev 12, 2-8) darbringt. In Deutschland war es seit dem 9. Jahrhundert üblich, den ersten Kirchgang einer Wöchnerin mit einer Danksagung zu verbinden – auch ohne kirchliche Vorschrift. Die ältesten Quellen im deutschen Sprachraum für Segnungen von Wöchnerinnen beim ersten Kirchgang stammen aus den liturgischen Handbüchern des 11./12. Jahrhunderts. Auch wenn die levitische Reinheitsvorschrift zum Verhalten einer Mutter nach der Geburt eindeutig eine Wiederherstellung von kultischer Reinheit intendiert, um die Gemeinschaft der Wöchnerin mit Gott und der Gemeinde zu bewirken, tritt das Motiv der Sündenvergebung in vielen Diözesanritualien bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts mal mehr und mal weniger stark hervor. Und so ist bis heute die Deutung des Muttersegens als Reinigung weit verbreitet, obwohl viele Diözesanritualien auch eine Danksagung und die Bitte um Schutz thematisierten.
Gerade im Volksglauben war die Vorstellung von der Unreinheit einer Frau nach der Entbindung lange nicht zu beseitigen. Die Kirche hat diese Ansicht aus einer leibfeindlichen Haltung heraus lange unterstützt und so die bewusste oder unbewusste Annahme begünstigt, dass einer Mutter nach der Geburt ein gewisser Makel anhafte, den es zu beseitigen gilt, bevor sie wieder in die Kirche zum Sakramentenempfang dürfe. Diese Deutung konnte auch durch die Betonung des biblischen Vorbilds Mariens nicht wirksam zurückgedrängt werden. Wie sehr der Muttersegen als Reinigung von einem sittlichen Makel verstanden wurde, lässt sich ganz besonders an der Tatsache festmachen, dass Frauen, die im Wochenbett ohne Aussegnung verstorben waren, in einigen Orten ohne kirchliches Begräbnis vor den Friedhofsmauern begraben wurden – wie es auch mit Selbstmörder*innen gemacht wurde. Im 16. Jahrhundert waren außerdem Formulare verbreitet, die die Aussegnung einer toten Wöchnerin enthielten. Auch wenn wenige solcher Formulare bekannt sind, scheint dieser Brauch weit verbreitet gewesen zu sein, denn im 18. und 19. Jahrhundert musste in einigen Ritualien die Bestimmung aufgenommen werden, tote Wöchnerinnen nicht auszusegnen. Daher gibt es liturgiegeschichtlich keinen Zweifel daran, dass der Muttersegen als Reinigung verstanden wurde.
Schutzzeit zwischen Geburt und Segen?
Dennoch hatte der Ritus über viele Jahrhunderte hinweg auch noch eine andere Funktion für die Wöchnerinnen: Das biblische Vorbild lässt den 40. Tag nach der Geburt als vorgegebenen Zeitpunkt für die Aussegnung erahnen und in der Tat war das Wochenbett, das in manchen Gegenden behördlich auf vier bis sechs Wochen nach der Geburt festgelegt war, eine Zeit, die sowohl durch kirchliche als auch durch zivile Obrigkeiten geschützt war. Ein Ausgehverbot vor der kirchlichen Segnung war damit gerade im ländlichen Bereich ein wichtiger Schutz für die Wöchnerinnen, die sonst kurz nach der Entbindung wieder harte Arbeit auf dem Feld hätten verrichten müssen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass unverheirateten Frauen der Segen nicht zuteil wurde. Im Südbaden und Südwürttemberg des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bedeutete das, dass auf rund 60% der Entbindungen keine Aussegnung erfolgte und die Schutzzeit des Wochenbetts immer häufiger verletzt wurde.
Auch wenn der Priester, der den Segen spendete oder die Mutter, die den Segen empfing, dies nicht unbedingt im Verständnis einer Reinigung und Sündenvergebung getan haben muss, beschreibt die amerikanische Liturgiewissenschaftlerin Susan Roll eine starke Diskrepanz zwischen der Deutung des Muttersegens durch Theologen (sic!) und Kleriker und der Wahrnehmung der Frauen selbst.
Während erstere jahrhundertelang häufig die Meinung vertraten, dass der Zweck des Rituals ein freiwilliger Akt der Danksagung durch die Mutter sei und ein Motiv der Reinigung ausschließe, herrschte unter den Frauen ein Konsens darüber, dass der Ritus sehr wohl eine Reinigung bezwecke, so als ob während Schwangerschaft und Geburt etwas Verunreinigendes, gar Gottloses geschehen sei. Roll berichtet von älteren Frauen, die sich – angesprochen auf ihre Aussegnung – Mitte des 20. Jahrhunderts an Gefühle von Unbehagen, Verwirrung, Beleidigung und Scham erinnerten. Häufig trauten sich die Frauen nicht, den Priester nach dem Grund des Ritus zu fragen, selbst als Texte und Erklärungen nicht mehr nur auf Latein, sondern auch in der Muttersprache erschienen waren. Laut Roll führte das schlussendlich zu einem individuellen Boykott des Ritus durch die Frauen.
Der Muttersegen nach dem II. Vatikanum/heute
Das II. Vatikanum hat mit dem Muttersegen schließlich aufgeräumt und ihn kaum wahrnehmbar in den Ritus der Kindertaufe integriert – und da wären wir dann auch bei den von meiner Mutter erwähnten sechs Wochen nach der Geburt als geeigneten Zeitpunkt für die Taufe, angelehnt an die Schutzzeit zwischen Geburt und erstmaligem Kirchgang. Doch das deutsche Benediktionale von 1978 bedenkt den Fall, dass eine Mutter bei der Taufe ihres Kindes nicht anwesend sein konnte oder sich einen gesonderten Segen wünscht und kennt daher noch einen Ritus für den „Muttersegen nach der Geburt“. Jener ist gegenwärtig allerdings kaum bekannt und wird meist als überkommen oder gar misogyn und demütigend abgelehnt. Zu sehr haften ihm noch Frauen- und Sexualitätsfeindlichkeit an, obwohl der heutige Ritus ausschließlich Dankbarkeit und Freude über eine glückliche Geburt zum Ausdruck bringt.
Muttersegen neu bedacht
Ich finde, es ist an der Zeit, die Gleichung „Muttersegen = Reinigung“ aufzulösen, den Ritus zu entstauben und eine ermutigende, feministische Perspektive auf den Segen einzunehmen. Auch wenn die Säuglings – und Müttersterblichkeitsrate in Deutschland erfreulicherweise sehr niedrig ist, gehören Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu den intensivsten Erfahrungen im Leben vieler Frauen, die nicht selten auch mit körperlichen Leiden und seelischen Belastungen einhergehen. Die familiäre Einbindung und Unterstützung ist nicht mehr so selbstverständlich wie in früheren Jahrhunderten. Scheidung, Alleinerziehen, aber auch Herausforderungen wie Verarmung, Entsolidarisierung und Doppelbelastung durch Kindererziehung und Beruf stellen Mütter heute vor viele Probleme.
Symbolisierungs– und Ritualisierungsprozesse können eine Möglichkeit sein, Lebenserfahrungen zum Ausdruck zu bringen und vor Gott zu tragen. In einer Zeit, in der für viele Menschen immer unabsehbarer wird, welche schicksalhaften Brüche und Entwicklungen die eigene Biografie betreffen werden, können Rituale umso mehr helfen, Übergänge, Verletzungen, Neuanfänge und Aufbrüche zu gestalten. Das Ritual bietet Raum, Fragen nach sich verändernden Identitäten zu verfolgen und dem Gedanken der Schwesterlichkeit / Geschwisterlichkeit und der Vorstellung der Präsenz Gottes mitten unter den Menschen nachzuspüren. So gesehen könnte der Ritus des Muttersegens als ein Ritual der Ermutigung der Mutter, des Ausdrucks von Aufgehobensein in der Welt und der Präsenz Gottes in ihrem Leben eine neue Bewertung erfahren. Durch die Anwesenheit von Familie, Freund*innen und der Hebamme der Wöchnerin beim Muttersegen könnte diese Dimension der Feier noch vertieft werden.
Hashtag der Woche: #purityisaconstruct
Beitragsbild: Phil Hearing / Unsplash.com
Quellen:
Benediktionale. Studienausgabe für die katholischen Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Hg. von den Liturgischen Instituten Salzburg, Trier u. Zürich, Freiburg i. Br., 1978
Dannecker, Klaus Peter: Die Segnung der Mutter nach der Geburt in der ehemaligen Diözese Konstanz. In: Bärsch, Jürgen / Schneider Bernhard (Hg.): Liturgie und Lebenswelt. Studien zur Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte zwischen Tridentinum und Vatikanum II. Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen, Bd. 95. Aschendorff Verlag. Münster 2006. 205 – 226.
Kleinheyer, Bruno: Segnung von Mutter und Kind nach der Geburt. In: Meyer, H. B. / Auf der Maur, H. / Fischer, B. / Häußling A. A. / Kleinheyer, B. (Hg.): Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft. Teil 8. Sakramentliche Feiern II. Ordinationen und Beauftragungen – Riten um Ehe und Familie – Feiern geistlicher Gemeinschaften – Die Sterbe- und Begräbnisliturgie – Die Benediktionen – Der Exorzismus. Friedrich Pustet Verlag. Regensburg, 1984. 152 – 156
Metternich, Ulrike: Reinheit / Unreinheit. Bibel und frühes Christentum. In: Gössmann, Elisabeth / Kuhlmann, Helga / Moltmann-Wendel, Elisabeth / Praetorius, Ines / Schottroff, Luise / Schlüngel-Straumann, Helen / Strahm, Doris / Wuckelt, Agnes (Hg.): Wörterbuch der feministischen Theologie 2. Gütersloher Verlagshaus. Gütersloh, 2002. 471 – 473.
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Wagner-Rau, Ulrike: Ritual / Gottesdienst. In: Gössmann, Elisabeth / Kuhlmann, Helga / Moltmann-Wendel, Elisabeth / Praetorius, Ines / Schottroff, Luise / Schlüngel- Straumann, Helen / Strahm, Doris / Wuckelt, Agnes (Hg.): Wörterbuch der feministischen Theologie 2. Gütersloher Verlagshaus. Gütersloh, 2002. 476 – 478.
Starke Perspektiven / vor allem hinsichtlich neuer Praxis!