Erinnern als ethische Praxis braucht tägliche Übung, findet Linda Kreuzer. Sie nutzt die novemberliche Stimmung, um der Frage nach Erinnerungskulturen, ihren verschiedenen Dimensionen und ihrem sozialethischen Potenzial weiter nachzugehen.

Beim diesjährigen Besuch auf dem Friedhof, wo einige meiner Verwandten bestattet worden sind, bin ich zufällig vor dem Grab einer jung verstorbenen Frau stehen geblieben. Ihr Todestag jährt sich nächstes Jahr zum hundertsten Mal. Das Gefühl, das sich beim Lesen ihres Namens und ihrer Lebensdaten langsam aber mit einer gewissen Schwere eingestellt hat, kenne ich und kann ich für mich gut saisonal verorten.

Erinnerung und Bindung

Der Monat November bietet mit seinen kalten und dunklen Tagen viel Platz für (Feier-)Tage zum Erinnern und Gedenken, für Traurigkeit, Melancholie, das Nachdenken über die eigene Vergänglichkeit und den Tod. Erinnerungskulturen zu entwerfen, zu begleiten und zu fördern sind notwendige Vollzüge jeder Religion.

Ohne das Erinnern an die religiöse Botschaft kann keine nachhaltige Gemeinschaftsstruktur aufrecht erhalten werden.

Erinnern als ein Grundvollzug menschlicher Existenz heißt, selbst Erlebtes zu reflektieren und so zur Erfahrung zu machen oder die Erfahrungen anderer zu sich in Beziehung zu setzen. Damit gewinnen Erinnerungen den Stellenwert eines ethisch-moralischen Leitsystems. Bestenfalls ist damit ein Lerneffekt verbunden, der sich auf zukünftiges Handeln regulierend auswirkt. Neben individueller Erinnerungspraxen – angefangen beim Sammeln alter Kinokarten oder dem Nutzen von Social Media Profilen als digitale Erinnerungskiste – wirken kollektive Erinnerungen auf uns. Sie gestalten gesellschaftliche Strukturen nicht nur normativ, sondern stabilisieren Identitäten, gesellschaftliche wie politische, von Vereinen, Kirchen, Parteien oder Gruppen. Das Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit ist mit dem Teilen und Pflegen von Erinnerungen verbunden. Partys werden meistens erst durch die retrospektiv geteilten Geschichten legendär. Gemeinsame Legenden sind ein wesentlicher Baustein von langjährigen Freund*innenschaften, diese Legenden sichern emotionale Anknüpfungspunkte. Die wiederkehrende Lektüre und Reflexion von biblischen Texten, liturgische Abläufe, die Abendmahl- und Eucharistiefeier, alle religiösen Rituale dienen einer Erinnerungskultur, um Zugehörigkeit und Verbundenheit zu ermöglichen.

Erinnerung und Gerechtigkeit

Wirkmächtige Erinnerungskulturen sprechen Menschen auf vielen Ebenen gleichzeitig an, haben Feierlichkeiten, emotionale Projektionsflächen, Katalysatoren und Beschleuniger, Archivsysteme und Verbildlichung der Narrative durch Statuen, Gebäude, Landschaftsgestaltung etc. im Portfolio. Jedes Marterl (Bildstock) auf einem x-beliebigen österreichischen Spazierweg, jedes religiöse oder politische Kleindenkmal ist ein Erinnerungsbaustein. Und genau in dieser den Alltag durchdringenden Wirkmacht liegt wie bei jeder gesellschaftsgestaltenden Kraft ambivalentes Potential.

Erinnerungskulturen dienen auch der Manipulation, dem Schüren von Vorurteilen, der Stabilisierung von unterdrückerischen Systemen und dem Machterhalt einiger weniger, die ihre Macht für ihren persönlichen Vorteil nutzen.

Kriege werden unter Berufung auf einen mythologischen territorialen Anspruch geführt, Nationalismen im 20. und 21. Jahrhundert mit religiös verbrämten Legenden argumentiert. Woran wir uns wie erinnern und welche Handlungen wir daraus ableiten, ist hochpolitisch und muss permanent verhandelt werden. Mit jedem Tag, jedem Menschen, jedem Erlebnis und jedem Gedanken wachsen Erinnerungen in einem quasi unendlichen Speicherformat. Wie müssen Erinnerungskulturen gestaltet sein, damit sie dem Anspruch von Gerechtigkeit genügen?

Erinnern und Suchen

Als ich vor dem Grab dieser jungen Frau stand, habe ich mich gefragt, woran sie gestorben ist und was sie wohl davor erlebt haben mag. Was waren ihre familiären Umstände? Welche Ausbildung hat sie genossen?Zudem muss die Erfahrung  mitten in Krisen- bzw. Kriegszeiten hineingeboren zu sein, ihre Sicht auf die Welt stark geprägt haben. Beim Nachdenken haben sich meine Vorannahmen, Ängste und Vorstellungen an ein Leben geknüpft, von dem ich außer dem Namen und den Lebensdaten nichts weiß. Das Erinnern und gleichzeitige Entdecken von Lebensrealitäten anderer Menschen ist Grundvoraussetzung für ein Verständnis von gerechtem Miteinander. Der eigene Reflexionshorizont wird aufgebrochen, sobald die eigenen Vorannahmen auf die Realitäten der Anderen treffen. Wie schaffen wir es aus der eigenen zusammengezimmerten Erinnerungs- und Rechtfertigungswelt heraus, um die Realitäten von anderen Menschen anerkennen und dementsprechend sozialethisch verantwortlich handeln zu können?

Sich einüben

In dem Lied „We were here“ der Band Boy geht es um die Spuren, die wir alle hinterlassen, egal was wir tun oder wo wir sind.

Das Miteinander Da-Sein und Teilen von Gegenwart ist existentielle Erinnerung.

Das Anerkennen von Da-Sein des*der Anderen die Vorbedingung für ethische Reflexion. Zwei Bücher, die diese Überlegungen unterschiedlich behandeln, haben mich durch den letztjährigen November begleitet. „I want you to know, we`re still here“ von der Shoah-Überlebenden Esther Safran Foer und „Übungen im Fremdsein“ der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk. Sich einüben in die Perspektiven von Menschen, suchen nach den Spuren. Im kommenden Monat bleibt sicher dafür Zeit.

Hashtag der Woche: #Erinnerungskulturen


Bild: Sarandy Westfall/Unsplash

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linda kreuzer

hat Katholische Theologie und Philosophie studiert. Neben der Lehrtätigkeit an der Katholische-Pädagogischen Hochschule Wien Strebersdorf unterrichtet sie Religion an drei berufsbildenden Schulen in Wien. Außerdem engagiert sie sich ehrenamtlich bei Sapere Aude, einem Verein für politische Bildung.

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