Die Pandemie hat Spuren hinterlassen. Katharina Mairinger beleuchtet in ihrem Beitrag, inwiefern intergeschlechtliche Menschen ihre Existenz als prekären Ausdruck einer krisengeschüttelten Gesellschaft und Kirche erfahren.

Es ist nicht neu, dass gerade Krisenzeiten die Prekarität ausgerechnet jener Gruppen hervorhebt, welche sich unbestritten sozial benachteiligt erfahren. Auch der Kampf intergeschlechtlicher Menschen für körperliche Integrität, soziale Anerkennung und Autonomie wurde im Gefolge der pandemischen Einschränkungen massiv zurückgedrängt und teilweise auch bewusst behindert. Theologie hat die Aufgabe, auf diese besorgniserregenden Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Kirchen aufmerksam zu machen.

Auswirkungen der Corona-Pandemie auf intergeschlechtliche Personen

Die Vulnerabilität intergeschlechtlicher Menschen in der Zeit der Pandemie hat mit ausbleibenden finanziellen Unterstützungen (etwa Spenden) zu tun, den fehlenden Versorgungsmöglichkeiten durch die wegen der Pandemie eingeschränkten medizinischen Bereiche und sozialen Beschränkungen, die eine Selbst-Isolation intergeschlechtlicher Menschen weiter verstärkt haben. Besonders die mentale Gesundheit hat während der Pandemie gelitten.1 Wenn es außerdem um die Diskriminierung von LGBTI+-Personen geht, stechen intergeschlechtliche Personen laut einer aktuellen Studie von 2021 besonders hervor: Mehr als die Hälfte von ihnen hat im vergangenen Jahr Diskriminierung erlebt, 14% der Teilnehmenden zwischen 15 – 17 Jahren wurden sogar Opfer physischer oder sexueller Attacken.2 Allgemein, so die Studie, wurde die aktivistische Arbeit durch die Pandemie stark eingeschränkt, da die existenziellen Nöte vor dem ehrenamtlichen Engagement in Menschenrechtsbelangen priorisiert werden (müssen). Gleichzeitig hat die Krisenzeit die Verletzung der Grundrechte, Schikanen, Diskriminierungen und andere Formen von Gewalt enthemmt: Regierungen in allen Subregionen Europas haben die Pandemie dafür genutzt, Menschenrechtsarbeit (weiter) zurückzudrängen, was bei vielen Inter-Aktivist:innen zur Angst vor dem Erstarken der extremen Rechten, Totalitarismen und Konservativismen geführt hat.3 Dies bleibt nicht ohne Folgen für religiöse Gemeinschaften.

Diskriminierung intergeschlechtlicher Personen in Gesellschaft und Kirche

Insbesondere tragisch ist, dass die fortlaufenden Auswirkungen der Pandemie auf das Leben intergeschlechtlicher Menschen zu den bereits bestehenden Herausforderungen hinzukommen. Zu den Problemen von erhöhten Behandlungsrisiken und -komplikationen, psychischen Traumata, wenig bis gar keinen rechtlichen Absicherungen4 und sozialen Stigmatisierung und Diskriminierung5 gesellen sich religiös beeinflusste. In vielen biographischen Statements wurde bereits vor der Pandemie deutlich,

„dass trans*, inter* und genderqueere Jugendliche in allen Lebensbereichen Diskriminierungen erleben, vor allem in der Schule, in der beruflichen Ausbildung, in Vereinen, in der Kirche und hier vor allem im ländlichen Bereich, überall dort wo viele Jugendliche zusammentreffen und es hegemoniale Geschlechterkonzepte gibt“6.

Gerade die von lehramtlicher und teilweise auch noch theologisch vertretene binäre Geschlechterkonzeption hat zur Folge, dass geschlechtliche Vielfalt für die römisch-katholische Kirchenstruktur schlichtweg „ein blinder Fleck“7 ist. Im Kirchenrecht gibt es keine Rechte oder Pflichten, die intergeschlechtliche Menschen direkt ansprechen, obwohl eigene Bestimmungen, vor allem angesichts des Eherechts oder des Priesteramtes, vorliegen müssten.8 Zudem wird Intergeschlechtlichkeit im kirchlichen Kontext oft verheimlicht, um Ausgrenzungserfahrungen zu vermeiden, denn religiös motivierte Beleidigungen9 oder die Verwehrung des Sakramentenempfangs auf Basis biblizistischer Argumentation10 sind leider keine Seltenheit. Gerade weil damit auch die Tendenz zu Totalitarismen und Konservativismen besteht, ist theologischer Handlungsbedarf angezeigt.

Theologie als kritische Instanz einer krisengeschüttelten Kirche

Theologisch lässt sich nicht länger verantworten, dass die römisch-katholische Kirche für das physische, psychische und soziale Leid intergeschlechtlicher Menschen mitverantwortlich ist. Der geführte Kampf für die Anerkennung intergeschlechtlicher Menschen ist daher als eine theologische Aufgabe zu begreifen. In Bezug auf die vorangegangenen Problematiken sind deswegen Deutungsrahmen notwendig, die die Vielgestaltigkeit der Schöpfung und nicht heteronormative Konzepte ins Zentrum einer theologischen Anthropologie stellen.  Vielmehr muss intergeschlechtlichen Menschen innerhalb wie außerhalb der Kirche ein diskriminierungsfreier und geschützter Platz zugesichert werden, indem Anerkennungsstrukturen geschaffen werden, die aus einer geschlechtersensiblen Anthropologie resultieren. Nur so kann verhindert werden, dass die von der Krise geschüttelte römisch-katholische Kirche nicht selbst ein Brandbeschleuniger für die Ausgrenzung und Diskriminierung von intergeschlechtlichen Menschen wird.

 

Hasthag: #intersexundcorona


(Beitragsbild: @cdc)

1 Vgl. Dan C. Ghattas, COVID-19. A Report on the Situation of Intersex People in Europe and Central Asia, Questionnaire developed by Irene Kuzemko, S. 16. URL: https://oiieurope.org/wp-content/uploads/2021/01/covid-19-survey-report-OII_Europe.pdf [Abruf: 18. Juni 2022].

2 Ebd., S. 12.

3 Vgl. ebd., S. 28.

4 Selbst die Möglichkeit eines eigenen Geschlechtseintrages stellt intergeschlechtliche Menschen vor weitere Herausforderungen. Zur Problematik des medizinischen Gutachtens vgl. Tobias Humer – Eva Matt, Dritter Geschlechtseintrag in Dokumenten: Innenministerium plant restriktive Umsetzung. Die Selbstvertretung intergeschlechtlicher Menschen in Österreich ist unzufrieden und fordert Selbstbestimmung statt erneuter Pathologisierung. URL: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20181025_OTS0112 [Abruf: 18. Juni 2022].

5 Vgl. VIMÖ – PIÖ, Positionspapier, S. 5. URL: http://vimoe.at/wp-content/uploads/2014/03/Positionspapier-VIMÖ-PIÖ.pdf [Abruf: 18. Juni 2021].

6 Petra Focks, Lebenswelten von intergeschlechtlichen, transgeschlechtlichen und genderqueeren Jugendlichen aus Menschenrechtsperspektive. Expert*inneninterviews, S. 10. URL: http://www.meingeschlecht.de/MeinGeschlecht/wp-content/uploads/Focks_Lebenswelten_Expertinneninterviews-_2014.pdf [Abruf: 18. Juni 2022].

7 Julia Koll u. a. (Hgg.), Diverse Identität. Interdisziplinäre Annährungen an das Phänomen Intersexualität (Schriften zu Genderfragen in Kirche und Theologie 4), Hannover 2018, S. 28.

8 Christian Klüner, Die Führung der Pfarrbücher vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts am Beispiel des Taufbuches. Historische Genese, problemorientierte Praxis, zukünftige Herausforderungen (Münsterischer Kommentar zum Codex iuris canonici Beiheft 77), Essen 2020.

9 VHS Landstraße, Intergeschlechtlichkeit und Inter*aktivismus. Landstraßer Protokoll vom 02.10.2018, S. 12. URL: https://www.vhs.at/files/downloads/OTmXS4x94fLdmwZaA3VJmRnEpZaRtcoiyjBSKo41.pdf [Abruf: 18. Juni 2022].

10 Vgl. Sally Gross, Intersexuality and Scripture, in: Theology & Sexuality 11 (1999), S. 65–74, hier: S. 70.

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katharina mairinger-immisch

studierte deutsche und französische Philologie sowie katholische Theologie in Wien und war eineinhalb Jahre als Gymnasiallehrerin in Oberösterreich tätig. Von 2018-2021 war sie Prae-doc-Assistentin und Doktorandin am Fachbereich Theologische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, wo sie zum Thema Intergeschlechtlichkeit promoviert. Seit September 2021 arbeitet sie als Gymnasiallehrerin in Baden-Württemberg. Seit 2020 ist sie Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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