In ihrem Beitrag blickt Hannah Wahlers auf das vielschichtige Schweigen betroffener Frauen sexuellen Missbrauchs – insbesondere im Ordenskontext – und fragt nach möglichen systemischen Ursachen dahinter. 

„Und da ist es plötzlich, dass er meine Hand nimmt und sie auf seinen Oberschenkel legt.“1

Detailliert berichtet die Ordensschwester Pauletta Fabrizius in dem Buch „Erzählen als Widerstand“ über das, was sie schon lange quält. Es ist ein Bericht, der jegliche Vorstellungskraft sprengt und die Leser:innen vollkommen bestürzt zurücklässt. Und doch ist es so wichtig, dass sie endlich ihr Schweigen bricht.

Viel zu lange schon tragen Frauen die grausamen Erfahrungen ihres sexuellen Missbrauchs, den sie im Raum der katholischen Kirche erfahren haben, mit sich herum, ohne auch nur ein „Sterbenswörtchen“2 darüber zu verlieren. Aber warum? Sind solche Taten nicht so offensichtlich falsch, dass sie sofort angezeigt werden müssten? Warum werden betroffene Frauen in der Regel nicht laut? Im Bericht der Ordensschwester wird ein schwerwiegender Grund deutlich: Sie hat Angst, dass ihr die Tat nicht geglaubt, dass ihr die Verantwortung zugeschoben wird – auch, weil sie selbst glaubt, einen Teil der Schuld zu tragen. Absurd? Leider nein. Tatsächlich ist die Sorge um mangelndes Verständnis berechtigt. Immer wieder stoßen Betroffene von sexualisierter Gewalt auf Misstrauen und die Anschuldigung, selbst für die Tat verantwortlich zu sein. „Sie ist alt genug, um zu wissen was geschieht und ‚nein‘ zu sagen!“, „Sie hat ihn ja auch in all den Jahren nie bei der Polizei angezeigt!“, sind Sätze, die jede:r bereits gehört, gelesen und wenn man ehrlich ist, vielleicht selbst schon einmal gedacht hat.

Warum die häufige Zuschreibung von einer (Mit-)Schuld?

Dieses anklagende Verhalten wurzelt in der Antike und hat sich seitdem tief in unserem Denken verankert. Bereits Aristoteles meinte zu wissen, dass Frauen, aufgrund ihres fehlenden inneren Feuers, frigide sein müssen. Männer hingegen, die eine größere innere Hitze besitzen, sind dadurch intelligenter, physisch stärker und vor allem sexuell potenter. Im Laufe der Zeit entwickelte sich diese Theorie zu der Vorstellung, dass Männer ihre starke sexuelle Energie nicht eigenständig kontrollieren können. Die Frau hingegen, die durch ihre fehlende Leidenschaft bestens als Hüterin der moralischen Ordnung geeignet war, erhielt die Aufgabe, die männlich ungezügelte Sexualität zu kontrollieren. Dementsprechend lag es in ihrer Verantwortung darauf zu achten, sich „angemessen“ anzuziehen und passend zu verhalten, um die „leicht erregbare Libido [des Mannes] nicht zu entflammen.“3 Wenn einer Betroffenen heutzutage etwa vorgeworfen wird, zu aufreizend gekleidet gewesen zu sein, ist dies ein Restbestand dieser Denkweise.

Und wer glaubt, vollkommen frei von solchen Vorwürfen zu sein, der wird an dieser Stelle leider enttäuscht. Tatsächlich ist die Fehlersuche beim Opfer keine unübliche Reaktion und mit der sogenannten „Just-World Hypothesis“ sozialpsychologisch begründbar – rechtfertigt aber ein solches Verhalten natürlich nicht. Jede:r trägt die Überzeugung in sich, in einer grundsätzlich gerechten Welt zu leben, wo jedes Unglück die Folge einer schlechten Handlung oder Eigenschaft ist. Dieses klassische Karma-Prinzip wirkt primitiv, ist aber als moralisch abgesteckter Rahmen für unser alltägliches Leben unabdingbar. Wenn befürchtet werden müsste, dass jede Situation oder Person unkontrollierbar und bedrohlich sein könnte, wäre man schlichtweg unfähig zu handeln. Die dadurch scheinbar gewonnene Kontrolle hat zum Nachteil, dass negative Erfahrungen, die mit der Überzeugung einer gerechten Welt nicht vereinbar sind, passend gemacht werden, auch wenn dafür dem Opfer die Eigenverschuldung des Leidens zugeschrieben werden muss. Der Mensch versucht also alles, um seine:ihre  Vorstellung einer gerechten Welt zu schützen und die scheinbare Kontrolle beizubehalten. Daher sind es häufig auch Frauen, die anderen Frauen die Eigenverschuldung zuschreiben, aus Angst, auch sie könnten Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Sie suchen „Beweise“ dafür, dass die Betroffene Regeln aus dem uns auferlegten sozialen Verhaltenscodex gebrochen hat, um sicherzustellen, dass ihr „so etwas“ niemals passieren würde.4

Sonderfall: Kirche

Ordensfrauen haben zudem nicht nur mit patriarchalisch denkenden Mitmenschen zu kämpfen. Sie sind zugleich Opfer eines kirchlichen Systems, welches Betroffene von sexualisierter Gewalt zum Teil glauben lässt, dass Missbrauch eine für sie zu akzeptierende Interaktion ist, die sie stillschweigend hinzunehmen haben.5

Mit niemanden werde ich darüber sprechen können. Was soll ich denn sagen? Was? Der Pater hat dich umarmt? […] Außerdem ist es ja der Auftrag für andere da zu sein, mitzuleiden, sich aufzugeben.“6

Eines der grundlegenden Probleme der katholischen Kirche ist das einseitige und stereotypische Frauenbild, das in kirchlichen Texten dargestellt und in einigen Ordensgemeinschaften besonders betont und gelebt werden soll. Das „natürliche“ Dasein der Ordensfrau besteht nicht nur darin, sich besonders einfühlsam, zärtlich und aufmerksam um andere zu kümmern, sondern ihr ganzes Sein für Christus hinzugeben.7 Die aufopfernde Rolle wird verschärft durch die Treue zum Gehorsam gegenüber Christus und seinen irdischen Stellvertretern. Unter dem Deckmantel des Willen Gottes fällt schließlich ihr ganzes Leben in die Hände ihrer Vorgesetzen, die sich in manchen Fällen allerdings als Sexualstraftäter8 entpuppen. An Selbstbestimmung, die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Grenzen ist nicht zu denken. Dazu schreibt eine Betroffene: „Eine der Oberinnen sagte mir in einem späteren Gespräch: ‚Wenn Sie bei uns eintreten wollen, müssen Sie all Ihre Talente begraben und auf Ihren Willen verzichten.‘“9 Wenn die Lebensrealität der Ordensfrau darin besteht, sich für andere jederzeit gehorsam hinzugeben und auf ihren Willen zu verzichten, wie kann dann erwartet werden, dass sie sich im Falle von sexuellem Missbrauch zur Wehr setzt?

„Außerdem hatte ich nie gelernt, selbst zu denken […] und zu spüren, was ich möchte und etwas, was mir nicht recht ist, auch zu verweigern.“10

Nach dem Prinzip des willenlosen Gehorsams lernen Ordensfrauen ihre eigenen körperlichen und seelischen Grenzen weder kennen noch zu verteidigen. Hinzu kommt die möglicherweise geringe Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität, die dazu führen kann, dass unterschiedliche Formen des Begehrens sowie die Bedeutung von „positiver Lust“ nicht erfahren wurden. „Die Negation der Lust führt paradoxerweise in einem solchen Kontext zu ihrer Entgrenzung“, schreibt Caroline Emcke.11 Nur wenn man weiß, dass Begehren im Zusammenhang mit unbedingtem Wollen steht, ist man in der Lage, hier eine Grenze zu ziehen. Ansonsten kann es sein, dass Grenzüberschreitungen gar nicht erst wahrgenommen werden. Sie vertrauen darauf – so wie es in vielen Bereichen ihres Lebens von ihnen gefordert wird –, dass der Vorgesetzte die Entscheidung über die Angemessenheit der Handlung trifft.

Das alles führt dazu, dass der erwartete Widerstand vor dem Missbrauchsgeschehen ausbleibt. Betroffene werfen sich im Nachhinein vor, sich nicht genügend gewehrt und somit schuldig gemacht zu haben.12

„Meine emotionale Abhängigkeit von ihm war in dieser Phase schon so massiv, dass mich seine Drohungen in eine lebensbedrohliche Situation brachten.“13

Ein weiterer Faktor, der dazu führt, dass Ordensfrauen über ihre Misshandlungen schweigen, ist die emotionale Abhängigkeit und soziale Isolation, die oft innerhalb des seelsorglichen Kontextes strategisch vom Täter herbeigeführt wird. In diesem Szenario sieht die Betroffene den Täter als ihre einzige Bezugsperson, der ihr Zuneigung, Verständnis sowie Interesse an ihrer Person zeigt. Die sexuellen Übergriffe werden dann zwar als psychisch sehr belastend wahrgenommen, aber die Angst vor der Einsamkeit besiegt den Drang, das grausame Geheimnis zu lüften.14

All das lässt Frauen schweigen. All das lässt Frauen mit ihrem Leiden allein.

Schweigen brechen

Umso wichtiger ist es, solche kirchlichen Systeme offenzulegen und aufzubrechen. Darüber hinaus müssen Resonanzräume für Betroffene geschaffen werden, in denen sie Solidarität, Hilfe und Unterstützung sowie die nötige Sicherheit erfahren, um ihre Geschichte zu teilen. Je häufiger Betroffene eine Sprache für das schier Unaussprechliche finden, desto mehr öffnen sich auch neue Perspektiven für diejenigen, die sich bisher nicht zu wehren wussten oder zu sprechen trauten. Eindringlich schließt die Betroffene Ellen Adler ihren Bericht daher mit der Bitte ab: „Schweige nicht! Sprich darüber, meine Schwester!“15

Hashtag der Woche: #schweigenbrechen


Beitragsbild: @treymusk

1 Sr. Fabrizius, Pauletta (Pseudonym): Wenn damals manchmal gestern ist, in: Leimgruber, Ute (Hg.) u.a.: Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020, S.66.

2 ebd. S.68; (Das Titelzitat „Ich sage niemandem davon ein Sterbenswörtchen.“ ist hier zu finden).

3 Sanyal, Mithu: Vergewaltigung: Aspekte eines Verbrechens, Bonn 2017, S.24.

4 vgl. https://thedecisionlab.com/biases/just-world-hypothesis https://thedecisionlab.com/biases/just-world-hypothesis/https://thedecisionlab.com/biases/just-world-hypothesis/https://thedecisionlab.com/biases/just-world-hypothesis/(Abruf am 26.06.22).

5 Jeder Missbrauchsfall ist selbstverständlich verschieden, muss separat untersucht und kann nicht pauschal beurteilt werden.

6 Sr. Fabrizius, Pauletta (Pseudonym): Wenn damals manchmal gestern ist, in: Leimgruber, Ute (Hg.) u.a.: Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020, S.67.

7 vgl. hierzu beispielsweise den Text von Papst Franziskus: Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium. An die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens und an die Christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Bonn 2013 (VAS 194).

8 Das Wort „Täter“ wird hier bewusst nicht gegendert, da sich die Untersuchung auf ausschließlich weibliche Betroffene und männliche Täter bezieht.

9 Leb, Miriam (Pseudonym): Freiheit durch Vergebung, in: Leimgruber, Ute (Hg.) u.a.: Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020, S.124.

10 Berra, Cornelia (Pseudonym): Immer noch auf dem Weg zu mir selbst, in: ebd. S.50.

11 Emcke, Carolin: Wie wir begehren. Frankfurt a.M.6 2016, S.79.

12 vgl. hierzu unter anderem: Sr. Fabrizius, Pauletta (Pseudonym): Wenn damals manchmal gestern ist, in: Leimgruber, Ute (Hg.) u.a.: Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020, S.65.

13 Weißenfels, Karin (Pseudonym): Zum Schweigen gebracht und kaltgestellt, in: ebd. S.174.

14 vgl. Haslbeck, Barbara: Warum haben die Frauen nicht nein gesagt? Psychotraumatologische und systemische Einsichten, in: ebd. S. 221–232.

15 Adler, Ellen (Pseudonym): Dafür sind wir nicht zuständig, in: ebd. S.33.

 

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hannah wahlers

studierte Katholische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2017 arbeitet sie am Lehrstuhl für Pastoraltheologie in Bochum.

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