Darf man, während russische Truppen nun schon über zwei Monate die Ukraine verheeren, einen Abend auf der Couch verbringen, um ein Weltkriegsdrama auf Netflix zu verfolgen? Jonatan Burger meint: Ja. Denn „Schatten in meinen Augen“ wirft auch gegenwärtig relevante, existenzielle Fragen nach der Tragkraft des Glaubens im Angesicht von Tod und Gewalt und der (Un‑)Möglichkeit eines „gerechten Krieges“ auf.

Als der dänische Regisseur und Filmautor Ole Bornedal die Idee entwickelte, den Luftangriff der Royal Air Force auf die Gestapo-Zentrale der während des Zweiten Weltkriegs ab 1940 von den Deutschen besetzten dänischen Hauptstadt Kopenhagen zum Ausgangspunkt seines Dramas „Schatten in meinen Augen“ (Trailer) zu machen, konnte er nicht ahnen, dass seine Produktion von Netflix in einer Zeit veröffentlicht würde, in der in europäischen – diesmal ukrainischen – Städten wieder täglich Luftalarm ertönt und Bomben fallen.

Mit Blick auf die Geschehnisse und das Leid in der Ukraine wirkt es befremdlich, im sicheren Deutschland unterhaltsame Netflix-Produktionen zu verfolgen. „Schatten in meinen Augen“ zieht seine Zuschauer*innen allerdings nicht durch actionreiche Kampfszenen in den Bann. Vielmehr besticht und beklemmt die Art und Weise, in welcher der Film die Folgen von Besatzung und Krieg für die (psychische) Gesundheit, die Zukunftshoffnungen und – nicht zuletzt – den Glauben seiner Protagonist*innen nachzeichnet. Dabei überrascht insbesondere die Intensität, mit der sich Bornedal christlichen Motiven widmet.

Ein Weltkriegsdrama, das sich tatsächlich ereignet hat

Der Film basiert auf realen Ereignissen: Am 21. März 1945 griff die Royal Air Force im Zuge ihrer Operation Carthage das Gestapohauptquartier in Kopenhagen, das so genannte Shellhaus, an. Da die Gestapo – um genau dies zu verhindern – dänische Widerstandskämpfer zynischerweise als „menschliche Schutzschilde“ im Dachgeschoss des Gebäudes inhaftiert hatte, mussten die Flugzeuge inmitten der Großstadt sehr tief fliegen, um die niedriger gelegenen Stockwerke anzugreifen. Dabei kam es direkt zu Beginn der Operation zum folgenschweren Absturz einer Maschine. Die Flugzeuge der späteren Angriffswellen attackierten deshalb nicht mehr das Shellhaus, sondern die von Ordensschwestern geführte Jeanne d’Arc-Schule, in deren Nähe sich der Absturz ereignet hatte. Allein dort starben 93 Schüler*innen und 16 Erwachsene – der Film nennt im Abspann ihre Namen.

„Schatten in meinen Augen“ kombiniert – ähnlich wie das 2021 veröffentlichte Netflix-Drama „Die Schlacht um die Schelde“, das im Frühjahr 1945 in den Niederlanden spielt und ebenfalls moralische Dilemmata thematisiert – mehrere Erzählstränge. Da ist die Geschichte um den Jungen Henry, der mit ansehen muss, wie britische Piloten fälschlicherweise nicht ein deutsches Militärfahrzeug, sondern eine dänische Hochzeitsgesellschaft beschießen, und seitdem weder sprechen noch in den freien Himmel blicken kann. Da ist seine lebensfrohe Cousine Rigmor mit ihren Eltern, bei denen er in Kopenhagen Aufnahme findet. Da ist der dänische Kollaborateur Frederik, der in der Tätigkeit als Hilfspolizist für die Gestapo seine berufliche Lebenschance sieht und kurz vor der Kapitulation Deutschlands einsehen muss, dass er seine Zukunft auf der falschen Seite der Geschichte verwettet hat.

Tiefe Glaubenszweifel 1945 – und heute?

Und da ist die junge Ordensschwester Teresa, die angesichts der alltäglichen Gewalt der Deutschen gegen dänische Widerstandskämpfer*innen und der Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden, was selbst unter ihren Mitschwestern noch mit antijüdischen Ressentiments kommentiert wird, von tiefen Glaubenszweifeln geprägt ist. Versucht Teresa zunächst, durch Selbstgeißelung die Nähe Gottes zu spüren, will sie später durch den Bruch ihrer Gelübde ein göttliches Zeichen provozieren.

Wie lassen sich die Erzählung des Rosenwunders der heiligen Elisabeth von Thüringen, das die Kopenhagener Kinder unter Anleitung der Nonnen im Schultheater aufführen, und das göttliche Stillschweigen und Nicht-Eingreifen angesichts von Shoah und Millionen Kriegstoten auch denkerisch harmonisieren? Sind der Kinderglaube ihrer Schülerin Rigmors, die Weihwasser als Antidot ansieht, oder die Zusicherung ihrer Mutter Oberin, das Gott doch überall und damit auch im Leid gegenwärtig sei, vor diesem Hintergrund intellektuell nicht völlig unlauter?

Teresa macht sich im Film vor ihren Schüler*innen über Marienfrömmigkeit und den Glauben an wundersam weinende Statuen lustig. Im Jahr 2022 hat Papst Franziskus Russland und die Ukraine dem Herzen Mariens geweiht, im ohnmächtigen Wissen darum, dass wohl niemand – nicht einmal die Weltmacht USA – Putin stoppen wird, die gesamte Ukraine in Schutt und Asche zu legen, weil dies das Risiko eines Atomkriegs unkalkulierbar werden ließe. Kann man beim gebannten Blick in den Tagesschau-Newsticker Teresas Glaubenszweifel heute also nicht allzu gut nachvollziehen?

Welche Hoffnung bleibt?

Zuletzt lässt Teresa ihre Schützlinge im Unterricht Bleistifte vom Tisch werfen, um zu veranschaulichen, dass auch die Aufmerksamkeit Gottes „ab und an mal Pause macht“. Auch 2022 kann man sich – nicht nur in der Ukraine, sondern auch etwa in Äthiopien oder im Jemen – mit der skeptischen Teresa fragen, wie es um diese wohl bestellt sein mag – und damit die uralte Theodizee-Frage aktualisiert stellen. Allerdings vollzieht der Film mithilfe dieses Motivs einen scharfen Perspektivwechsel: Denn wenige Minuten später finden sich Teresa und Rigmor nach dem britischen Fehlangriff verschüttet im Keller wieder, der langsam, aber sicher mit (Lösch-)Wasser vollläuft und für sie vom Luftschutzraum zur Todesfalle geworden ist. „Hat Gott jetzt gerade einen Bleistift fallen lassen?“ Die Frage des ertrinkenden Kindes lässt aus Teresas verzweifeltem Spott tödlichen Ernst werden.

„Komme ich in den Himmel?“; „Wartet Jesus dort auf mich?“ – Verschüttet im Keller will, ja kann Teresa Rigmor diese Fragen nicht mit Nein beantworten – egal, ob sie von ihrer eigenen Antwort überzeugt sein mag. Selbst wenn man den mit Blick auf die grausame Wirklichkeit schal gewordenen religiösen Verheißungen für sich persönlich keinen Glauben mehr schenken kann, so bleibt die dahinter liegende Frage virulent: Ist man dann nicht dennoch verpflichtet, zumindest für andere, für unschuldige Kinder, für die Menschen unter den Trümmern des Theaters von Mariupol, auf diese Verheißungen zu hoffen?

Gerechtigkeit in Kriegszeiten?

Wie Matthias Halbing in seiner Filmrezension für das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) deutlich macht, sind der Krieg Russlands gegen die Ukraine und der alliierte Angriff auf die Gestapo in Kopenhagen nicht eins zu eins zu vergleichen. Handelte es sich bei den toten Kindern in Kopenhagen um unbeabsichtigte, tragische Opfer menschlichen Versagens, folgt der Krieg von Putins Truppen gegen die Zivilbevölkerung gerade einem zynischen militärischen „Kalkül“. Allzu schnelle historische Gleichsetzungen verbitten sich angesichts der deutschen Geschichte und des Angriffskriegs auf die Sowjetunion ab 1941 ohnehin, wenn auch der Vergleich bisweilen ein geeignetes Analysemittel sein mag.

Durchaus vergleichbar sind jedoch die moralischen Dilemmata: Der Angriff auf das Shellhaus erfolgte 1945 erst nach langem Zögern und nur deshalb unter Inkaufnahme auch von Todesopfern unter den gefangenen Widerständler*innen, um zu verhindern, dass die Gestapo den dänischen Widerstand in Gänze zerschlägt, also im Sinne des ethisch prekären, u. a. auch im Neuen Testament dokumentierten Arguments, es sei besser, „wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht“ (Joh 11,50). Im Jahr 2022 stellen sich ähnliche Fragen: Welches Maß an militärischer Unterstützung für die Ukraine ist moralisch möglich oder gar geboten? Kann bei der Verteidigung der Ukraine gegen die russische Aggression von einem „gerechten Krieg“ gesprochen werden? Oder ist die Gerechtigkeit nicht das erste Opfer des Krieges und verbittet sich dieser Begriff aufgrund der Schrecken und Konsequenzen des modernen Krieges dennoch, wie Papst Franziskus 2020 in seiner Enzyklika Fratelli tutti (258) mahnte?

„Schatten in meinen Augen“ führt uns vor Augen, mit welchen Glaubenszweifeln und moralischen Dilemmata die Generation unserer (Ur-)Großeltern in Europa umgehen oder aufwachsen mussten. Nun werden diese durch die Ereignisse in der Ukraine nicht nur in deren Erinnerung wieder wachgerufen, sondern nur einige Stunden von uns entfernt aufs Neue für Millionen Menschen existenziell und lebensbedrohlich. Und dies leider nicht nur auf Netflix.

Hashtag der Woche: #standwithukraine


Beitragsbild: Netflix

 

 

 

 

 

Print Friendly, PDF & Email

jonatan burger (er/ihn)

studierte von 2012-2018 Katholische Theologie in Freiburg und promoviert nun im Fach Christliche Sozialethik. Er ist Referent an der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und Teil der Redaktion von y-nachten.de.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und bin mit dem Speichern der angegebenen Daten einverstanden: