Die Begegnung von Theologie und Öffentlichkeit kann für beide eine rätselhafte Erfahrung darstellen. Franca Spies überlegt, warum sich die Theologie dieser Irritation dennoch aussetzen sollte.

In einem Aufsatz aus dem Jahr 1927 vergleicht Karl Barth die Theologie mit der griechischen Sphinx, die die Stadt Theben belagert und ihre Einwohner*innen mit dem immer selben Rätsel konfrontiert. Schließlich ist es Ödipus, der das Rätsel lösen kann, und der Sphinx zur Antwort gibt, dass sie — diese selbst so eigenartige Kreatur — die ganze Zeit ausgerechnet nach ihm und seiner Spezies gefragt hat. Steht die Sphinx dem Mythos zufolge dem Menschen genauso rätselnd gegenüber wie umgekehrt?

„Was ist das? fragt der naive Betrachter der Sphinx, aufs Tiefste befremdet, und das wirklich nicht mit Unrecht. Und wird doch in seinem Befremden die Gegenfrage nicht überhören können, die die Sphinx ihm zurückzugeben scheint: wer denn etwa er, das betrachtende Menschlein, sein möchte? Was ist das? hat nicht nur die naive Betrachter und überhaupt nicht nur der Betrachter der Theologie zu fragen immer wieder Anlaß und wird dann doch gleichfalls nicht umhin können, gewahr zu werden, dass ihm, je ernsthafter und dringlicher er etwa fragt, eine Rückfrage entgegenkommt, auf die sich einzulassen vielleicht leichter ist, als mit ihr fertig zu werden.“1

Ein staring contest mit Folgen

Wie Ödipus mag es Barth zufolge also einem modernen Menschen ergehen, der mit seinen Anfragen die Theologie ansieht, nur um in diesem staring contest im Auge der Theologie nicht weniger Anfragen an sich zu erkennen, über die es sich hoffentlich nachzudenken lohnt.

Indem ich Barth gegen den Strich lese,2 möchte ich eine weitere Interpretation der Theologie als thebanischer Sphinx vorschlagen: Das Besondere an der Begegnung zwischen Ödipus und der Sphinx ist, dass sie sich gegenseitig das Rätsel aufgeben, das sie selbst sind. Mehr als diese Einsicht fordert die Sphinx von den vorüberziehenden Menschen auch nicht. Sicherlich könnte man in Barths Analogie die Rollen vertauschen: Blickt die Theologie heute nicht den Menschen oder, weiter gefasst, die Gesellschaft, die ihr begegnet, mit demselben Ausmaß an cringe an wie die Gesellschaft die Theologie?

Neben dieser düsteren Diagnose lässt sich Barths Vergleich auch eine hoffnungsvolle Perspektive abgewinnen: dass es nämlich gerade die Begegnung mit einem zunächst vermeintlich unberührten Gegenüber braucht, um eine Antwort auf die Frage zu ermöglichen, wer oder was man denn eigentlich ist und sein will — und natürlich um diese Frage überhaupt erst Gestalt annehmen zu lassen. In diesem Sinne möchte ich in diesem Artikel fragen, was passiert, wenn sich Theologie bewusst der Sphinx zuwendet, die sich gesellschaftliche Öffentlichkeit nennt.

Kenne Deine Grenzen

Wer y-nachten.de liest, hat vermutlich (nicht nur einen ausgezeichneten Geschmack, sondern auch) Interesse an theologischen Fragestellungen. Die Autorin eines Artikels für dieses Portal kann ihr Publikum halbwegs in den Blick zu nehmen versuchen, sie kann eine bestimmte Sprache wählen oder die Besonderheiten des digitalen Vermittlungsmediums für sich gebrauchen (😘).

Dennoch liegt die Ausführung der Theologie, die sie damit anstrebt, nicht nur in ihrer Hand. Offensichtlich hängt sie auch am Medium, an den konkreten Umständen der Leser*innen – die Liste ließe sich endlos fortführen. Hinzuzufügen sind natürlich insbesondere die (biblischen, theologiegeschichtlichen) Wissenstraditionen und Diskurse, in denen sich theologische Überlegungen unweigerlich bewegen. Theologie existiert in Form konkreter Performanzen, in Akten, in denen sich theologisches Wissen durch ein Zusammenspiel diskursiver und materieller Begebenheiten ereignet. Diese Umstände schmälern die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft oder konkret von Theologie in keinster Weise, ganz im Gegenteil: Dass die sich so ereignende Konfiguration von Wissenschaft reflektiert, wenngleich nicht vollständig eingeholt werden kann, verleiht der Theologie größere hermeneutische Sicherheit bezüglich ihrer Erkenntnisbedingungen und -grenzen.3

Wenn sich Sphinx und Mensch begegnen, konfiguriert sich je neu eine Idee dessen, was sie selbst sind und ob und wie sie nach sich selbst und der jeweils anderen Größe fragen wollen. Genauso entsteht Theologie in der Begegnung von Theologie und Öffentlichkeit im Zusammenspiel verschiedener Faktoren je neu.

Doing Public Theology: Die Mitte des Marktes

Was sind nun die Spezifika einer „public theology“, einer öffentlichen Theologie, die sich bewusst einem breiteren Publikum zuwendet? Wenn Theolog*innen den Versuch unternehmen, mit ihrer Wissenschaft an die Öffentlichkeit zu treten, ist es gut, sich das gegenseitige Bedingungsverhältnis beider vor Augen zu halten: Dies mindert die Gefahr, Theologie als ein abstraktes Theoriegebäude zu verstehen, das in der kommunikativen Praxis einfach als solches dargestellt werden muss, um seine Wirkmacht zu entfalten. Die Anerkenntnis der praktischen Struktur theologischen Arbeitens entlastet Theolog*innen von der Versuchung der „Einheitsfiktionen“.

Neben dieser grundlegenden hermeneutischen Einsicht sind (neben anderen) zwei inhaltliche Besonderheiten einer ausdrücklich öffentlichen Performanz von Theologie zu benennen: ihre „Marktförmigkeit“ und ihre Exzentrizität.

Zunächst zum Stichwort der Marktförmigkeit, das hier nur bezüglich theologischer Inhalte und nicht bezüglich deren medialer Inszenierung angedacht werden soll. Liegt die Absicht einer theologischen science-to-public Kommunikation darin, die „Ergebnisse“ theologischer Forschung an ein breiteres Publikum zu bringen und sie damit natürlich auch neuerlich zu produzieren, folgen daraus einige spezifische Faktoren der Rückwirkung, die diese Kommunikationsform unweigerlich auf die Theologie haben wird: Um die Relevanzfrage kommen Theolog*innen bei einem solchen Versuch nicht herum. Wer ein breiteres Publikum ansprechen möchte, wird sich also um die gesellschaftliche Nachfrage nach den eigenen Inhalten Gedanken machen müssen. Dass auf diese Einsicht folgend manch Vertreter*innen der Zunft ein Entsetzensschrei entfährt, weil dies ja nun kein Maßstab für Theologie sein könne, ändert nichts daran, dass keine Theologie ohne ein gewisses Maß an Adaptabilität an die jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten je überleben könnte. Es ist sogar zu fragen, ob in der Leistung der Adaptation angesichts sich ändernder Umstände nicht der eigentliche Ort von Theologieproduktivität oder gar theologischer Wahrheit zu suchen ist.4 Eine zu erlangende Marktförmigkeit von Theologie hat zudem mindestens einen weiteren Effekt: Wenn eine Theologie angesichts ihres öffentlichen Auftritts und ihrer Breitenwirksamkeit die eigene Relevanz überprüft, muss sie im Zuge dessen ihre Problemorientierung schärfen — nach außen, indem sie kritische Potentiale ihres Denkens eruiert, und nach innen, indem sie sich von ihrem Gegenüber in den eigenen Überzeugungen hinterfragen lässt.

Daraus geht bereits hervor, dass die produktive Begegnung mit Öffentlichkeiten der Theologie neue Lernorte erschließt. Wirkt der Weg „nach außen“ performativ auf theologisches Nachdenken zurück, so wird die Inanspruchnahme von „exzentrischem Wissen“5 zu ihrem Charakteristikum. Mehr noch: Unter der Annahme, dass sich Theologie in der jeweiligen Performanz ihres Wissens neu erzeugt, muss insgesamt überdacht werden, welche Erkenntnisorte gewissermaßen im „Zentrum“ und welche in der „Peripherie“ liegen und ob eine dichotome Verhältnisbestimmung beider überhaupt aufrechtzuerhalten ist. Jedenfalls hat eine Theologie, die „außer sich“ ist, die Chance, die Zwänge ihrer eigenen Performativität zu überprüfen, dadurch blinde Flecken zu identifizieren und eine Verschiebung ihrer Maßstäbe zu ermöglichen.6

Ein Tun öffentlicher Theologie lohnt sich also schon alleine für sie selbst. „Wer bin ich eigentlich? Wem höre ich zu? Mit wem spreche ich?“, fragt sich die Theologie, wenn sie der Sphinx der Öffentlichkeit gegenübersteht.

Hashtag der Woche: #staringcontest


Dieser Artikel entstand auf Anregung der Cardo-Redaktion und wird im Cardo 2022 in ausführlicher Form (aber ohne Sphinx) erscheinen.

Beitragsbild: @vincefleming

1 Karl Barth, Die Theologie und der moderne Mensch, in: Karl Barth Gesamtausgabe Bd. III, hg. von H. Schmidt, Zürich 1994, 160–182, 165.

2 Nach Barth ist es natürlich die Theologie, die dem Subjekt das Eigentliche über sein Dasein mitzuteilen hat, indem sie ihn befragt: „nicht nach dem, was er erwählen könnte, sondern ob er ein Erwählter sei, nicht nach seinem Urteil über das Wort Gottes, sondern nach dem Urteil des Wortes Gottes über ihn“ (Barth, 172). Das hierarchische Verhältnis, das der Mythos letztlich zwischen Sphinx und Mensch vermutet, und das sich in der brutalen Strafe durch die Sphinx im Falle des Versagens manifestiert, wirft in Barths Verhältnisbestimmung von Theologie und Mensch noch seine Schatten.

3 Selbstverständlich lässt sich diese wissenschaftstheoretische Verortung der Theologie völlig anders bestimmten; allein die Auseinandersetzung zwischen „kontinentaler“ und „analytischer“ Theologie, die seit einigen Jahren im deutschsprachigen Raum geführt wird, zeugt davon.

4 Vgl. mit Bezug zu Bruno Latour: Michael Schüßler, Latours hybride Schöpfung: Transformationen einer Theologie der Digitalität, in: D. Bogner / Ders. / C. Bauer (Hg.), Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft. Theologie neu denken mit Bruno Latour, Bielefeld 2021, 161–193.

5 Vgl. zum Begriff Sabine Hark, Feministische Theorie – Diskurs – Dekonstruktion, in: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse Bd. 1, hg, von R. Keller u. a., Opladen 2001, 353–371, 365f.

6 Vgl. Claudia Danzer / Franca Spies, Non obstat sexus. Anfragen an den Zusammenhang von Geschlecht und Gelehrsamkeit, in: C. Ströbele / A. Dziri / A. Middelbeck-Varwick / A. Omerika (Hg.), Theologie – gendergerecht? Perspektiven für Islam und Christentum, Regensburg 2021, 223–239, 231ff.

Print Friendly, PDF & Email

franca spies

studierte katholische Theologie in Freiburg und Jerusalem. Nach ihrer Promotion in Freiburg arbeitet sie nun in der Fundamentaltheologie an der Universität Luzern. 2016 hat sie y-nachten mitgegründet und gehört bis heute der Redaktion an.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und bin mit dem Speichern der angegebenen Daten einverstanden: