Wie sollen christliche Theologien und Kirchen mit der AfD umgehen? Hilft der Begriff der rechten Normalisierung als Analysewerkzeug um die aktuellen Diskursverschiebungen zu verstehen? Die Autor*innen des neuen Sammelbands „Rechte Normalisierung und politische Theologie“ widmen sich diesen Fragen und machen sie selbst zum Gegenstand theologischer Reflexion. Unsere Redakteurin Claudia Danzer hat den Band für uns gelesen.
Für die Entstehungsgeschichte des Sammelbandes „Rechte Normalisierung und politische Theologie“ ist ein Rückblick in das Jahr 2018 von Bedeutung: Volker Münz, religionspolitischer Sprecher der AfD, war zu einer Podiumsdiskussion auf den Katholik*innentag in Münster eingeladen worden. Das rief große innerkirchliche Proteste hervor. Die Initiator*innen der „Münsteraner Erklärung für eine mutige Kirche“ plädierten dafür, Volker Münz wieder auszuladen. Aus dieser Initiative kritischer Theolog*innen entstand für eine weitere Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Umgang mit der AfD der Arbeitskreis Politische Theologie, der den frisch erschienenen Sammelband nun verantwortet.
„Dabei wird die Frage nach dem Umgang mit der AfD nicht bloß als eine pragmatische, sondern als eine genuin theologische gesehen, die eine kritische Selbstreflexion von Theologie und Kirche erfordert“. (AK Politische Theologie)
Zum Arbeitskreis Politische Theologie zählen die Herausgeber*innen des Sammelbandes Jan Niklas Collet, Julia Lis, Gregor Taxacher sowie einige der Autor*innen1. Die Kontroverse um die Präsenz der AfD auf dem Katholik*innentag hat zu einer grundsätzlichen Debatte geführt: Wie als katholisch-kirchliche Institution mit der AfD umgehen? Klare Kante oder direkte Konfrontation? (Wer es nachlesen möchte: Auch in der y-nachten.de-Redaktion wurden damals Argumente für und gegen den nachträglichen Ausschluss des AfD-Politikers von der Podiumsdiskussion diskutiert.)
Die Strategie der rechten Normalisierung
Die Herausgeber*innen setzen sich auch mit der ihnen entgegengebrachten Kritik an der Münsteraner Erklärung auseinander, die sich vor allem um die Frage dreht, inwiefern die katholische Kirche als Institution demokratisch gewählten Vertreter*innen den Dialog verweigern darf (S. 11). Der Sammelband widmet sich den daran anschließenden Fragen nach dem zugrundeliegenden Demokratieverständnis der Kritik, sowie den aktuellen Bestrebungen rechter Gruppen, durch eine Strategie der rechten Normalisierung das Ziel einer Diskursverschiebung des Sagbaren zu erreichen.
Ziel des Sammelbandes ist es, die Strategie der rechten Normalisierung als Herausforderung für die christliche Theologie zu begreifen und Ideologiekritik an der eigenen christlichen Tradition zu betreiben, „gerade dort, wo diese für Strategien rechter Normalisierung empfänglich bleibt oder auch unfähig erscheint, diesen wirksam entgegenzutreten.“ (S. 10)
Dabei geht die ideologiekritische Herangehensweise vom Diktum des zitierten Soziologen Wilhelm Heitmeyer aus:
„Zunächst stand die Formel ‚Wehret den Anfängen‘ hoch im Kurs, empirisch adäquater wäre längst ‚Wehret der Normalisierung‘. Denn was als normal gilt, kann nicht problematisiert werden.“ (S. 25)
Ausgrenzen und/oder Auseinandersetzen?
Für die vorgenommene Standortbestimmung werden auch sozialwissenschaftliche Perspektiven zu Rate gezogen. Floris Biskamp und Thomas Wagner vertreten dabei unterschiedliche Positionen: Während Floris Biskamp für eine „Ausgrenzungsstrategie“ (S. 52) plädiert, problematisiert Thomas Wagner im Interview diese Strategie. Er sieht darin die Gefahr, dass diese auf diverse andere Positionen, die nicht die eigenen sind, ausgeweitet werden könne, und wirbt für „eine harte Auseinandersetzung und den Streit“ (S. 68).
Für den Sammelband ist der Einblick in unterschiedliche sozialwissenschaftliche Perspektive rund um die Auseinandersetzung mit der AfD ein großer Gewinn. Im ersten Teil, der sich den sozialwissenschaftlichen Reflexionen widmet, wird – neben den beiden vorgestellten Positionen – auch den Arbeiten von Daniel Keil und Sonja Angelika Strube Raum gegeben. Bezogen auf das Sozialmilieu des Katholizismus hat Sonja Angelika Strube mit ihren Studien eine nicht wegzudenkende Grundlage für die aktuelle Forschungsdiskussion zu den möglichen Schnittstellen von Neuer Rechten und Katholizismus geschaffen. In ihrem Beitrag fragt sie sich u. a., wie und wodurch Kirchen autoritäre Tendenzen verstärken und kommt zu dem Schluss:
„Autoritäre Unterwürfigkeit wird im religiösen Bereich überall da gefördert, wo religiöse Instanzen eine diskussions-, kritik- und widerspruchslose Zustimmung einfordern und eine solche Haltung als einzig legitime oder zumindest ehrenwerteste Form von Frömmigkeit bewerten.“ (S. 105)
Unterbrochen werden können nach Sonja Angelika Strube diese autoritären Tendenzen im christlich-religiösen Raum durch die Unterstützung von
„religiöse[n] Praxen, die die eigene Urteilsfähigkeit und die Entwicklung eines reifen autonomen Gewissens ermöglichen und fördern, die zu neugierig-weltoffenen dialogischen Haltungen Andersdenkenden gegenüber ermutigen und zugleich auch faire streitbar-kritische Auseinandersetzungen aushalten und zulassen.“ (S. 116)
Damit bleibt ihr Beitrag nicht bei der Problemdiagnose stehen, sondern entwirft auch Visionen, was aus christlicher Perspektive den festgestellten autoritär-religiösen Dynamiken entgegengesetzt werden kann.
Theologische Selbstkritik: Was sind Entstehungsbedingungen von Rechtspopulismus?
Der zweite Teil des Sammelbandes verschreibt sich theologischen Reflexionen und nimmt sich der Frage nach dem Umgang mit der AfD als genuin theologische Frage an.
„Im Horizont der Neuen Politischen Theologie lässt sich das Profil dieses Bandes anhand von vier Merkmalen präziser darlegen. Es handelt sich um ein theologisches, akteursbezogenes, selbstreflexives und positioniertes Vorhaben.“ (S. 31)
Dabei plädieren Jan Niklas Collet und Fana Schiefen für einen Theorienpluralismus für die Politische Theologie, der sich den Kriterien des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses und der Ideologie- und Machtkritik verschreibt (S. 130). In weiteren theologischen Reflexionen geben Ulrich Engel, Jonas Erulo, Julia Lis und Gregor Taxacher Einblicke in ihre Überlegungen zu einer Politischen Theologie gegen eine rechte Normalisierung.
Exemplarisch für diese Überlegungen, soll hier in Kürze Jan Niklas Collet zu Wort kommen, der in seinem Beitrag noch einmal differenziert, inwiefern der Begriff der rechten Normalisierung einen analytischen Rahmen für die Beschäftigung mit dem Umgang mit der AfD darstellt und welche Rolle theologische Denkmuster dabei spielen:
„In diesem Sinne gebrauche ich den Begriff der rechten Normalisierung hier vor allem als kritischen und analytischen Begriff für mögliche Prozesse der Normalisierung rechter Positionen. Ich behaupte also nicht, dass solche Prozesse in Kirchen und Theologie in der jüngsten Zeit stattgefunden haben oder dass sie zwingend stattfinden werden, sondern dass aufgrund bestimmter Konstellationen, Denkformen, Traditionen usw. unter bestimmten diskursiven Bedingungen solche Prozesse auch durch theologische und kirchliche Praxis verstärkt werden und in ihnen stattfinden können.“ (S. 165)
Ein Beispiel für ein Denkmuster, das solche Prozesse bestärken kann, ist die sog. Ideologie der Ungleichwertigkeit, in der bestimmte soziale Gruppen ─ beispielsweise aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ─ sozial abgewertet werden. Diesen Denkmustern innerhalb der theologischen Tradition nachzugehen, ist Aufgabe einer sich als Politische Theologie verstehenden Theologie.
Und die Praxis?
Den dritten Teil und damit auch den Abschluss des Bandes bilden Perspektiven auf die Praxis von Christoph Holbein-Munske und Judith Wüllhorst und ein Epilog der Herausgeber*innen. An dieser Stelle wären für interessierte Leser*innen sicher noch weitere konkrete Praxisberichte und die Analyse von Handlungsoptionen im kirchlichen Umgang mit der AfD gewinnbringend gewesen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Sammelband zu Anschlussprojekten in diesem Themenfeld motiviert.
Viel Stoff für eine weitere Debatte
Insgesamt überzeugt der Sammelband durch seinen stringenten Aufbau, seine klar interdisziplinäre Ausrichtung und die Qualität und Breite seiner Beiträge. Dem*der Leser*in wird deutlich, dass hinter den Beiträgen ─ wie von den Herausgeber*innen selbst beschrieben (S. 10) ─ viele Jahre gründlicher Auseinandersetzung und Diskussion unter den Autor*innen liegen. Dies zeigt sich positiv auch in den vielen Verweisen und Bezugnahmen untereinander.
Gerade weil es bisher nur wenige genuin theologisch-wissenschaftliche Publikationen zum Umgang mit der AfD gibt, ist dieser Sammelband ein Gewinn für die Debatte. Er füllt eine Diskurslücke und lädt zu weiteren kontroversen Debatten ein. Die Autor*innen appellieren mit Dringlichkeit an die Verantwortung von christlicher Theologie und Kirche als gesellschaftliche Akteur*innen. In diesem Punkt sieht sich der Sammelband traditionsbewusst der Neuen Politischen Theologie von Johann Baptist Metz verpflichtet, deren Kerngedanke darin besteht, dass es „eine im strengen Sinne unpolitische Theologie überhaupt nicht geben kann“ (S. 123).
Hashtag der Woche: #wehretdernormalisierung
(Beitragsbild @Arthur Edelmans)
Jan Niklas Collet / Julia Lis / Gregor Taxacher, Rechte Normalisierung und politische Theologie, Regensburg 2021.
Der Redaktion wurde vom Verlag ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
1 Jan-Hendrik Herbst, Judith Wüllhorst, Jonas Erulo, Fana Schiefen und Christoph Holbein-Munske.