Papst Franziskus hat das Rücktrittsgesuch von Reinhard Kardinal Marx abgelehnt. In seinem Brief zitiert er die Rede von der „schamlosen Dirne“ aus Ez 16 – eine fragwürdige Anspielung, finden Judith König und apl. Prof. Dr. Gerlinde Baumann.

Der Brief von Papst Franziskus an Reinhard Kardinal Marx, den der Vatikan am 10.06.21 veröffentlicht hat, ist nicht leicht zu deuten. Papst Franziskus lehnt darin zunächst das Rücktrittsgesuch von Kardinal Marx ab. Was darüber hinaus die Kommunikationsabsicht dieses Briefes gewesen sein mag, ist umstritten; stärkt der Papst nun den Befürworter*innen von Reformen in der Kirche den Rücken oder erteilt er ihnen eher eine Absage? Und lässt sich die Ablehnung des Rücktrittsgesuches als Unterstützung für den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki interpretieren?

Weder um Reformen noch um Kardinal Woelki geht es uns nun in diesem Artikel, sondern um eine Leerstelle in der Diskussion, die verblüfft. Was kaum1 beachtet wird in der Debatte um den Brief des Papstes: Franziskus bezieht sich auf einen alttestamentlichen Text, Ezechiel 16. Wörtlich schreibt Franziskus: „Als Kirche müssen wir um die Gnade der Scham bitten, damit der Herr uns davor bewahrt, die schamlose Dirne aus Ezechiel 16 zu sein.“ Im spanischen Original ist von „la prostituta“ die Rede. Es wird das Bild der Prostituierten/Dirne verwendet, um auf ein Verhalten Bezug zu nehmen, das die Kirche vermeiden soll.

Wie hilfreich ist es aber, sich in den Sprachbereich einer ohne weitere Erklärung verwendeten sexualisierten Rede hineinzubegeben, wenn es – dies sei hier unterstellt – im Brief auch um einen reflektierten Umgang der Kirche mit sexualisierter Gewalt geht?

Sexualisierte Sprache und patriarchale Muster in Ez 16

Der Frage, ob in diesem Rahmen rein sprachlich der Verweis auf die „schamlose Dirne“ angemessen ist, schließen sich weitere Fragen an, sobald man Ez 16 aufschlägt.

In Ez 16 wird die personifizierte Stadt Jerusalem in direkter Anrede des Bruchs ihrer Ehe mit Gott bezichtigt. Dieser Ehebruch, „Hurerei“ genannt, hat bei Ezechiel eine Vorgeschichte. Gott rettet den weiblichen Säugling Jerusalem, ein Kind von zweifelhafter Herkunft, das nach der Geburt ausgesetzt wurde, und nimmt sich seiner an. Als das Mädchen geschlechtsreif wird, heiratet er es und überhäuft seine Ehefrau mit Pracht und Reichtum. Doch sie dankt es ihm nicht, sondern bricht die Ehe („hurt“) mit den Großmächten der Zeit. Diesen überträgt es Gott dann, sie für den Ehebruch zu bestrafen. Diese Bestrafung wird im Bild als öffentliche Entblößung ihres Genitalbereichs ausgemalt. Die Alttestamentlerin Ilse Müllner findet deutliche Worte für diese Gemengelage: „Gott als Gewalttäter [erniedrigt] seine Ehefrau Israel sexuell“2. Ez 16 endet schließlich mit der Ankündigung „So sollst du gedenken, sollst dich schämen und wirst vor Scham den Mund nicht mehr öffnen können, weil ich dir Versöhnung gewähre für alles, was du getan hast – Spruch Gottes, des Herrn.“ (Ez 16,63)

Bibelausleger*innen haben schon vor Längerem darauf hingewiesen, welche Denkweisen sich in Ez 16 niedergeschlagen haben. Ideologie- oder kulturkritisch betrachtet manifestiert sich hier nicht nur ein zutiefst patriarchales Frauenbild, demzufolge „gute“ weibliche Sexualität nur die ist, die von Männern kontrolliert wird.

Besonders heikel wirkt dieser Text, wenn er mit den Rechtfertigungsstrategien verglichen wird, die sich heute im Kontext sexuellen Missbrauchs finden. Das hat unter anderem die Theologin Elke Seifert in ihrer Marburger Dissertation „Tochter und Vater im Alten Testament“ bereits 1997 getan.3 Das Mädchen Jerusalem wird beinahe ausschließlich als Sexualobjekt dargestellt; sie wird im Text nur durch den männlichen Blick auf ihren „heranreifenden“ Körper sichtbar. Zusätzlich ist ein deutliches Machtgefälle zwischen „ihr“ und Gott erkennbar. Das zeigt sich nicht zuletzt dadurch, dass „sie“ im gesamten Kapitel nicht einmal selbst zu Wort kommt. Im Gegenteil: Der wiederhergestellte, eindeutig positiv konnotierte „Bund“ wird in Ez 16,63 damit verbunden, dass „ihr“ Mund verschlossen bleibt. Das Machtgefälle zwischen „ihm“ und „ihr“ erinnert aus heutiger Perspektive an sexuellen Machtmissbrauch – was in Anbetracht des Kontextes, in den hinein der Brief von Papst Franziskus an Kardinal Marx geschrieben wurde, verheerend ist.

Drängende Rückfragen

Auch wenn die bibelwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ez 16 damit natürlich noch nicht abgeschlossen ist, erscheint es uns an dieser Stelle wichtig, zumindest einige der drängenden Fragen, die dieser Text aus heutiger Sicht aufwirft, in die Diskussion um den Brief von Papst Franziskus einzubringen.

Erstens: Welches Gottesbild transportiert Ez 16? Was können die Überlebenden sexueller bzw. sexualisierter Gewalt von einem Gott erwarten, dessen Rolle hier – aus heutiger Sicht – der eines sexuellen Gewalttäters ähnelt? Diese Frage wird umso virulenter, wenn der zentrale Gedanke des systematischen Theologen Hans-Joachim Sander zur Bedeutung Gottes für die Überlebenden sexualisierter Gewalt bedacht wird. Er betont, dass „Gott in den Missbrauchstaten eine bestärkende Ressource für Betroffene“ sein muss, „eine Macht im strikt positiven schöpferischen Sinn“4.

Zweitens: Die Rede von der „Dirne“/„Prostituierten“ markiert in weiten Bereichen des kirchlichen (besonders des katholischen) Sprachgebrauchs selbstbestimmte und als moralisch verwerflich einzustufende sexuelle Handlungen von Frauen. Auch in Ez 16 wird die als „Hurerei“ bezeichnete sexuelle Aktivität der personifizierten Stadt Jerusalem explizit negativ bewertet. Aus heutiger Sicht schildert Ez 16 aber über weite Strecken ein Abhängigkeitsverhältnis, das auch von sexueller bzw. sexualisierter Gewalt geprägt ist. Steht hier also nicht nur ein misogynes Frauenbild, sondern auch die Gefahr einer Täter-Opfer-Umkehr im Raum?   

Und schließlich: Was kann die Anspielung auf Ez 16 bei heutigen Überlebenden sexualisierter Gewalt auslösen? Welche Verantwortung tragen Akteur*innen in Kirche und Wissenschaft deshalb – tragen also wir –, wenn wir Texte wie Ez 16 in kirchlichen Kontexten verwenden, in denen Überlebende sexualisierter Gewalt involviert sind? Können diese Texte, die in der anglophonen Bibelwissenschaft als „pornoprophetics“5 bezeichnet werden, überhaupt ohne die Begleitung durch kritische Reflexion und ohne explizite Distanzierung verwendet werden? Für die wissenschaftliche Theologie beantwortet Ilse Müllner diese Frage eindeutig: „Die kritische Perspektive gegenwärtiger Theologie ist hier besonders stark gefordert, weil sie sich gegen den autoritativen Text stellen muss, wenn sie ihre anthropologischen Maßstäbe nicht verlassen will.“6

Hashtag: #schamlos


(Beitragsbild: @xaviercoiffic)

1 Siehe aber den Facebook-Beitrag der Gruppe „Homosexuelle und Kirche“ [Zugriff: 24.06.2021], der vom Portal katholisch.de sehr knapp aufgenommen wurde, und die Aufnahme des Themas durch den Alttestamentler Benedict Schöning auf Twitter.

2 Ilse Müllner, Kein herrschaftsfreier Raum. Sexualität und Macht in biblischen Schriften, in: JBTh 33 (2018), 26.

3 Vgl. Elke Seifert, Tochter und Vater im Alten Testament. Eine ideologiekritische Untersuchung zur Verfügungsgewalt von Vätern über ihre Töchter (Neukirchener theologische Dissertationen und Habilitationen 9; Neukirchen-Vluyn 1997), bes. 259-268.

4 Hans-Joachim Sander, Anders glauben, nicht trotzdem. Sexueller Missbrauch der katholischen Kirche und die theologischen Folgen (Ostfildern 2021), 36.

5 Z.B. bei Athalya Brenner, Pornoprophetics Revisited: Some Additional Reflexions, JSOT 70 (1996), 63-86.

6 Müllner, Kein herrschaftsfreier Raum, 26.

Co-Autorin: Gerlinde Baumann ist evangelische Theologin mit dem Schwerpunkt Altes Testament (apl. Prof. an der Philipps-Universität Marburg), Übersetzerin, Dozentin (Erwachsenenbildung) und Lektorin. Forschungsschwerpunkte: Weisheit und Gottesbild (Gewalt, Genderfragen) im Alten Testament, Bibelhermeneutik.

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judith könig

studierte in Regensburg Katholische Theologie (Mag. Theol.). Seit 2017 arbeitet sie an der Universität Regensburg am Lehrstuhl für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments als wissenschaftliche Mitarbeiterin; von 2019 bis 2020 in derselben Funktion zusätzlich an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik.

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