In der Rubrik Spoiler Alert liefern wir kurze und knackige Texte über (pop)kulturelle Niceigkeiten. Neue Platten, Video-Spiele, Essaysammlungen und Romane, Theaterstücke — nichts ist vor uns sicher. Im heutigen Artikel schreibt Mathias Albracht über die Platte Like a Ship (Without a Sail) aus 1971 und das große Potential dieser Musik für’s Heute.

Würde jemand heute fragen, wie gerade so meine persönliche Stimmung ist, dann wäre meine Antwort ziemlich klar: Die Luft ist raus.

Mit dem Coronavirus gehen wir offenbar bald in die – hoffentlich wirksamere – dritte Runde Lockdown. Das ist gut und richtig, aber zu wenig. Zero Covid wäre mir lieber. Bonjour Tristesse. Weil wir uns mit einem Baby daheim und aller Verwandtschaft, Netzwerke und Freund*innen weit weg keinen Infekt leisten können (den sich übrigens niemand leisten kann), bleiben wir in unserer Dreizimmerwohnung eingeigelt, wohl wissend darum, dass das noch eins der privilegierteren Settings ist.

Trotzdem: Luft raus, Akku leer, Tage fühlen sich an wie Kopien von Kopien von Kopien. Als Seelsorger weiß ich: Auf Dauer macht das was mit mir.

Und das bringt mich immer wieder an den Punkt, an dem ich mich frage: Was sind eigentlich die Dinge, die Wurzeln, die mich in dieser Situation innerlich noch halten?

Jenseits der Sonnenseite

Für mich selbst kann ich das nach einem gewissen Nachdenken irgendwie beantworten. Es hat etwas mit meiner Spiritualität zu tun. Gerade war Ostern. Mein Christentum ist für mich eine Religion der, so mag ich es nennen, anderen Momente. Gerade auch für Momente jenseits der sunny side of life. Gott zeigt sich im neuen Testament als Menschensohn, als einer, der mit den Leuten mitgeht, nicht nur durch das alltägliche business as usual, sondern auch dahin wo es richtig wehtut. Gott gibt mir etwas, weil das große Finale an Ostern eben nicht eine große Show auf einem perfekt ausgeleuchteten shiny floor war, sondern das volle Spektrum zwischen auszehrender Finsternis des Karfreitags und dem überhellem Ostermorgen. „Wie strahlendes Licht wird die Nacht mich umgeben“, singt das Exsultet. Das geht, mit diesem Gott.

Trotzdem als Prinzip

Dieser Glaube birgt ein Trotzdem. Hoffnung, die über den Moment hinaustragen kann. Und für dieses Trotzdem habe ich im letzten Jahr einen passenden Soundtrack gefunden, den ich nicht für mich behalten möchte: Es ist eine Neupressung einer LP von 1971: „Like a Ship (Without a Sail)“ von Pastor T.L. Barret und dem Youth for Christ Choir.

Nie gehört? Nicht schlimm, ich bis vor kurzem auch nicht.

Der Drive dieses Albums wird später noch an anderer Stelle Karriere gemacht haben, die Band auf der Platte besteht aus niemand geringerem als Mitgliedern des späteren Funk-Monuments „Earth Wind and Fire“. (Do you remember?)

Segel setzen

Auf „Like a Ship (Without a Sail)“ ist Gospel das, was sich vor allem non-PoC Imitator*innen des Genres seit jeher verzweifelt versuchen anzueignen: Herausgesungene Emotion und ein Credo auf die Ohren der Hörer*innen. Es gibt auch diesen Gott. Den Gott, der hinsieht. Das Album ist von 1971. Es ist auch Teil einer Emanzipationsgeschichte unter den Augen eines voll Hoffnung besungenen Gottes, der genau weiß, wie die vorgeblich christliche Politik des weißen Westens der frühen Seventies nur wenige Jahre nach dem formellen Ende der Rassentrennung wirklich tickt und ihre Spiele treibt.

Es wird ein Gott besungen, der dem dümpelnden Lebensschiff grauer und zäher Tage ohne Horizont ein Segel geben soll. Der jeden erdenklichen Weg in die tiefsten Abgründe mitgeht. Der vor dem Undenkbaren und Unerträglichen des Alltags die Augen nicht verschließt, nichts vergessen wird und mitgeht. Nobody knows but Jesus.

Eine Musik mit einem mitreißendem Drive wie selten. Eine Klanginstallation aus Hoffnung, die ich den Sänger*innen abkaufe.

Zeit für diese Musik

„Like a Ship (Without a Sail)“ ist ein Album, das mir Respekt abverlangt. Gott ist nicht mein Gott, ohne dass er nicht auch der Gott der Anderen ist, für die das Leben nicht so rosig ist. Es ist Zeit für diese Musik. Für mich ist sie ein Ansporn weiterzugehen, weil ich auch an eine Zukunft glauben mag, die heller ist als die Vergangenheit und alle Trübsal jetzt gerade.

Auch wenn sie aus einer anderen Zeit stammt: Die Hoffnung und der Drive dieses Albums springen über.

 

Hashtag: #trotzdem


(Beitragsbild: @krisroller)

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mathias albracht

hat katholische Theologie, Philosophie und Kulturwissenschaften in Paderborn und Uppsala studiert. Im Bistum Münster kümmert er sich um die Verkündigung in den öffentlich-rechtlichen Medien.

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