Warum die Psalmen in unserer Zeit so aktuell sind, darüber schreibt Dr. Carolin Neuber. In unserer Reihe #Requiem machen wir uns auf die Suche, wie sich die Corona-Pandemie auf unseren Umgang mit Tod und Trauer auswirkt.

„Ich werde nicht sterben, sondern leben“ – So lässt es sich mit Psalm 118,17 sprechen. Man könnte in einem solchen Satz eine Verdrängung des Todes und der Sterblichkeit finden, die man – vor Corona – der modernen Gesellschaft oft nachsagte. Diese Haltung wird aber in der Pandemie durch die allgegenwärtige subtile Gefahr der Erkrankung und des Todes erschüttert. Doch der Psalmvers spricht ja gerade nicht von einer Verdrängung des Todes, sondern von einer Zuversicht angesichts des Todes – und angesichts Gottes, an den das Psalmengebet gerichtet ist.

Die Psalmen schieben den Tod nicht beiseite, im Gegenteil. In den Psalmen gibt es viele Todesbilder, darunter teils massive Bilder, in denen man sich jedoch leicht wiederfinden kann. Der klagende Mensch versinkt „in tiefem Schlamm und Wasserfluten“ (69,3), oder ist „ausgegossen wie Wasser“ (22,15), „zerflossen wie Wachs“ (22,15), „zerbrochen wie ein Gefäß“ (31,13), „wie die, die in die Grube hinabsteigen“ (28,1; 88,5), „wie Gras, das verdorrt“ (102,5.12), ein Nichts, ein Hauch, ein Schatten, die vergehen (39,6f.; 62,10f.; 109,23; 144,4). Diese Bilder der Vergänglichkeit stammen aus dem alltäglichen Leben oder aus der Pflanzenwelt und sind, obwohl sie über 2.000 Jahre alt sind, immer noch unmittelbar verständlich. Sie sprechen davon, dass mitten im Leben der Tod mächtig und bestimmend werden kann. So z. B. Psalm 88, einer der dunkelsten Psalmen der Bibel. Hier ein Ausschnitt:

2 HERR, du Gott meiner Rettung, am Tag und in der Nacht schrei ich vor dir. […]
4 Denn mit Leid ist meine Seele gesättigt, mein Leben berührt die Totenwelt.
5 Schon zähle ich zu denen, die hinabsteigen in die Grube,
bin wie ein Mensch, in dem keine Kraft mehr ist.
6 Ausgestoßen unter den Toten,
wie Erschlagene, die im Grab liegen, derer du nicht mehr gedenkst,
abgeschnitten sind sie von deiner Hand.
7 Du brachtest mich in die unterste Grube,
in Finsternisse, in Tiefen.

(Psalm 88,2–7)

Der Tod ist die Erfahrung äußerster Beziehungslosigkeit

Diese Todesmetaphorik der Psalmen überrascht heute vielleicht. Es wird meist gar nicht deutlich, welche konkrete Erfahrung dahintersteckt – Krankheit, Anfeindung? Doch das Ich, das in den Psalmen zu Wort kommt, fühlt sich durch diese Not bereits dem Tod ausgesetzt: „Mein Leben berührt die Totenwelt.“ Der Tod wird als Grube, Grab, Tiefe und Finsternis gezeichnet; als eine Dimension, die sich weit entfernt vom „Land der Lebenden“ befindet. Wer  nur in die Nähe dieser Todesdimension gerät, spürt darin bereits seine ganze Wirklichkeit. Denn JHWH, der Gott des Lebens, ist im Alten Testament eigentlich gar nicht „zuständig“ für die Totenwelt; wer einen Schritt in Richtung Totenwelt macht, gerät in Gefahr, aus seinem Wirkungskreis herauszufallen. Daher die dringende Bitte um Rettung vor dem, was schon als nahender Tod empfunden wird.

Wer tot ist, steht nicht mehr in Beziehung zu JHWH – und zu niemandem sonst. Der Tod ist die Erfahrung äußerster Beziehungslosigkeit. Deshalb kann auch die Anfeindung durch Andere in Todesmetaphern ausgedrückt werden. Das soziale Leben wird nicht vom leiblichen Leben getrennt; das Alte Testament hat da ein Menschenbild, das wir heute ganzheitlich nennen würden. Neben dem biologischen Leben und Tod gilt es auch die soziale Eingebundenheit bzw. den sozialen Tod zu beachten. Gerade in den Psalmen ist nicht immer zu entscheiden, ob eine körperliche oder soziale Not hinter der Klage steht. So bittet etwa Psalm 6,3 um Heilung, „denn ich welke dahin“, während in den Versen 9–11 von Übeltuenden und Feinden die Rede ist. Wie sehr Krankheit und sozialer Tod zusammengehören, wird in Psalm 41 sichtbar. Hier blickt das Ich in den Versen 5–10 auf seine Not zurück.

5 Ich sagte: HERR, sei mir gnädig! Heile mich, denn ich habe gegen dich gesündigt!
6 Meine Feinde reden über mich böse: Wann stirbt er endlich und wann vergeht sein Name?
7 Besucht mich jemand, so kommen seine Worte aus falschem Herzen.
Er häuft für sich Unheil an, dann geht er hinaus und redet.
8 Gemeinsam tuscheln über mich alle, die mich hassen, und gegen mich sinnen sie Böses.
9 Verderben hat sich über ihn ergossen; wer einmal daliegt, der steht nicht mehr auf.
10 Auch mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, hat die Ferse gegen mich erhoben.

(Psalm 41, 5–10)

Die Todesbilder der Psalmen sprechen von der Brüchigkeit des Lebens

Wieder geht es um Heilung, dann aber klagt das Ich über Leute, die es offenbar am Krankenbett (vgl. Vers 4) besucht haben und die anschließend über den Kranken tuscheln – selbst der Freund und Vertraute! Es wird deutlich, wie alles zusammenhängt: Körperliche Krankheit sorgt dafür, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden, was wiederum ein Gefühl entstehen lässt, dass alle Beziehungen zugrunde gegangen sind, als ob man schon tot wäre: „Mein Leben berührt die Totenwelt.“ Leicht sind Anknüpfungspunkte für heute zu erspüren: Das Alleingelassensein der Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen seit Beginn der Corona-Pandemie; die soziale Kälte, die sich durch heruntergefahrene Beziehungen ausbreitet; der Ausschluss von Menschen mit Krankheiten und Behinderungen aus unserer Lebenswelt, aus unseren Beziehungen, auch schon vor Corona… Zugleich können wir durch die empfundene Bedrohlichkeit des Virus ermessen, welche Erschütterung, Verunsicherung, Infragestellung der eigenen Sicherheit und des Lebens durch eine empfundene Lebensminderung entstehen kann. Die Todesbilder der Psalmen entspringen keiner überbordenden Emotionalität, sondern sind empfindsame Zeugen für die Brüchigkeit des Lebens in allen Dimensionen.

Die Psalmen kennen aber nicht nur die Metaphorik der Todesnähe, sondern sprechen auch vom tatsächlichen Tod. Psalm 90 beklagt die Vergänglichkeit des Menschen und bittet um ein Gelingen der uns gewährten Zeit: „Die Zeit unseres Lebens währt siebzig Jahre, wenn es hochkommt, achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Verhängnis, schnell geht es vorbei, wir fliegen dahin“ (Vers 10). Dagegen setzt die österliche Botschaft der Auferstehung einen Kontrapunkt: Auch im Tod und über den Tod hinaus ist Gott wirksam! Anfänge eines Übergangs vom Tod zum Leben sind aber schon in den Psalmen, z. B. in Psalm 16 und Psalm 49 sichtbar. Ist die Beziehung zu Gott so intensiv und dauerhaft, dass nicht einmal der Tod sie unterbrechen kann, dann eröffnet sich eine Perspektive jenseits des Todes:

„Gott wird mich auslösen aus der Gewalt der Unterwelt, ja, er nimmt mich auf“ (Ps 49,16).

Die Psalmen sind Ausdruck des nach Leben verlangenden Menschen; sie sind als Weg vom Tod zum Leben angelegt, denn das Ziel ist immer die Rettung aus der Todessphäre und die Rückkehr zum Leben. Die Worte der Psalmen sind wirksam, auch heute noch, weil es Worte sind, die ich mir nicht selbst sagen kann, die mir aber zu-gesagt werden: „Ich werde nicht sterben, sondern leben.“

Hashtag: #Requiem


(Beitragsbild @purzlbaum)

Anmerkung der Autorin: Meine Gedanken wurden angeregt durch Publikationen von Ingo Baldermann, Bernd Janowski, Kathrin Liess, Johannes Schnocks und Erich Zenger – Danke!

Die Bibeltexte sind der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe, Katholische Bibelanstalt, Stuttgart 2016 entnommen.

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dr. carolin neuber

hat neben katholischer Theologie in Augsburg und Innsbruck auch Mathe und Physik auf Lehramt studiert. Sie hat eine Doktorarbeit zu den Psalmen verfasst und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Altes Testament in Freiburg i.Br.

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