In unserer Reihe #Requiem machen wir uns auf die Suche, wie sich die Corona-Pandemie auf unseren Umgang mit Tod und Trauer auswirkt. Christoph Naglmeier beschäftigt sich dabei mit den Schwierigkeiten des kollektiven Trauerns.

Weltweit sind mittlerweile über zweieinhalb Millionen Menschen nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 gestorben.1 Über 2.500.000 Einzelschicksale. Eine schier unübersichtlich hohe Zahl an Personen, um deren Tod Familien, Freund*innen und Bekannte trauern. Wie aber gehen wir als Kollektiv mit dieser extremen Häufung individueller Trauererlebnisse um? Kann es so etwas wie kollektive Trauer überhaupt geben?

Fest steht, dass kollektives Trauern mitten in einer fortwährenden Katastrophe eine Herausforderung darstellt. Während nach einer punktuellen Katastrophe – etwa einem Erdbeben oder Terroranschlag – ein Ritual wie ein öffentlicher Trauergottesdienst einen Moment des Innehaltens, des Zusammenrückens, des Abschließens und damit einen hoffnungsgeleiteten Blick in die Zukunft markieren kann, stellt sich die Situation während einer fortwährenden Katastrophe weitaus diffuser dar. Gerade bei dieser hohen Zahl an Todesfällen wird das Sterben „häufig auf die reinen Fallzahlen reduziert“ und dadurch lediglich statistisch wahrgenommen, „um es als individuelles Sterben zu begreifen.“2 Das „Mittendrin-Sein“ erschwert die Situation. Schließlich ist eine der wesentlichen Wirkungen von Gedenkritualen, dass „dadurch auch Betroffene, Opfergruppen erst definiert werden. Durch die Zahl der Kerzen, durch die Nennung der Namen, durch Beteiligung von Repräsentant:innen. Deshalb ist das inmitten einer laufenden Krise, die immer neue Opfer fordert, schwer.“3

Außerdem ist die Vielfältigkeit der Trauer zu bedenken. Kerstin Menzel bringt es auf den Punkt: „Nicht nur die Krankheit selbst, die Überlastung des Gesundheitssystems oder das Sterben an Corona verursachen Opfer. Auch die Kontaktbegrenzungen und fehlende körperliche Berührungen, auch wirtschaftliche Folgen und die Schließung von Bildungseinrichtungen haben Leiden zur Folge, und ja, auch Leiden, das nicht wieder gut zu machen ist. Alte Menschen verlieren unter der Vereinsamung ihren Lebenswillen. Kinder werden Opfer häuslicher Gewalt oder verwahrlosen.“4 Und so weiter.

Die Historikerin Ute Frevert weist darauf hin, dass das Virus als Verursacher der Katastrophe keine staatlichen oder europäischen Grenzen kennt.

Das Virus handelt „anders als warlords, vollkommen absichts- und richtungslos. Man stirbt nicht an ihm, weil man Teil eines nationalen, sozialen, ethnischen etc. Kollektivs ist oder für dieses Kollektiv steht. Deshalb haben kollektive Trauerrituale ein strukturelles Problem.“5

Ein Blick in die Geschichte der Pandemien bestätigt das. Im Vergleich zu Kriegen finden sich bei vergangenen Pandemien nur wenige Spuren des kollektiven Erinnerns. Zum Beispiel hat die sogenannte Spanische Grippe vor hundert Jahren ganze Dörfer ausgelöscht. An jenen Orten lässt sich aber nicht einmal eine Plakette finden, die an die Tragödie erinnert.6

Die politische Dimension des Trauerns

Dass die Trauer mittlerweile politisch aufgeladen ist, zeigt die emotionale Meinungsbildung bezüglich des politischen Kurses der Regierungsparteien. Welche Maßnahmen sind im Verhältnis zu welchen Kollateralschäden legitim und welche Verordnungen stehen nicht mehr im Verhältnis zum dadurch direkten oder indirekt verursachten Schaden? Sterben die Menschen mit oder an Corona oder ist Corona letztlich eine Erfindung der Pharma-Industrie?

Letztlich ist die Entscheidung, wer der Trauer würdig ist, eine Machtfrage, die sowohl von sinnvoller als auch von abstruser Meinungsbildung verhandelt wird.7

Die Entscheidung, ob anerkannt wird, dass jemand an einem Virus, das in pandemischen Zügen global grassiert, oder nur der Totenschein manipuliert wurde, entscheidet über die Betrauerbarkeit. Dass dieser Diskurs überhaupt geführt werden muss, erschwert kollektives Trauern. Judith Butler spricht hier von einer Hierarchie, die sich in der Verteilung öffentlicher Trauer bemerkbar macht.8 Dazu kommt ein Aspekt, der mit Blick auf die USA und Brasilien deutlich auffällt: Kollektive Trauer wird aus Angst vor den Folgen umgangen, stattdessen wird von einer „neuen Normalität“ gesprochen. Der Grund? „Trauer kann eine beachtliche Macht entfalten. Sie schweißt zusammen und verlangt Respekt. Sie löst Wut und Protest aus und rüttelt an gesellschaftlichen Machtverhältnissen.

Was würde passieren, wenn sich die Trauer von Millionen Menschen in den USA oder Brasilien Bahn bräche? Es wäre nicht unwahrscheinlich, dass ein solches kollektives Innehalten und Besinnen viele politische Verantwortungsträger als handlungsunfähige Phrasendrescher entlarven würde.

Denn Slogans wie ‚America first‘ oder ‚Brasilien über alles‘ werden trauernde Familienangehörige wohl kaum trösten, und erst recht nicht die wirklichen politischen und gesellschaftlichen Probleme lösen.“9 Somit wäre kollektive Trauer die Entmachtung derjenigen, die sie verdrängen.

Ist Kollektive Trauer möglich?

Sichtbarmachung ist das Stichwort. Was sichtbar gemacht wird, kann gesehen und damit betrauert werden. Es ist angesichts der hohen Zahl an Verstorbenen nicht möglich, jedes Einzelschicksal durch Trauerrituale sichtbar zu machen. Aber eine repräsentative Sichtbarmachung – wie es beispielsweise die New York Times im Mai 2020 mit der Nennung von 1.000 Namen getan hat – trägt dazu bei, als Gesellschaft kollektive Trauer zu erleben. Auch Kerzen in Fenstern oder Kerzen an öffentlichen Plätzen mit einem Hinweisschild erzeugen Sichtbarkeit. Inwiefern Kirchen oder Religionsgemeinschaften Trauerrituale initiieren können, die gesamtgesellschaftlich als kollektive Trauer wahrgenommen werden, ist unklar, da fraglich ist, ob „sie noch genügend soziale Reichweite besitzen“. Ute Frevert meint, dass eine Initiative geeignet wäre, „die von mehreren zivilgesellschaftlichen Organisationen getragen“ würde.10 Daran könnten sich wiederum Kirchen und Religionsgemeinschaften beteiligen oder sie initiieren, sich dabei aber bewusst Bündnispartner*innen mit ins Boot holen. Denn grundsätzlich gilt: Trauer ist systemrelevant.11

Hashtag der Woche: #requiem


Beitragsbild: S. Hermann & F. Richter (Pixabay)

[1] World Health Organization, https://covid19.who.int/ [11.03.21]

[2] Interview mit Petra Bahr, https://www.domradio.de/themen/corona/2020-12-16/kollektive-trauer-wichtig-bischoefin-bahr-fordert-covid-tote-aus-anonymitaet-zu-holen [11.03.21]

[3] Kerstin Menzel, „Nur wer klagt, hofft“ – Die „Lügen der Tröster“ in Zeiten der Pandemie, https://www.feinschwarz.net/nur-wer-klagt-hofft/ [11.03.21]

[4] Menzel, Nur wer klagt, hofft, https://www.feinschwarz.net/nur-wer-klagt-hofft/ [11.03.21]

[5] Interview mit Ute Frevert, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-tote-gedenken-100.html [11.03.21]

[6] Vgl. Interview mit Petra Bahr, https://www.domradio.de/themen/corona/2020-12-16/kollektive-trauer-wichtig-bischoefin-bahr-fordert-covid-tote-aus-anonymitaet-zu-holen [11.03.21]

[7] Vgl. Michaela Neulinger, Welchen Tod betrauern wir? Welches Leben suchen wir? Kritische Interventionen zur Trauer- und Lebensethik, https://www.feinschwarz.net/welchen-tod-betrauern-wir-welches-leben-suchen-wir-kritische-interventionen-zur-trauer-und-lebensethik/

[8] Vgl. Interview mit Brigitte Kölle, https://www.monopol-magazin.de/interview-brigitte-koelle-corona-tote-trauer

[9] Astrid Prange, Wo bleibt die Trauer für Corona-Tote?, https://www.dw.com/de/kommentar-wo-bleibt-die-trauer-f%C3%BCr-corona-tote/a-54210861

[10] Interview mit Ute Frevert, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-tote-gedenken-100.html [11.03.21]

[11] Vgl. Michael Hollenbach, Trauer ist systemrelevant, https://www.deutschlandfunk.de/totengedenken-in-der-pandemie-trauer-ist-systemrelevant.886.de.html?dram:article_id=491997 [11.03.21]

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christoph naglmeier-rembeck (er/ihm)

studierte von 2015 bis 2020 Katholische Theologie und ist jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik in Regensburg. Er ist Teil der Redaktion von y-nachten.de.

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