Noch ist der Ausgang der US-Wahl offen. Wieder einmal hat die Religion im Wahlkampf eine große Rolle gespielt – und tut dies nun auch in der ungewissen Wartezeit. Andreas G. Weiß blickt auf die religionspolitische Gemengelage in den USA.

Wer Wind sät, wird Sturm ernten (Hos 8,7) – wer mit religionspolitischen Sicherheiten hantiert, läuft Gefahr, Glaubwürdigkeit zu verspielen. So ließe sich die Stimmung in zahlreichen religiösen Kreisen wohl derzeit pointiert zusammenfassen. Vieles steht in den USA derzeit auf der Kippe – und damit ist nicht nur der Ausgang der diesjährigen Präsidentschaftswahl gemeint.

Politik in religiösen Bezügen

Nicht wenige populäre Prediger*innen unterschiedlichster Konfessionen haben sich vor dem 3. November 2020, dem Tag der seit Monaten als „Schicksalswahl“ inszenierten Abstimmung um das Weiße Haus, festgelegt: Diese Wahl ist nicht nur eine Entscheidung auf politischer Ebene, sondern hier geht es um den Zusammenhalt, ja die Frage von Leben und Überleben einer ganzen Nation. Den Kandidaten wurden Zuschreibungen zwischen Heil und Erlösung, Verderben und Verdammnis oder Sicherheit und Chaos beigefügt. Mit theologisch angehauchten Begriffen wurde nicht gespart, um die beiden Wahlalternativen zu charakterisieren. Argumentationslinien ließen sich auf beiden Seiten als Ausformungen quasi-messianischer Hoffnungs- und scheindiabolischer Unheilsszenarien ausweisen. Dass dies einerseits für die US-Religionslandschaft charakteristisch ist, die jedoch viele außeramerikanische Beobachter*innen ratlos zurücklässt, ist eine Erfahrung, die bei allen Wahlen der letzten Jahre nachempfunden werden konnte. Doch dieser Blick bleibt nur an der Oberfläche.

Wer sich die Mühe macht und genauer hinschaut, wird schnell merken, dass die Selbstverständlichkeit schmilzt, mit der die beiden Großparteien lange Zeit ihre Wähler*innenstimmen generiert haben. Die Verzahnung von Religion und Politik, die Einbettung des mitunter sehr weltlichen Geschehens im „Oval Office“, dem Kongress oder in den Parteien in (quasi-)religiöse Bezüge hat in den Vereinigten Staaten eine lange Geschichte. Was sich in den ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten im Bewusstsein von „We, the People“ besonders unter protestantischen Vorzeichen abspielte, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem konfessions- und religionsübergreifenden Phänomen entwickelt.

Das Krisenjahr 2020

Die Vorstellung ist alt, dass die Person im Oval-Office sinnbildlich für Segen oder Fluch der „Nation under God“ steht, jedoch entwickelte sich dieser Führungsanspruch besonders im Angesicht einer wachsenden Säkularisierung US-weit zu einem neuen Ausmaß religionspolitischer Explosivität. Auf diese Weise verschieben sich die Akzente – besonders in einem Land, das zurzeit nicht nur unter der Corona-Pandemie zu leiden hat, sondern infolgedessen auch von einer Wirtschafts- und Beschäftigungskrise heimgesucht wird, die es seit dem Zusammenbruch der Wirtschaft im Jahr 1929 in diesem Ausmaß nicht mehr erlebt hat. Was den internationalen Auftrag der „City Upon a Hill“ anbelangt, macht sich gleichzeitig in vielen Kreisen Ratlosigkeit breit. Dies verändert nicht zuletzt die Wahlmotive und Zukunftshoffnungen. Vorbei scheint die Zeit, als die Vereinigten Staaten als missionierende Schutzmacht der „freien westlichen Welt“ aufgetreten sind.

Der Blick wandert nach innen – die „America First“-Strategie hat im Krisenjahr 2020 einen realpolitischen Nährboden gefunden. Dazu kommt gegenwärtig, dass es besonders der Blick auf die eigene Staatslage ist, der den politischen Führungsriegen Schweißperlen und Sorgenfalten auf die Stirn zaubert. Die USA befinden sich nicht nur in einer Wirtschafts- und Gesundheitskrise, sondern sie erleben auch eine Krise des patriotischen Selbstbewusstseins. Die messianisch anmutende Inszenierung der Kandidat*innen in den Wahlkämpfen der Großparteien wirkt zunehmend zahnlos. Besonders in der republikanischen Partei dürfte man sich bewusst sein, dass mit Donald Trump eine Politfigur gekommen ist, die dem jahrelangen Drang nach außen in die internationale Führungsposition als Vorreiter multilateraler Bündnisse ein abruptes Ende gesetzt hat. Dabei ist dieser pointierte Fokus auf das nationale Geschehen keinesfalls erst eine Erfindung von Donald Trump. Vielmehr kriselt es in der einstmaligen Führungsmacht des demokratischen Westens schon seit Jahrzehnten. Die Stimmen wurden immer lauter, dass man nicht mehr „Welt-Polizei“ spielen sollte. Trump wirkte für viele US-Amerikaner*innen nach innen wie ein konservativer Ruhepol, der mit seiner konsequenten Pro-Israel-Politik und einer restriktiven Richterbesetzung punkten konnte, sich aber nicht um internationale Einsätze, Verträge oder Verantwortungen in der Staatengemeinschaft kümmerte.

Trump bleibt vielfach der religiöse Hoffnungsträger

Der 3. November 2020 hat die vielfach erhoffte Beruhigung der Gemüter nicht gebracht. Es gab weder eine „rote Welle“ (der Trump-Unterstützer*innen) noch den erhofften Erdrutschsieg der demokratischen Partei. Den elendslang erscheinenden Auszählungsrunden könnten wochenlange Gefechte vor Gericht folgen. Dies hält jedoch die treuesten religionspolitischen Steigbügelhalter*innen von Trumps Politik nicht davon ab, auch weiter die religiös ausstaffierte Wahlmaschinerie zu befeuern. Sie tun dies in einem fast verzweifelten Glauben an den Mann, der 2016 die religionspolitisch symbolhaft so wichtige Funktion des US-Präsidenten von den verhassten Demokrat*innen wieder zurückgewonnen hat. Über seine moralischen Fehler, seine zweifelhafte persönliche Integrität blicken sie schon seit mehr als vier Jahren gekonnt hinweg – ungeachtet der Gefahr, bei ihren eigenen Gläubigen an Überzeugungskraft einzubüßen. Unbeirrt scheinen sich manche religiöse Anführer*innen weiterhin hinter dem schwächelnden „Man in Charge“ zu scharen und ihm mit spirituell durchaus fragwürdigen Mitteln den Rücken zu stärken.

Die Bibelmarathons, Gebetsrunden und Kampfsegnungen mancher Gruppierungen wirken dennoch hilflos. Dass einige von ihnen – etwa die protestantischen TV-Prediger*innen Paula White, Robert Jeffress oder Kenneth Copeland – weiterhin an der klassisch-religiösen Färbung des republikanischen Kandidaten Trump festhalten, mag aus deren Sicht konsequent wirken. Doch zeigt gerade jenes christlich fundierte Selbstverständnis, das sie in ihren Reden ansprechen wollen, deutliche Risse: Die USA befinden sich in einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess. Klassische Wählerblöcke brechen auf. Ähnlich wie die demokratische Partei nicht mehr automatisch auf Stimmen vonseiten der afroamerikanischen Bevölkerung oder der Latinos zählen kann, so wenig können republikanische Kampagnen nur mehr mit den klassisch-konservativen Slogans christlicher Erwählungshoffnungen eine Wahl gewinnen. Die Kandidatur des ersten mormonischen Politikers in den Reihen der „Grand Old Party“, nämlich Mitt Romney im Jahr 2012, hat bereits auf dieses Wegbrechen klassisch religiöser Identitätsmarker hingewiesen. Im aktuellen Wahlkampf zeigte die kleine, aber bemerkenswerte Gruppe der „Evangelicals for Biden“ (das religiöse Pendant zu „Republicans for Biden“) das Auseinanderdriften klassischer Wählerpotentiale an.

Die Wahl 2020 ist sinnbildlich für eine Umwälzung in der US-Politik: Beide Kandidaten bezeichneten sich zwar als gläubige Christen, beide sehen sich als Vorreiter einer selbstbewussten Spiritualität, gleichzeitig werden sie nicht müde, sich von einer klassischen Ordnung konfessioneller Eingrenzung loszusagen. Dass der presbyterianisch aufgewachsene US-Präsident Donald Trump sich wenige Tage vor der Wahl zu einem „non-denominational“-Christen erklärt hat, passt in diese Richtung. Ebenso, dass Joe Biden – der immer wieder als „liberal“ stigmatisierte Katholik – sich im Zuge der „Black-Lives Matter“-Proteste in afroamerikanisch-protestantischen Gemeinden ablichten ließ, die unter normalen Umständen recht wenig mit katholischer Spiritualität zu tun haben wollen. Beide Kandidaten wiesen mit ihrem „eindeutig-uneindeutigen“ Bekenntnis in eine ähnliche Richtung: Aus der einstmals konfessionell gebundenen „Christlichen Nation“ wird im Rahmen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umschichtungen eine zunehmend offen gehaltene „Nation (Maybe) Under (Some) God“.

American Dream(s)?!

Urbanisierung und Säkularisierung in den Ballungsgebieten bei gleichzeitig steigendem Konservatismus in ländlichen Gebieten verschmelzen zu einem komplexen Gefüge, das das Selbstbewusstsein der „Civil Religion“ in einem neuen Licht erscheinen lässt. Die Politik sowie das patriotische Selbstbewusstsein der USA sind im Wechselspiel der amerikanischen Lebenskontexte an bereits angelaufene Verschiebungen im Leben der Bevölkerung verwiesen, die lange Zeit übersehen wurden. Der „American Dream“ weist sich im 21. Jahrhundert als vielgestaltig aus, gleichzeitig wirken zahlreiche frühere Plausibilisierungen des einstmaligen Bekenntnisses der ersten Siedler*innen als „New Chosen People“ zunehmend blass angesichts jener Krisen, die von vielen nun zum ersten Mal am eigenen Leib, im eigenen Land und nicht in einem Krieg fern der Heimat durchlebt werden müssen.

Das „Chosen Country“ steht an der Schwelle zu einem neu definierten Selbstgefühl – wie sich das religionspolitisch und gesellschaftlich auswirken wird, muss gegenwärtig offenbleiben. Deutlich wird an der aufgeheizten Stimmung in vielen Bereichen der krisengebeutelten amerikanischen Gesellschaft, dass die hochpolierte Fassade des amerikanischen Traumes nicht mehr so einfach aktualisiert oder von politischen Strategien angesprochen werden kann.

Hashtag: #Election2020


(Beitragsbild: @tiffanytertipes)

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dr. andreas g. weiß

ist Theologe und Religionswissenschaftler mit Forschungsaufenthalten in den USA und promovierte 2018 an der Universität Salzburg mit der Arbeit "Der politische Raum der Theologie" in den Fächern Fundamentaltheologie und Dogmatik. Der Referent im Katholischen Bildungswerk Salzburg ist Mitglied der »American Academy of Religion« (AAR). Zur Situation in den USA schreibt er regelmäßig in der österreichischen Zeitschrift »Die Furche« und als Gastautor der »Salzburger Nachrichten«.

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