Im Magnificat singt Maria vom Sturz der Mächtigen vom Thron. Theresa Lennartz nimmt dieses Gebet zum Anlass, um das Phänomen Macht aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Sie bringt dabei soziologische, befreiungstheologische und feministische Ansätze miteinander ins Gespräch.
Es wird täglich von tausenden Priestern und Ordensleuten gebetet und die Protagonistin ist eine Frau: Im Magnificat besingt Maria die Größe und Stärke Gottes*, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht. Trotz der Prominenz dieses Textes ist es kein leichtes Unterfangen, sich auf die Suche nach exegetischen Kommentaren zu dieser Bibelstelle oder auch überhaupt nach theologischen Auseinandersetzungen mit dem dort angesprochenen Thema Macht zu begeben. Das hat im spezifischen Kontext des Katholizismus vermutlich auch damit zu tun, dass die katholische Kirche sich als Dienstgemeinschaft begreift und nicht als Machtgefüge. Die Mächtigsten sind in dieser Selbstbeschreibung die Diener*innen aller. Die Verschleierung der bestehenden Machtverhältnisse im Narrativ des Dienstes verfestigt diese, weil sie so selbstverständlich werden und nicht mehr erklärungsbedürftig erscheinen.1 Beschreibungen dieser und anderer Funktionsweisen von Macht sind zwar nicht Theolog*innen, sondern Soziolog*innen zu verdanken, lassen sich aber mehr oder weniger problemlos auf Machtgefüge innerhalb der Theologie und der katholischen Kirche übertragen, wie zuletzt u. a. Christiane Florin gezeigt hat.
Das schwierige Phänomen der Macht
Dem Philosophen Byung-Chul Han zufolge definiert sich Macht durch ein Subjekt, das sich selbst im Anderen kontinuieren, also fortführen will.2 Dieser Machtbegriff stellt keine starre Definition dar, sondern bewertet die jeweilige Machtausübung an ihrem Vermittlungsgrad: Gewalt und Unterdrückung sind mit vermittlungsarmer Machtausübung gleichzusetzen, während vermittelte Macht bedeutet, dass die Unterworfenen sich den Willen der Machthabenden aneignen.3 Das Problem dieses Machtspektrums ist, dass es immer um das Subjekt zentriert bleibt, das sich im Anderen Raum verschaffen möchte. So bleibt es auch bei vermittelter Macht fraglich, ob es sich tatsächlich um die freie Aneignung des Willens durch den*die Andere*n handelt. Das Machtgeschehen ist dadurch gekennzeichnet, dass es keine radikale Offenheit gegenüber dem*der Anderen ausbilden kann, sondern sich den*die Andere*n immer einverleibt.4 Dies ist ein Problem für eine christliche Theologie, die im jeweils Anderen ein Abbild Gottes* und eine unantastbare Würde sieht.
Machtkritische Ansätze
Einer machtkritischen Theologie muss es also darum gehen, menschliche Beziehungen über die machtmäßige Fortsetzung des Subjekts im Anderen hinaus zu denken. Einen Impuls dafür kann der Politikwissenschaftler John Holloway bieten, der statt eines selbstbezogenen Subjektes die Rolle eines kollektiven Subjektes stark macht: Dieses kollektive Subjekt zeichnet sich durch gegenseitige Anerkennung und das Wissen um das eigene Eingebunden-Sein in materielle (Macht-)Strukturen aus. Die materielle Struktur einer kapitalistischen Gesellschaft ist durch Fragmentierung gekennzeichnet, die ganz im Marx‘schen Sinne zu einer Entfremdung der Arbeiter*innen vom Arbeitsprozess als kreativem Tun führt. Indem menschliche Arbeitskraft nur als Ressource zur Kapitalsteigerung instrumentalisiert wird, werden Subjekte verobjektiviert. Eine gesellschaftliche Praxis, die aus dem Schrei der Empörung über diese Verobjektivierung menschlichen Tuns entsteht, äußert sich in der kollektiven Verweigerung dieser Strukturen.5 Die Verobjektivierung äußert sich dem Wirtschaftswissenschaftler und Befreiungstheologen Josef Hinkelammert zufolge auch durch die vorherrschende Zweck-Mittel-Rationalität der Wissenschaft, bei der das handelnde Subjekt nicht in Entscheidungen miteinbezogen wird und somit Effekte auf dessen (Über)Leben nicht berücksichtigt werden können. Bezogen auf wirtschaftliche Entscheidungen bedeutet dies beispielsweise, dass mögliche Umweltschäden zwar einen großen Impact auf das menschliche (Über)Leben haben, aber dennoch nicht in die Kalkulation einbezogen werden können, weil es sich dabei um keinen abgrenzbaren, in Zahlen messbaren Zweck handelt. Jedoch bildet das (Über)Leben der Personen die wichtigste Grundlage und letztlich den Sinn rationalen Handelns überhaupt. Deshalb stellt Hinkelammert der Zweck-Mittel-Rationalität eine sog. reproduktive Rationalität gegenüber, die die Bedürftigkeit des Menschen als Naturwesen anerkennt und immer als letzten Zweck mit ins Kalkül einbezieht.6 Nur durch die solidarische Praxis einer sich als kollektives Subjekt begreifenden Gesellschaft, die sich ihrer Bedürftigkeit bewusst ist, können zerstörerische Machtstrukturen durchbrochen werden. Holloway bezeichnet dieses Geschehen als die Entwicklung einer Anti-Macht, die über die selbstbezogene Machtlogik hinausgeht bzw. sich gegen sie wendet.
Befreiungstheologische Machtkritik
Auch christliche Hoffnung, die auf der biblischen Verheißung einer anderen, einer guten Welt für alle basiert, sollte Beziehungen und menschliche Strukturen nicht in der Logik von Macht denken. Vor allem Befreiungstheolog*innen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die durch Machtgeschehen, Vereinnahmung und Verobjektivierung entstandenen Ab-Orte wieder zu verorten, sprich den vereinnahmten Anderen wieder Subjekt-Sein zuzusprechen. Enrique Dussel beschreibt diese Ab-Orte als Peripherie, die der Totalität des (Macht-)Zentrums gegenübersteht. Im Zentrum befinden sich die mächtigen Subjekte, in der Peripherie die Anderen, die vom Zentrum bedroht und unterdrückt werden. Diese Anderen sind der Ausgangspunkt für eine Befreiungstheologie, die in den Anderen bzw. in den Armen Gottes* Offenbarung erkennt. Der Schrei der Unterdrückten ist die Stimme Gottes* und: der Ausgangspunkt für Befreiungsgeschehen.7 Wie auch für Holloway eröffnet dieser Schrei die radikale Möglichkeit einer anderen, guten Welt. Julia Lis weist in diesem Zusammenhang auf die Rede von der Auferstehung hin: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – Auch im Schrei Jesu am Kreuz kommt der Aufstand des Lebens gegen den Tod zum Ausdruck. Die Weigerung gegenüber der todbringenden Wirklichkeit birgt die Hoffnung auf einen Gott, der die Macht des Todes überwindet.8 Für Rubem Álves impliziert diese Weigerung auch die Verweigerung der Wahrheit. Für ihn ist Wahrheit das, was von Mächtigen durchgesetzt wird, um ihre Macht zu legitimieren, während diejenigen, die diese Wahrheit anfragen oder kritisieren, als Häretiker*innen gebrandmarkt werden.9 Aus diesem Grund bringt er seine Präferenz der Häresie gegenüber der Wahrheit, sowie ein Verbot für Theolog*innen, von der Wahrheit zu sprechen, zum Ausdruck.10 Auch für ihn bedeutet die christliche Auferstehungshoffnung das Versprechen einer neuen Ordnung an die Unterdrückten, in der sich Liebe und nicht Macht durchsetzen wird.11
Feministische Befreiungstheologie
Es wird deutlich, dass christliche Theologie ein enormes machtkritisches Potential birgt, auch über das Magnificat hinaus. Mit Blick auf befreiungstheologische Beiträge wird aber auch klar, dass auch diese Theologien immer in einen gesellschaftlichen Kontext mit Machtverhältnissen eingebettet sind und sich dessen bewusst sein müssen. Eine machtkritische Theologie sollte sich also mit anderen machtkritischen Gruppen und Bewegungen zusammentun und als kollektives Subjekt agieren. Dafür ist es unerlässlich, die eigenen Machtstrukturen kritisch in den Blick zu nehmen, sowie sich außerhalb der Kirche am Kampf gegen ungerechte Machtstrukturen zu beteiligen. Aus feministischer Perspektive gehört zu diesem Kampf auch, alte patriarchale Mythen und Bilder kritisch unter die Lupe zu nehmen, sie zu verändern und manchmal auch, sie ganz abzuschaffen. So haben es sich feministische Befreiungtheolog*innen zur Aufgabe gemacht, weibliche Gottesbilder zu entwerfen, alte Traditionen neu zu erzählen und so, wie es Elisabeth Schüssler-Fiorenza ausdrückt, durch neue Interpretationen aus der his-tory eine her-story zu machen.12 Diese Dekonstruktion und Neuformulierung des religiösen Diskurses bekommt dann auch einen gesamtgesellschaftlichen Einfluss. Denn wie Linda Woodhead herausgestellt hat, können sowohl Religion als auch Geschlecht der Repräsentation, Verkörperung und Verteilung gesellschaftlicher Macht dienen, indem herrschaftsstabilisierende Ideologien produziert und mit dem Verweis auf deren heilige Machtquelle übernommen werden.13 Insofern ist das doppelte Unterdrückungsverhältnis zu betonen, dem Frauen* ausgesetzt sind und dem Elsa Támez den doppelten Kampf gegenüberstellt: Es ist der Kampf, der speziell als Frau* auszufechten ist, gemeinsam mit dem Kampf um die ökonomische und politische Befreiung der ganzen Gesellschaft.14
Hashtag der Woche: #machtmachtkritik
(Beitragsbild @arnosenoner)
1 Vgl. Christiane Florin, Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben, München 2020, S. 77-79.
2 Vgl. Byung-Chul Han, Was ist Macht?, Stuttgart 2019, S. 66 f.
3 Vgl. ebd., S. 44.
4 Vgl. ebd., S. 122.
5 Vgl. John Holloway, Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2002, S. 37 ff.
6 Vgl. Franz J. Hinkelammert, Das Subjekt und das Gesetz. Die Wiederkehr des verdrängten Subjekts, Münster 2007, S. 27 f.
7 Vgl. Enrique Dussel, Caminos De La Liberación Latinoamericana, Medellín 1972, S. 11 ff.
8 Vgl. Julia Lis, Die Zerbrechlichkeit der Macht, in: Gunter Prüller–Jagenteufel, Rita Perintfalvi, Hans Schelkshorn (Hgg.), Macht und Machtkritik. Beiträge aus feministisch-theologischer und befreiungstheologischer Perspektive. Dokumentation des 4. internationalen Workshops „Kontextuelle befreiende Theologien“ (Concordia – Reihe Monographien Bd. 70), Aachen 2018, S. 218-227, S. 221.
9 Vgl. Rubem Álves, La Teología Como Un Juego, Argentinien 1982, S. 92.
10 Vgl. ebd., S. 93-94.
11 Vgl. ebd., S. 40 ff.
12 Vgl. Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Discipleship of equals: a critical feminist ekklesia-logy of liberation, New York 1993, S. 62.
13 Vgl. Linda Woodhead, Geschlecht, Macht und religiöser Wandel in westlichen Gesellschaften (übers. v. Ulrike Berger) (Blumenberg-Vorlesungen Bd. 2), Freiburg/ Basel/ Wien 2018, S. 91 f.
14 Vgl. Elsa Támez, Zur feministischen Hermeneutik der Befreiung (übers. v. Kirsten Lancé), in: Raúl Betancourt (Hg.): Befreiungstheologie: Kritischer Rückblick und Perspektiven für die Zukunft, Bd. 2: Kritische Auswertung und neue Herausforderungen, Mainz 1997, S. 45-58, S. 48.