Jung, rein und mit leicht verklärtem Blick: Dieses Bild von Maria passt nicht mehr in die heutige Zeit. Vielmehr verschärft es die derzeitigen Probleme der katholischen Kirche. Fabian Brand begibt sich auf die Suche nach einem neuen Marienbild, das zur notwendigen Erneuerung der katholischen Kirche beitragen kann.

Warum Maria der Gesellschaft fremd geworden ist

Eigentlich ist es ein ganz schön provozierendes Bild, wenn junge Frauen in ihrer Festtagstracht bei einer Prozession in der fränkischen Provinz eine blumengeschmückte Statue der Gottesmutter auf ihren Schultern tragen. Ein bisschen aus der Zeit gefallen wirkt nicht nur ihr Gewand, das ja längst seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat, sondern auch das, was sie da tun. Größer könnte der Kontrast gar nicht sein, denn die Lebenswirklichkeit vieler junger Frauen steht im Kontrast zu diesem Marienbild: Hier der Großteil junger Mädchen, die vor ihrem 18. Geburtstag das erste Mal Sex haben, dort die Frau, die vor und nach der Geburt Jungfrau gewesen sein soll. Hier eine Gesellschaft, in der Prostitution, Escort-Services und der Straßenstrich längst ohne großen Aufwand für jeden zugänglich sind, dort die Frau, die selbst von der Erbsünde befreit, unbefleckt empfangen worden ist. In der Gegenwart die Überforderung, sich zwischen Familie und Beruf entscheiden zu müssen, in der Vergangenheit eine Frau, die ohne je daran zu zweifeln, in der Rolle einer hingebungsvollen Mutter voll und ganz aufzugehen scheint.

Es ist ein provozierendes Bild. Und man mag sich manchmal fragen, ob die Reproduktion solcher Momentaufnahmen, wie der erwähnten Prozession, nicht eher für die frommen Bilderalben taugt, als für eine wirkliche Identifikation von Menschen mit dieser Frau. Immerhin ist der Graben zwischen den Menschen und Maria in den letzten Jahrhunderten immer breiter geworden: Besonders die Dogmen des marianischen Jahrhunderts haben ihren Beitrag dazu geleistet, dass Maria immer mehr entkörperlicht worden ist: Maria war Jungfrau (in partu und post partum), sie war seit dem ersten Augenblick ihres Daseins frei von der Erbsünde, mit Leib und Seele wurde sie in den Himmel aufgenommen. Zwar wird sie immer noch gerne als „eine von uns“ tituliert, als die „erste der Glaubenden“, die ganz aufseiten der Menschen steht. Aber ehrlicherweise muss man wohl zugeben, dass es gerade das Menschliche an Maria ist, welches bis zur Unkenntlichkeit verschleiert worden ist. Was kann eine Gesellschaft, in der Körperlichkeit immer wichtiger wird, mit einer Frau anfangen, die ihre Körperlichkeit immer mehr eingebüßt hat?

Mariologie und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche

Die Bilder hängen gewaltig schief und schuld daran sind wohl diejenigen, die solche Bilder überhaupt erst produzieren. Das Bild der „Maria ohne Vulva“, also einer Frau, die jeglicher Körperlichkeit entbehrt, ist ein Produkt, das von der Kirche über die Jahrhunderte hinweg mit größtem Vergnügen hergestellt worden ist. Mariologie und Ekklesiologie bilden seit alters her einen engen Konnex. Man kann diesen Zusammenhang sehr einfach auf den Punkt bringen: Das, was die Kirche in abstrakter Form für sich beansprucht, hat im Marienbild einen sehr konkreten Ausdruck erhalten. Der Reinheitsdiskurs zum Beispiel, der ekklesiologisch im Zölibat des Klerus oder in unterschiedlichen moraltheologischen Spielarten zum Vorschein kam, findet sich sehr prägnant in Maria wieder: Nicht nur, dass sie bei der Empfängnis des Kindes Jungfrau war, sie ist es auch nach der Geburt und selbst ihr ganzes restliches Leben lang geblieben. Je mehr sich die Kirche von der Sexualität distanziert hat, desto mehr musste auch das Marienbild angepasst werden. Die Vorstellung, dass Maria irgendwann einmal mit einem Mann intim geworden sein könnte, stützt die betont sexualitätsfremden ekklesiologischen Diskurse nicht. Und man darf mit allem Nachdruck fragen, ob es nicht gerade die Reproduktion jener Reinheitsvorstellungen war, die sexualisierte Gewalt im verheimlichten Untergrund der Kirche sogar noch aktiv befördert hat.

Nun haben sich die Zeiten verändert und die Kirche ist mit anderen Diskursen konfrontiert, denen sie nicht ausweichen kann. Das Streben nach kultischer Reinheit ist längst von der tiefsitzenden Erfahrung von sexualisierter Gewalt in der Kirche abgelöst worden. Nachhaltig ist sie erschüttert vom sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen. In dieser prekären Lage, in der sich die Kirche befindet, drängt sich eine Einsicht auf: Die makellose, jungfräuliche Maria taugt nicht mehr als Identifikationsfigur. Die Kirche ist keine unbefleckte, sie ist keine ecclesia perfecta. Und sie ist eben längst keine, die so jungfräulich daherkommt wie Maria, weil sie die Augen vor den sexuellen Verbrechen ihrer Mitglieder nicht mehr verschließen kann.

Doch die Frage bleibt offen, ob dieses utopische Kirchenbild nicht so lange weiter existiert, so lange auch das utopische Marienbild weiter reproduziert wird. Maria ist die Identifikationsfigur der Kirche schlechthin und es ist jedenfalls höchst prekär, wenn die „Schönste von allen“ jungfräulich von ihrem Sockel strahlt, während die Kirche gerade dabei ist, sich mit den eigenen, durch sexualisierte Gewalt produzierten, Schattenseiten auseinanderzusetzen. Der Gefahr, dass sich das ekklesiologisch-mariologische Hamsterrad weiterdreht wie bisher, lässt sich so jedenfalls nicht aus dem Weg gehen.

Plädoyer für eine menschlichere Mariologie und Ekklesiologie

Vielleicht braucht es gerade jetzt notwendiger denn je ein neues Marienbild. Meines Erachtens könnte es die Wiederentdeckung der menschlichen Seite Mariens sein, die als notwendiges Korrektiv für ein angemessenes Marienbild dient. Hierzu müsste einiges eingestanden werden: Maria hatte eine Vulva, Maria hatte Sex, Maria hat die Geburt ihres Sohnes als höchst intimen und schmerzlichen körperlichen Akt durchgestanden, Maria war die weibliche Periode nicht fremd usw. Freilich: Das ist ein Marienbild, das mit Größen arbeitet, die man eigentlich jahrhundertelang von Maria fernhalten wollte. Das ist ein Marienbild, das auf den ersten Blick provoziert und herausfordert, das aber auch zum Ausdruck bringen kann, wie sehr Maria wirklich „eine von uns“ war. Dieses Marienbild liegt quer zu den gängigen Zuschreibungen, die das „De Maria numquam satis“ des marianischen Jahrhunderts produziert hat.

Maria ist „Typus der Kirche“ (LG 63) und die Kirche strebt danach, diesem Urbild gleichgestaltet zu werden (vgl. LG 65). Was aber, wenn dieser Typus sehr menschliche Züge trägt und einen Körper besitzt, in dessen Herzen alles wahrhaft Menschliche widerhallt (vgl. GS 1)? Wäre das nicht auch für die Kirche ein Schritt weg von einer sehr utopischen Ekklesiologie, die mit starken Reinheitsvorstellungen im Blick auf Körperlichkeit und insbesondere Sexualität behaftet ist? Und wäre das nicht ein großer Schritt hin zu einer Kirche, die fähig ist, sich mit den tiefsten menschlichen Bedürfnissen auseinanderzusetzen und die dadurch lernt, die eigenen blinden Flecke von der Wurzel her aufzuarbeiten? Ein menschlicher Körper, der alle Freuden und Abgründe des Lebens kennt, und dem Gott trotzdem auf einmalige Weise seine Gnade erwiesen hat. Taugt eine solche Vorstellung nicht eher zum Urbild einer Kirche, die sich auch ihr Versagen und ihre Schuld eingestehen muss – aber auf deren geschundenem Antlitz dennoch das Licht der Herrlichkeit Christi widerscheint?


Hashtag der Woche: #mariamaculata

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fabian brand

studierte in Würzburg und Jerusalem Katholische Theologie. Er wurde mit einer Arbeit über eine topologische Theologie promoviert und arbeitet derzeit an einer Habilitationsschrift, die sich mit dem Priesterbild des Zweiten Vatikanischen Konzils auseinandersetzt.

2 Replies to “„Die aus der Reinsten Schar vor Gott die Reinste war.“ Über eine prekäre Wechselwirkung zwischen Maria und der Kirche

  1. Sicherlich trifft das alles weitgehend zu, was Sie in Ihrem Artikel schreiben, doch ich finde Ihren Fokus zu eng. Maria war und ist für sehr viele Menschen (nicht nur Katholiken) eine Verkörperlichung des Mütterlichen schlechthin, und ich finde es bedauerlich, dass das Stichwort „Mütterlichkeit“ kein einziges Mal in Ihrem Artikel fällt. Ich denke, dass vielerlei Mangelerfahrungen eine starke Sehnsucht nach dieser „Mutter Maria“ wachhalten.

    Wie es mit dem aktuellen Bedürfnis nach Väterlichkeit in der jüdisch/christlichen Religion wie in der Gesellschaft insgesamt steht, wäre ebenfalls zu reflektieren. Ich finde es sehr schade, dass grundlegende psychoanalytische Kategorien in dieser ganzen Diskussion um Maria kaum eine Rolle spielen.

    1. Sehr geehrte Frau Dandl,
      ich danke Ihnen für Ihre Rückmeldung zu meinem Beitrag.
      Natürlich haben Sie Recht: Ein solcher Essay muss immer sehr fokussiert arbeiten und kann sich nur auf bestimmte Aspekte konzentrieren, die wiederum eigens noch ausführlicher ausgeführt werden müssten. Das Thema „Mütterlichkeit“ wird ja in meinem Beitrag sehr wohl angerissen, wenn gleich nicht weiter thematisiert. Sicher wäre das noch einmal gesonders nachdenkenswert – auch im Blick darauf, wie divergierend das Mutterbild in unserer derzeitigen Gesellschaft ist. Ob es hierbei wirklich um eine Sehnsucht nach der „Mutter Maria“ geht, würde ich mit einem Fragezeichen versehen. Sicher müsste man auch hier kritisch reflektieren, ob das Bild der treusorgenden Mutter Maria für heute noch anwendbar ist bzw. inwiefern es nicht auch heutigen Erfahrungen entgegensteht.
      Herzliche Grüße,
      Ihr Fabian Brand

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