Die Skandale in der Fleischindustrie scheinen sich in den letzten Tagen und Wochen zu überschlagen. Felix Fleckenstein sieht darin ein Zeichen der Zeit, dem sich die Theologie zu stellen hat und reflektiert in seinem persönlichen Statement über mögliche Impulse zu dieser Entwicklung aus Bibel und Tierrecht.
»Stau im Schweinestall« titelt die Tageschau am vergangenen Mittwoch auf Instagram. Ein Schweinebauer berichtet im Video der Nachrichtenseite, dass er aufgrund der angespannten Lage in der Fleischproduktion seine Mastschweine nicht mehr los wird. Im Hintergrund ertönen instrumental ruhige Klänge.
Der Post schockiert mich. Nicht wegen des Schweinebauers, der aufrichtig seine finanziellen Sorgen mitteilt, sondern wegen der Selbstverständlichkeit mit der hier über die Schweine als gegenständliche Ressource in der Nahrungsmittelproduktion gesprochen wird, die es loszuwerden gilt. Es hat den Anschein, als seien diese Tiere keine Lebewesen. Im Fokus steht allein der Preis, den sie erzielen sollen oder gar müssen. So heißt es im Beitragstext:
Denn Schweine, die nicht rechtzeitig geschlachtet werden und zunehmen, werden aufgrund des steigenden Fettanteils zum Problem. Wenn die Tiere schwerer werden, verlieren sie an Qualität – und Landwirtinnen bekommen einen schlechteren Preis.1
Dieser Beitrag stellt bloß. Er stellt mich bloß und ich kann ihm nicht ausweichen. Zu sehr beschäftigen mich die Skandale in der Fleischindustrie in den letzten Wochen. Dabei haben sie keine wirklich überraschenden Erkenntnisse enthüllt: Sie stellen eine kognitive Dissonanz bloß, weil sie aufdecken, was bekannt, aber verdrängt ist. Sie beleuchten, was unangenehm ist und lieber unangesprochen bliebe: Massenproduktion, die jedem Wohl der Tiere wiederspricht; Ausbeutung der Arbeiter*innen in der Fleischindustrie, die an moderne Sklaverei grenzt;2 eine katastrophale Klimabilanz der kompletten »Produktionskette« und zugleich Landwirt*innen die aufgrund von Dumping-Preisen um ihre Existenz bangen müssen. Eine bedrückende Sachlage, wie ich finde.
Sich der Konfrontation stellen
Es wäre einfach, hier einen Appell im Sinne von »how dare you!« anzufügen. Aber es wäre in diesem Fall nur ein empörtes Zeigen mit dem Finger auf andere und damit für mich persönlich dann doch ein Ausweichen vor der eigentlichen Konfrontation. Ich möchte mich der Konfrontation reflexiv stellen – als Theologe. Als Theologe, der in einer Metzgerei groß wurde.
Was mich hier bloßstellt, ist in der Sprache des Zweiten Vatikanums ein Zeichen der Zeit. Und die Aufgabe der Kirche und der Theologie ist es gemäß Gaudium et spes, die Zeichen der Zeit zu erforschen und im Licht des Evangeliums zu deuten (vgl. GS 4). Die biblischen Texte können dabei keine eineindeutigen Antworten zur »Bewältigung« dieser Gegebenheiten unserer Zeit liefern, aber sie können wichtige Impulse für die eigene Positionierung bieten. Wir finden sie bereits am Beginn des alttestamentlichen Texts im ersten Kapitel der Genesis.
Tierrechte in der Schöpfungserzählung: Das Tötungsverbot
Die Schöpfungserzählung skizziert den Menschen dort als Bild Gottes. Dies ist wohl eine der bedeutendsten anthropologischen Bestimmungen der Bibel: Jeder Mensch ist zum Bild Gottes berufen.3 Bild Gottes zu sein, ist jedoch keine Wesenseigenschaft des Menschen, sondern eine Aufgabe – eine Funktion, die ihm von Gott gegeben wird. Sie besteht darin, als Mandatar Gottes über die Schöpfung zu herrschen. Dabei impliziert herrschen hier gerade keine Ausbeutung oder Unterdrückung der Schöpfung, sondern assoziiert das Ideal eines guten und gerechten Königs, der für die Wohlfahrt seines Herrschaftsgebiets verantwortlich ist.4 Das Herrschaftsgebiet des Menschen ist in der Erzählung der Genesis die ganze Schöpfung. Der sogenannte Herrschaftsauftrag ist also inhaltlich ein Fürsorgeauftrag, der dem Menschen von Gott anvertraut wird.5 Doch wie gestaltet sich dieser Fürsorgeauftrag nun genau? Auch dafür gibt der biblische Text Anhaltspunkte. Im Wortlaut der Einheitsübersetzung heißt es sodann:
Dann sprach Gott: Siehe, ich gebe euch alles Gewächs, das Samen bildet auf der ganzen Erde, und alle Bäume, die Früchte tragen mit Samen darin. Euch sollen sie zur Nahrung dienen. Allen Tieren der Erde, allen Vögeln des Himmels und allem, was auf der Erde kriecht, das Lebensatem in sich hat, gebe ich alles grüne Gewächs zur Nahrung. (Gen 1,29-30)
Das Ideal, das der biblische Text skizziert ist eindeutig: Mit dem Fürsorgeauftrag, der dem Menschen anvertraut ist, geht ein umfassendes Tötungsverbot einher. Nur Pflanzen sind Mensch wie Tier als Nahrung übergeben. Es ist deutlich, dass die biblische Erzählung hier ein Idealbild der Schöpfung zeichnet. Der Anspruch, den der biblische Text stellt, wird dadurch aber keineswegs geringer. Um es noch einmal zuzuspitzen: Bild Gottes zu sein, heißt verantwortlich zu sein für die Wohlfahrt der ganzen Schöpfung. Diese umfasst ein universales Tötungsverbot aller Lebewesen.
Dem*r kundigen Bibelleser*in brennt an dieser Stelle vielleicht bereits ein Einspruch unter den Nägeln, und es wäre auch unredlich diesen zu verschweigen – denn im weiteren Verlauf der sogenannten »Urgeschichte« wird exakt dieses allumfassende Tötungsverbot relativiert. Nach der Sintflut spricht Gott zu Noah:
Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen, auf alle Vögel des Himmels, auf alles, was sich auf dem Erdboden regt, und auf alle Fische des Meeres; in eure Hand sind sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, soll euch zur Nahrung dienen. Das alles übergebe ich euch wie die grünen Pflanzen. Nur Fleisch mit seinem Leben, seinem Blut, dürft ihr nicht essen. Wenn aber euer Blut vergossen wird, fordere ich Rechenschaft für jedes eurer Leben. Von jedem Tier fordere ich Rechenschaft und vom Menschen. Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft von jedem, der es seinem Bruder nimmt. Wer Blut eines Menschen vergießt, um dieses Menschen willen wird auch sein Blut vergossen. Denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht. (Gen 9,1-7)
Neben den Pflanzen können nun also auch alle Lebewesen den Menschen als Nahrung dienen. Doch so einfach können wir diesen vielschichtigen Text nicht abhandeln, denn die Erlaubnis der Tötung von Tieren zu Nahrungswecken ist deutlich an Bedingungen geknüpft. Zunächst ist die Tötung von Lebewesen ausschließlich zu Nahrungszwecken gestattet (1). Zudem schließt der biblische Text kategorisch den Verzehr von Blut aus (2), da nach altorientalischer Auffassung das Blut der Sitz des Lebens ist (vgl. Lev 17,11). Des Weiteren muss für jedes Blut das vergossenen wird, Rechenschaft vor Gott selbst abgelegt werden (3). Für jede Tötung muss der Mensch sich also vor Gott verantworten. Begründet wird dies explizit mit der Funktion des Menschen als Bild Gottes. Von einem Gutheißen des Fleischkonsums kann in Genesis 9 also keine Rede sein.
Die Schöpfungserzählung im Tierrecht: Tiere als Mitgeschöpfe
Die Spannung, die die beiden biblischen Texte in ihrer Zusammenschau zum Ausdruck bringen, zeugt von dem tiefen Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das Ideal, das dem Menschen hier vorgelegt wird, ist jedoch eindeutig: Der Mensch als Bild Gottes soll sich vegetarisch ernähren. Man könnte dies sogar noch verschärfen und fragen: Nicht sogar vegan? Die Realität sieht jedoch anders aus, das zeigt die Perikope aus Genesis 9. Dieser Graben ist zugleich nicht auf das theologische Sprachspiel reduziert, denn er findet sich in analoger Weise im Grundsatzartikel des deutschen Tierschutzgesetzes. Konkret lautet der Gesetzestext dort:
Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.6
Das Tier kommt hier als Mitgeschöpf in den Blick des Gesetzgebers und gerade nicht als Ressource in der Nahrungsmittelproduktion. Zugleich ist von einer existentiellen Verantwortung des Menschen für seine Mitgeschöpfe die Rede. Aber auch im Tierschutzgesetz zeigt sich der benannte Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit, denn im Folgenden buchstabiert der Gesetzgeber ja gerade aus, was aus seiner Sicht derartige vernünftige Gründe zur Tötung von Tieren darstellen. Eigentlich erstaunlich nach diesem Auftakt, denn für mich ist kein universalisierbarer Grund erkennbar, den ich ethisch für die Tötung eines Mitgeschöpfs anführen könnte – und nebenbei: lecker ist offenkundig keine ethische Kategorie.
Die Zusammenschau aus dem biblischen Sprachspiel und Tierschutzgesetz ist für mich einschlägig. Diese Reflexion ist jedoch eine persönliche – sie soll Impulse zum eigenen Weiterdenken liefern, aber keinen Appell darstellen – und daher ist auch die Conclusio am Ende eine eindeutige, wenn auch dezidiert persönliche: Go Veggie!
Keine einfache existentielle Herausforderung für einen Metzgersohn.
Hashtag der Woche: #goveggie
(Beitragsbild @phienix_han)
1 Instagram-Post der Tagesschau vom 15.05.2020, abgerufen am 16.07.2020, https://www.instagram.com/p/CCpj1dPCAjR/?igshid=19tltm5g0uko0.
2 Vgl. dazu: Interview mit Pfarrer Kossen zur Fleischindustrie, abgerufen am 18.07.2020, https://www.rnd.de/politik/pfarrer-kossen-zur-fleischindustrie-das-ist-moderne-sklaverei-KXA5XJ3SRZF2DA6U7SZEEFHXGY.html.
3 Fischer, Georg, Genesis 1-11(HThKAT), Freiburg i. Br. 2018, 153.
4 Gertz, Jan Christian, Das erster Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1-11 (ATD; 1), Göttingen 2018, 69.
5 Zenger, Erich, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zur Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte (SBS; 112), Stuttgart 21987, 91.
6 Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Artikel 280 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist, abgerufen am 16.07.2020, https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html.
Schöner Artikel, dem ich nur zustimmen kann, aber: Die Antwort auf die von dir selbst aufgeworfene Frage „Nicht sogar vegan?“ habe ich irgendwie nicht gefunden/verstanden!? Aus meiner Sicht ist die Hauptaussage von Gen 9 nicht „ab sofort auch veggie möglich“, sondern: „Jedes Leben ist heilig.“ Das zeigt zum Beispiel das Verbot des Verzehrs von Blut, dem Sitz des Lebens.
Heute gibt es keinen vernünftigen Grund mehr, sich mischköstlich zu ernähren. Wer seine Gründe für die vegetarische Ernährung konsequent reflektiert, dem bleibt nichts anderes übrig als den zweiten Schritt, nämlich jenen zum kompletten Verzicht auf tierische Produkte folgen zu lassen. Bei der Produktion von Milch und Eiern gilt es schließlich ebenfalls, männliche oder sonstige unrentable Exemplare „loszuwerden“. Die Verfasser*innen von Gen 9 würden den Text angesichts von Kükenschreddern usw. wohl kaum noch so verfassen.
In der Tat bleibt die von mir aufgeworfene Frage »Nicht sogar vegan?« unbeantwortet.
Diese Frage stellt sich meines Erachtens jedoch weniger in Bezug auf die Perikope aus Genesis 9 ( – die sich mit den Bedingungen für für das Töten von Tieren zu Nahrungszwecken auseinandersetzt –), sondern vielmehr zielt sie auf den Anspruch den Genesis 1 skizziert.
Genesis 1 formuliert wörtlich den Anspruch an den Menschen sich nur von pflanzlicher Nahrung zu ernähren. Im Blick der Aussage sind hierbei meines Erachtens in erster Linie die Tiere als Mitgeschöpfe, die gerade nicht als Nahrung dienen sollen. Mensch und Tier sollen sich beide pflanzlich ernähren (vgl. Gen 1,29f). Von daher stimmte ich deiner These bzgl. einer Hauptaussage vollkommen zu: » Jedes Leben ist heilig.« Sie hat ihren Ort meines Erachtens jedoch in Gen 1 nicht in Gen 9.
Das von dir skizzierte Ergebnis bleibt jedoch letztendlich das gleiche: Ein zweiter Schritt (kompletter Verzicht auf tierische Produkte) bleibt reflexiv unausweichlich. Von daher würde ich es vollkommen unterschreiben, dass Genesis 1 von veganer Ernährung spricht und dies an die Funktion des Menschen als Bild Gottes knüpft.
Vor der Kontrastfolie, die Genesis 9 zu Genesis 1 darstellt, kann es aber in der Tat nur ein zweiter Schritt sein. Denn der Anspruch veganer Ernährung (Gen 1) und die bedingte Erlaubnis des Fleischkonsums aus (Gen 9) stehen eindeutig in einem scharfem Kontrast. Diesen Bruch habe ich versucht in meinem Artikel aufzuzeigen. Es ist genau dieser Bruch, den wir analog im deutschen Tierschutzgesetz wiederfinden. Ein erster Vermittlungsschritt, für mich als heutigen Leser der Genesis, kann dann primär die vegetarische Ernährung darstellen. Das Ideal veganer Ernährung, das Genesis 1 beschreibt steht damit aber unverändert im Raum.
Was es bedeutet, sich diesem reflexivem Schritt zu stellen habe ich versucht zu skizzieren. Mein Fokus liegt dabei tatsächlich vor allem auf der Frage des Fleischkonsums. Für den von dir beschriebenen zweiten Schritt verweise ich daher sehr gerne auf deinen eigenen Artikel hier auf y-nachten vom 21.02.20 – dem ich nur zustimmen kann (https://y-nachten.de/2020/02/unser-taegliches-tier-gib-uns-heute/).
Interessanter Beitrag! Die Auseinandersetzung mit der „gestuften Nahrungsmittelerlaubnis“ im Rahmen von Genesis 1 und 9 ist in jedem Fall unglaublich spannend und wirft, gerade in der aktuellen Zeit, einige Fragen auf. Ist der Fleischkonsum nun biblisch gestattet oder nicht? Ist das Konsumieren von Produkten tierischen Ursprungs legitim oder nicht?
– Doch egal wie diese Fragen nun biblisch beantwortet werden, am Ende sollte jeder Mensch auch losgelöst davon ethisch, bzw. moralisch vertretbare Entscheidungen treffen und danach handeln.
Wie auch in anderen Themenbereichen sollte man sich nicht auf Aussagen ausruhen, die dem bisherigen eigenen Mindset entsprechen und daher bequem sind, sondern diese überdenken, weiterdenken und gegebenenfalls eigene Denk- und Handlungsmuster anpassen.
Ob das Essen von Tieren aus Massentierhaltungsbetrieben, die einen qualvollen Tod erleiden, das Essen von Tieren vom ortsansässigen Bio-Landwirt, die ganz bestimmt auf großen Weideflächen gehalten, mit qualitativ hochwertigem Futter versorgt und am Ende „nur“ zu Tode gestreichelt werden oder das Trinken von Säuglingsnahrung einer anderen Spezies nun als ethisch unbedenklich und moralisch verantwortbar angesehen werden können, das sollte und muss jeder Jeder für sich selbst reflektieren und, auch losgelöst von biblischen Argumenten, beurteilen.
Ich persönlich kann in diesem Fall nur zustimmen und dazu auffordern: „Go Veggi!“ oder besser noch „Go Vegan!“ – auch wenn`s am Anfang schwer fallen mag.