Krankheit und Tod rücken aktuell in die Mitte der Gesellschaft und bleiben oftmals doch hinter verschlossenen Türen. Annika Schmitz schreibt in dieser Woche über das einsame Sterben.
Ein kleines Kind, das in einer Wiege liegt und von einem Skelett auf der Geige einen Reigen vorgespielt bekommt; ein alter Mann, der seine Reichtümer auf einer langen Liste aufschreibt, hinter ihm Gevatter Tod: Die Kapelle auf dem Alten Friedhof in Freiburg im Breisgau wird von einem Totentanz, der in der ursprünglichen Fassung aus dem 18. Jahrhundert stammt und nach dem 2. Weltkrieg rekonstruiert worden ist, geziert. Er ist eine recht späte, aber nicht ungewöhnliche Darstellung, in der die Macht des Todes inmitten eines jeden Lebens skizziert wird.
Seit dem frühen 15. Jahrhundert schmücken Totentänze Kapellen, Kirchen und Klöster, die eindrücklichen szenischen Darstellungen sind zudem als danse macabre vielfach musikalisch ausgestaltet. Sie sind die stille Mahnung, den Tod auch im Alltag nicht zu vergessen, sie zeigen, dass der Tod das Kind, den Greis, die Bauersfrau, den adeligen Jüngling mitten im Alltagsgeschehen ereilen kann. Oftmals ist es ein plötzlicher Tod ohne Abschied, der die Angehörigen in tiefem Schmerz zurücklässt.
Totentänze sind heute verblasste, kaum wahrgenommene Relikte über den Kirchenportalen geworden.
Die Fragilität unserer Existenz
Und dann kam Corona. Und mit Corona kam die Einsicht, wie fragil unser soziales Miteinander, unser Wirtschaftssystem, gar unsere ganze Existenz ist – ja, auch hier, im wohlhabenden Mitteleuropa, das in den letzten Jahrzehnten von größeren Krisen, von Hunger und Krieg verschont geblieben ist.
Corona hat vieles von dem, was uns bis dato selbstverständlich war, auf den Kopf gestellt. Dass sich die Bundesregierung damit nicht leichtgetan hat, wurde vor allem im März mit den beginnenden Kontaktsperren deutlich. Nun werden Statistiken konsultiert, Sterberaten berechnet und dabei auch der Blick auf jene Orte gelenkt, in denen die Kranken, die Schwachen und Sterbenden beherbergt werden. Viele dieser Orte waren zuvor eher am Rand als in der Mitte der Gesellschaft. Auf solche Orte angewiesen ist vor allem die hohe Anzahl an pflegebedürftigen Menschen.
3,4 Millionen Menschen waren im Jahr 2017 in Deutschland als pflegebedürftig registriert, drei Viertel von ihnen wurden zu Hause durch Angehörige und/oder Pflegedienste versorgt. 820.000 Menschen lebten in vollstationären Alten- und Pflegeeinrichtungen1 und verbringen dort ihren Lebensabend. Es sind Orte, in denen die letzten Lebensjahre würdevoll gestaltet werden sollen. Nun sterben Menschen (nicht nur) hier alleine.
Wenn der Tod tanzt
Der tanzende Tod, der dem Menschen wie auf dem Freiburger Alten Friedhof gegenübertritt, kommt im späten Mittelalter zeitgleich mit dem Begriff der ars moriendi auf. Wie dem Tod gegenübertreten in Jahren von Pest und Seuchen, von Kriegen und furchtbaren und plötzlichen Todessituationen? Ging es damals vornehmlich um die rechte Vorbereitung auf das Seelenheil, so inkludiert die ars moriendi doch auch den Akt des Sterbens. Der Katholizismus bietet seit jeher Rituale für existenzielle Notsituationen. Betroffene – Sterbende und ihre Angehörige – können sich bis heute in diese Rituale fallen lassen. Manche davon wie Gebete oder die Krankensalbung sind stark religiös geprägt, andere entstehen eher automatisch aus zwischenmenschlichen Beziehungen heraus – das Halten der Hand, das Streicheln des Körpers, die sanften Berührungen. Es sind Rituale des Abschieds, die für alle Beteiligten gleichermaßen wichtig sind.
Doch es gibt ein zu spät. Es gibt den Tod ohne Abschied. Es gibt den Tod, bei dem unsere Rituale wegen räumlicher Distanz nicht greifen. Es sind die Totentänze des 21. Jahrhunderts, in denen Menschen aus dem Leben gerissen werden, ohne dass ihre Lieben bei ihnen sein können. Da ist kein Raum für Sterberituale, da ist niemand da, um ein letztes Mal die Hand zu halten, die letzten, schweren Atemzüge mit bangem Blick zu verfolgen. Es ist das Schreckgespenst all derer, die weniger Angst vor dem Tod an sich als nicht vielmehr Angst vor dem einsamen Sterben haben.
Noch ist kaum abzusehen, welche seelischen Narben dort hinterlassen werden, wo der Tod so vielfach ohne Abschied erfolgte. Haben wir die Ressourcen, haben wir Rituale, um diesen Schmerz aufzufangen?
Auf der Suche nach einer verlorenen Zeit
Denn gestorben wird hinter verschlossenen Türen. Ein stilles Zeichen der Solidarität, das die Opfer der Corona-Pandemie der USA in die Mitte der Gesellschaft holt, setzte in der vergangenen Woche die New York Times. An Incalculable Loss titelten sie und zeichneten 100.000 schwarze Figuren, einige von ihnen mit Namen und einer kurzen Lebenserinnerung beschriftet. Eine Titelseite, die Mahnung, Trauer und Erinnerung zugleich ist.
Auch wenn die New York Times mit diesem Titel den Fokus auf den Umgang und die Folgen der Pandemie legt, so kommt man kaum umhin, die Figuren symbolisch für alle Menschen zu sehen, die in Zeiten von Lockdowns und Kontaktsperren verstorben sind. Unerträglich ist der Gedanke an den einsamen Tod. Wie viele der schwarzen Figuren verstarben alleine? Wie viele sind noch alleine, abgeschirmt in ihren Wohnungen, in Pflegeheimen, in Krankenhäusern? Einzig die Erinnerung wird zum letzten Geleit, gerade dann, wenn Angehörige und Sterbende die letzten Tage und Stunden nicht gemeinsam verbringen konnten.
Der Tod lässt uns „heimwehkrank“ zurück, schreibt Emily Dickinson und geht auf die Suche nach Orten gemeinsamer Erinnerungen.
Death leaves Us homesick, who behind,
Except that it is gone
Are ignorant of it’s Concern
As if it were not born.Through all their former Places, we
Like Individuals go
Who something lost, the seeking for
Is all that’s left them, now – 2
Die Suche nach dem, was verloren gegangen ist, bleibt zurück. Es sind Gebäude, Landstriche, Urlaubsorte, die letzte berührte Kaffeetasse, der Stammplatz auf dem Sofa. Und vielleicht wird es auch eine ewige Suche nach jener Todesstunde sein, die nicht gemeinsam durchschritten werden konnte. Es gibt keinen Ort, an dem diese verpasste letzte Gelegenheit des Füreinander-Daseins betrauert werden kann.
Der Karsamstag ist lang
Als die Emmausjünger auf den Auferstanden treffen, bitten sie ihn am Ende des Tages mit dem berühmt geworden Satz, sie nicht zu verlassen:
„Bleibe bei uns; denn es wird Abend, der Tag hat sich schon geneigt!“.
Zu weniger Bekanntheit hat es der darauffolgende Satz geschafft:
„Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben.“ (Lk 24,29)
Dabei ist dies der vielleicht tröstlichste Satz im Neuen Testament. Im Moment der Not mag es nicht unbedingt der Glaube an eine Auferstehung der Toten sein, der das Dunkel ein wenig erträglicher macht, sondern die Hoffnung darauf, auch am Abgrund unserer Existenz nicht alleine zu sein. Denn vielleicht ist auch das Liebe, nicht nur zu sagen: „Ich will nicht, dass du stirbst“, sondern auch: „Ich will nicht, dass du alleine stirbst.“
Der Schmerz bleibt präsent. Es ist ein langer Karsamstag, durch den Sterbende und ihre Angehörigen in diesen Wochen hindurchgehen. Und Karsamstag heißt auch: Es ist zu früh, um von einem Gott zu sprechen, der die Fesseln des Todes zerbricht. Karsamstag ist Dunkelheit und Schmerz, die irgendwie ausgehalten werden. Karsamstag ist ein stiller Tag, er ist kein Tag der großen Worte. Er ist die Einsicht, dass es manchmal keine passenden Worte gibt. Nichts, aber auch gar nichts, macht das einsame Sterben besser, nichts, aber auch gar nichts, kann den Schmerz lindern, die Hand der*des Sterbenden nicht gehalten zu haben.
Vielleicht kommt irgendwann Ostern. Aber es wird ein Ostern sein, dass die Wunden dieser Tage nicht verheilen lässt. Es wird keine glorreiche Auferstehung sein, in der der Tod jubelnd besiegt wird. Es wird ein stilles Ostern sein, ein Ostern derer, die gebrochen sind. Es wird ein Ostern sein, dem kein Abschied vorausgehen konnte.
Hashtag der Woche: #heimwehkrank
(Beitragsbild @jarispics
1 Dies sind die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes vom 18.12.2018, abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/_inhalt.html (26.05.2020)
2 Zitiert nach Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte. Zweisprachig, übersetzt von Gunhild Kübler. München 2015, 1066.
Liebe Annika, ich danke Dir sehr herzlich für den gut durchdachten, mit viel Anteilnahme und Betroffenheit geschriebenen Text. Ich sehe Dich leibhaftig vor Augen, wie Du auch im Ringen um Klarheit in dieser schwierigen Zeit der Pandemie Menschen in unseren Focus bringst und uns, den Lesern, nochmal die vergangene Zeit und die noch nicht zu Ende gegangene Zeit nahe bringst. Deine Gedanken machen Nachdenklich, aber auch betroffen. Nochmal ganz lieben Dank. Jonas
Lieber Jonas, ganz lieben Dank für deine lieben Worte!
Ich freue mich auf ein Wiedersehen in Tabgha in hoffentlich nicht allzu weiter Ferne – und bis dahin einen herzlichen Gruß!