Einheit und Vielfalt, Identität und Individualisierung – ist das überhaupt möglich? Und ist das heute möglich? Maximilian Schultes denkt für uns darüber nach:

Aktuell fallen sie wieder ins Auge: leere Plakatflächen. Dort, wo vor Corona viele große Ketten und einzelne Marken auf ihre Produkte aufmerksam gemacht haben, könnte nun Ihre Werbung stehen. Mit der Schließung vieler Geschäfte in deutschen Innenstädten verschwindet auch deren Werbung aus dem Stadtbild. Anders ist das im Internet. Dort verkauft Werbung nach wie vor – und das in hochgradig personalisierter Form. Während Plakatwände eher unspezifisch eine allgemeine Käufer*innengruppe ansprechen, greift Online-Werbung bereits seit Jahren auf unseren individuellen digitalen Fußabdruck zurück, um uns genau die Produkte zum Kauf vorzuschlagen, die auch wirklich zu uns passen.

Individualisierung ist aus unserem Alltag schon lange nicht mehr wegzudenken und die mit der Digitalisierung neu aufkommenden Kulturtechniken beschleunigen diese Entwicklung zunehmen. Was das mit Kirche zu tun hat und wie diese darauf reagieren könnte, lohnt also eine nähere Betrachtung.

Individualisierung als Verflüssigung der Gesellschaftsstrukturen

Bei näherer Betrachtung lässt sich Individualisierung als die Triebfeder und das Wesensmerkmal der Moderne begreifen. Ausgehend von der ständischen Ordnung des Mittelalters kann nämlich bereits über die gesamte Neuzeit hinweg eine Entwicklung nachgezeichnet werden, die die Lebensführung des*r Einzelnen aus den vorgegebenen gesellschaftlichen Fixierungen herauslöst. Dabei bleibt dieser Prozess aber, wie es der Rekurs auf die ständische Ordnung nahelegt, nicht nur auf das politische Feld beschränkt; gerade in der digital und migrantisch geprägten Spätmoderne vollzieht er sich ebenfalls auf dem kulturellen Feld – beispielsweise als Effekt einer zunehmenden Demokratisierung von Wissen oder steigendem Mobilitätsgewinn.

Dies hat massive Folgen, nicht zuletzt für religiöse Gemeinschaften. Denn im Kielwasser der Individualisierung beschleunigt sich, wie der Soziologe Zygmunt Bauman beobachtet hat, eine ‚Verflüssigung der Gesellschaft‘. Mit dieser, an den Wechsel des Aggregatszustandes chemischer Verbindungen von ‚fest‘ zu ‚flüssig‘ angelehnten, Metapher beschreibt er den zunehmenden Abbau sozialer Institutionen sowie kollektiver Zusammenschlüsse zugunsten des Wachstums individueller Freiheitsräume. Damit eng verbunden verlieren die von diesen kollektiven Akteur*innen zur Verfügung gestellten Orientierungsmuster deutlich an intersubjektiver Verbindlichkeit und individueller Prägekraft. So ist, in Baumans Worten, die „heutige Situation […] die Folge der radikalen Demontage aller sozialen Verbindungsglieder, von denen man, ob zu Recht oder zu Unrecht, annahm, dass sie die Wahl- und Handlungsfreiheit der Menschen einschränkten“ (Bauman, Flüchtige Moderne, 11f.). An die Stelle der „soliden“, also von kollektiven Akteur*innen dominierten, tritt nach und nach eine individualisierte, gleichsam „flüssige Moderne“.

Pluralisierung christlicher Zeugnisformen

Die damit angezeigte Aufweichung kollektiver Identitäten hat nun aber wiederum eine abermalige Beschleunigung dieses Kausalzusammenhangs zur Folge: Indem jede*r einzelne Christ*in durch den Wegfall eines allgemeinverbindlichen Rollenmodells seinen*ihren eigenen Weg finden muss, den Glauben in den je spezifischen Kontexten zu leben, pluralisiert sich die geschichtliche Gestalt des Christentums in der Spätmoderne, z.B. gegenüber den aus der Volkskirche des letzten Jahrhunderts bekannten Formen, notwendigerweise. Erst in der Zusammenschau der Vielzahl der durch die Individuen gelebten Interpretationen des Evangeliums lässt sich das verbindend Christliche dann überhaupt bestimmen (vgl. Vattimo, Glauben – Philosophieren, 85). So zieht die Vielfalt der Kontexte also Verschiedenheit unter den Zeugnisformen nach sich, wie sich gegenwärtig z.B. im Synodalen Weg zeigt. Binär strukturierte Identitätsangebote laufen vor einem solchen Hintergrund ins Leere.

Wie aber kann eine im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen ebenfalls binnendifferenzierte Kirche trotzdem ihre Einheit wahren? Im Folgenden möchte ich einen knappen Überblick über eine denkbare Strategie geben, die es gerade vor dem Hintergrund spätmoderner Pluralisierung ermöglicht, Kirche als gemeinschaftlich geteilten Ort unterschiedlicher Gruppen zu verstehen. Meine Ausführungen können dabei, mit Tomas Halik, als Beitrag zu einem „Schritt vom ‚Katholizismus‘ zur wirklichen ‚Katholizität‘“ (Halik, Nicht ohne Hoffnung, 56) verstanden werden.

Ein republikanisches Modell der Einheit

Ausgehend von seiner Diagnose reflektiert Bauman selbst auf die Frage, in welcher Form intersubjektive Gemeinschaften unter den Vorzeichen einer dynamischen Individualisierung überhaupt weiter bestehen können. Da alle Identitäten brüchig geworden sind, so befindet er, erweist sich allein „eine allmählich wachsende Einheit, entstanden aus der gemeinsamen Anstrengung der auf Selbstidentifikation bedachten Akteure“ (Bauman, Flüchtige Moderne, 209), dafür als angemessen. Schließlich basiert nur ein solches „republikanisches Modell der Einheit“ (ebd.) auf Aushandlung und Versöhnung, nicht auf Versagung oder Verleugnung von Differenzen zwischen den beteiligten Akteur*innen. Die fortwährende reflexiv-diskursive Versicherung von Gemeinschaft ist also die Auflage, unter der diese auch in stark individualisierten Zeiten weiter existieren kann.

Konziliare Identitätsbestimmungen

In der Theologie des Zweiten Vaticanums ist diese Erkenntnis bereits vorweggenommen worden, vermeidet das Konzil es doch, Kirche monolithisch auf ein einzelnes Bild festzulegen. Stattdessen wird zur Reflexion über die Gemeinschaft der von Gott Zusammengerufenen eine Vielzahl von Metaphern verwendet. So nehmen neben den biblisch begründeten Begriffen des „Schafstalls“, der „Pflanzung“, des „Bauwerks“, des „heiligen Tempels“ oder der „Braut“ (alle LG 6) vor allem die systematischen Bestimmungen der Kirche als „Leib Christi“ (LG 7), „Sakrament“ (LG 1), „Geheimnis“ (LG 3) und vor allem „Volk Gottes“ bzw. „communio“ (LG 9-17) innerhalb von Lumen Gentium breiten Raum ein.

Insofern sich diese mit je unterschiedlichem Bedeutungsgehalt versehenen Selbstbezeichnungen dabei wechselseitig auslegen und kommentieren, bildet sich erst in ihrer Zusammenschau ein vollständiges Verständnis kirchlicher Identität. In der durch die Kirchenkonstitution vorgenommenen „Mischung von Aussagekomplexen“ (Hünermann, Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche, 551) zeigt sich die ekklesiale Identität in „ihrer internen Mehrdimensionalität“ (ebd., 556) – womit gerade diese ekklesiologische Richtigstellung einen Anknüpfungspunkt zu Baumans Konzeption der republikanischen Einheit verflüssigter Gemeinschaften darstellt. Insofern die Kirche nämlich von unterschiedlichen Bildern her zu bestimmen ist, die alle in ihrem Versuch, den Verweischarakter der Kirche auf das Christus-Ereignis zu formulieren, geeint sind, ist der Kern ekklesiologischer Diskurse selbst hybride angelegt: Eine einseitige Bestimmung des Wesens der Kirche greift entschieden zu kurz und ein ausgewogenes Verständnis ist nur durch Aushandlung und Versöhnung der Vielzahl ihrer Bestimmungen möglich. Definitiv-abschließende Festlegungen lassen sich mit dieser Identitäts-Architektur nicht vereinbaren – vielmehr sind die einzelnen Pole beständig neu aufeinander zu beziehen, um so eine je kontextsensible und auf die Vergegenwärtigung des Christus-Ereignisses zielende Bestimmung des Kirchenbegriffes freizulegen.

Hybride Identitäten und ihre Fähigkeit zur binnen-gemeinschaftlichen Ideologiekritik

In diesem hybrid-republikanischen Entwurf kirchlicher Identität findet sich dann zugleich „eine gute Portion Selbstkritik als Ideologiekritik der eigenen Identitätspolitik“ (Werbick, Identitätspolitik oder Diakonie, 230) angelegt, wie Jürgen Werbick feststellt. Denn da das den vielfältigen Identitätsbegriffen zugrundeliegende Christus-Ereignis sich erst in eschatologischer Perspektive vollends einholen lassen wird und sich so unter den Bedingungen der Welt als nur je perspektivisch anzielbar erweist, bleibt es der menschlichen Verfügung im Letzten entzogen – und steht nicht als Legitimationsinstanz eines einseitig begründeten Identitätsentwurfes zur Verfügung (vgl. ebd., 234). Ganz im Gegenteil führt die Vielfalt der Nachfolgepraktiken – und hier offenbart sich schließlich das konstruktive Potential der von Bauman aufgezeigten Individualisierungsdynamik für das Selbstverständnis unserer Glaubensgemeinschaft – in Abgrenzung zu Formen kirchlicher Identitätspolitik erst in die Nähre dessen, was Kirche im Kern eigentlich ausmacht: Ein vielfältiger Zugangsweg für alle Menschen zum Reich Gottes zu sein.

Hashtag der Woche: #samesamebutdifferent


(Beitragsbild: @Free-Photos)

Literatur:

Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne (edition suhrkamp; 2447). Frankfurt a.M. 82017.

Halik, Tomas: Nicht ohne Hoffnung. Glaube im postoptimistischen Zeitalter. Freiburg i.Br. 2014.

Hünermann, Peter: Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium (HThK Zweites Vatikanisches Konzil; 2). Freiburg i.Br. u.a. 2004, 263-563.

Vattimo, Gianni: Glauben – Philosophiere (Reclams Universal-Bibliothek; 9664). Stuttgart 2007.

Werbick, Jürgen: Identitätspolitik oder Diakonie: Wovon werden sich die Kirchen morgen bestimmen lassen?, in: Böttigheimer, Christoph (Hg.). Zweites Vatikanisches Konzil: Programmatik – Rezeption – Vision (QD; 261). Freiburg i.Br. u.a. 2014, 220-237.

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maximilian schultes

hat in Würzburg und Freiburg i.Br. Theologie studiert, arbeitet zurzeit als Referent für dialogische Pastoral in Kirche und Gesellschaft im Erzbistum Paderborn und an einer Promotion zum Glaubenssinn der Gläubigen. Vorher war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik, Dogmengeschichte und fundamentaltheologische Fragen der Universität Vechta beschäftigt. Einen Wandel vom Katholizismus zur Katholizität hält er für möglich.

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