Kultur als Identitäsressource wird in öffentlichen Debatten immer wieder Anlass für Konflikte: von der hiesigen Diskussion um Leitkultur, bis hin zu Abgrenzung der USA gegen andere Staaten. Fran Schmid begibt sich mit François Julliens Es gibt keine kulturelle Identität auf die Suche nach versöhnlicheren Zugängen zum Konzept der Kultur.
Abstand zu halten ist das Gebot der Stunde. Es schützt vor einer Ansteckung mit COVID-19 und ist so zu einem wichtigen Bestandteil solidarischen Verhaltens in Gesellschaften geworden. 2016 entwarf der französische Philosoph und Sinologe François Jullien im Hinblick auf den Umgang mit kultureller Vielfalt ein Konzept des Abstands, das heute angesichts der jüngsten Erfahrungen von Grenzschließungen und Abgrenzungsdynamiken wieder neu in den Diskurs um Öffnung und Abschottung einzubringen wäre.
Mit dem Konzept des Abstands möchte Jullien das aus der griechischen Philosophie stammende Konzept der Differenz ablösen:
„Anstatt die Verschiedenheit der Kulturen als Differenz zu beschreiben, sollten wir uns ihr mithilfe des Konzepts des Abstands nähern; wir sollten sie nicht im Sinn von Identität, sondern im Sinn einer Ressource und der Fruchtbarkeit verstehen.“ (36)
Das Identitätskonzept wirke durch die Analyse von Ähnlichkeiten und Unterschieden klassifikatorisch, indem es zu einem „in seiner Definition ausgedrückte[n] Wesen des Dings“ (37) vorzudringen versuche. Erst durch die Unterscheidung zweier Terme aus einer übergeordneten Gattung werde Identität hergestellt. Die Beziehung zwischen diesen Termen werde jedoch nur in Bezug auf den Vergleich hergestellt, da der nichtgewählte Term anschließend aus dem Fokus genommen werde. Die Denkfigur des Abstands dagegen halte beide Singularitäten bleibend im Blick und in Spannung zueinander. Sie konzentriere sich auf die Entfernung beider, diesen Raum nennt Jullien das Zwischen. Um das Zwischen denken zu können, müsse man jedoch zunächst die Logik der Ontologie ablegen, denn die Distanz des Zwischen hat kein Sein an sich, ist aber dennoch aktiv – eine Erklärung, warum dieser Gedanke der europäischen Geistesgeschichte lange entging:
„Der eine hört nicht auf, sich im anderen zu entdecken, sich in der Gegenüberstellung sowohl zu erforschen als auch zu reflektieren. Will er sich selbst erkennen, bleibt er vom anderen abhängig und kann sich nicht auf das, was seine Identität wäre, zurückziehen.“ (40)
Beispielhaft kann der Unterschied an der Debatte um eine Präambel für die Europäische Verfassung illustriert werden, die unter anderem darüber geführt wurde, ob Europa als christlich oder als laizistisch zu bezeichnen sei. In der Logik der Differenz sei das Ziel, Europas Identität über den Vergleich beider Positionen in Bezug auf religiöse Prägung und religionsverfassungsrechtliche Standpunkte zu bestimmen. Die Wahl zwischen diesen beiden Positionen ist hierbei zwingend, es können nicht beide Zuschreibungen zugelassen werden. In der Heuristik des Abstands dagegen könnte man sagen, dass Europa sich gerade zwischen diesen Polen, zwischen Aufklärung und Religion, entwickelt hat. (51)
Die Rede von kulturellen Identitäten lehnt Jullien also ab. Er spricht stattdessen von kulturellen Ressourcen und führt beispielsweise als europäische Ressource die Förderung und Freiheit des Subjekts an (58f). Ressourcen erhielten die Möglichkeit kultureller Diversität und könnten von Individuen in Form der Aneignung aktiviert werden, seien jedoch nicht besitzbar (61), und auch nicht auf einen bestimmten Personenkreis beschränkbar (66). Durch diese Aneignung würden sie zugleich bewahrt – auf diese Weise seien kulturelle Ressourcen unerschöpflich (67). Nicht kulturelle Diversität wird negiert, sondern das Denken in identifizierenden Strukturen.
Die plakative titelgebende These „Es gibt keine kulturelle Identität“ könnte also weiter lauten „…, da das Isolierende und Fixierende der Identität dem wesensgemäßen Mutieren und Sich-Verwandeln des Kulturellen widerspricht.“ Um dem Verdacht einer Essentialisierung der Kultur zu entgehen, spricht Jullien stets vom Kulturellen. Er kennzeichnet die Vorstellung einer ursprünglichen einheitlichen Kultur als Illusion. Keine dominante Kultur könne existieren, ohne dass sich zugleich eine dissidente Kultur herausbilde. Vielmehr stehe das Kulturelle in der „gegenläufigen Bewegung von Hetero- und Homogenisierung“ (46) und werde von dieser Spannung erst hervorgebracht.
Angesichts der zunehmenden Abkapselung von Gemeinschaften, die sich auf internationaler und nationaler Ebene beobachten lässt, ist zu fragen, was eine Gesellschaft noch zusammenhält. Julliens Antwort: das Gemeinsame (78f). „Das Gemeinsame ist das, was geteilt wird“ (15). Das meint jedoch nicht das Ähnliche oder die Assimilation; aktiv geteilt werden kann nur, was nicht gleichartig ist:
„Die Konsistenz einer Gesellschaft hängt vielmehr gleichermaßen von ihrer Fähigkeit zu Abweichungen/Abständen und von einem geteilten Gemeinsamen ab: von einem geteilten Gemeinsamen, das die Abweichungen/Abstände entfaltet und zum Arbeiten bringt […] – das also für permanente Erneuerung sorgt.“
In diesem Sinn plädiert Jullien abschließend für einen „Dia-log“ (83) nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen Kulturen. Um ein euphemistisches Verständnis von „Dialog“ zu vermeiden, das Machtasymmetrien zu verschleiern sucht, versucht sich Jullien an einer starken Bedeutung des Begriffs: Mit „dia“ bezeichnet er den Abstand zwischen Kulturen und zugleich den zeitlichen Verlauf des Prozesses, während „logos“ auf das Gemeinsame des Intelligiblen hinweise, das Bedingung und Ziel des Dialogs zugleich darstelle. Indem der Exklusivitätsanspruch der eigenen Position aufgegeben werde, enstehe im Zwischenraum zwischen Kulturen Platz, um Gemeinsames zu entdecken und zu befördern (89ff).
Inwieweit die kritisierten identifizierenden Denkmuster von hier tatsächlich verlassen werden, ist freilich zu fragen. Durch sein abschließendes Plädoyer für einen Dialog der Kulturen scheint eine Logik der Essentialisierung und Identifizierung nicht in Gänze vermieden zu sein. Gerade Julliens Begriff der Kultur und des Kulturellen wäre angesichts von Inkonsistenzen in der Verwendung eigens zu analysieren und zu problematisieren. In der Neujustierung der begrifflichen Voraussetzungen und Hintergrundkonzeptionen im Diskurs um kulturelle Identität liegt zugleich die Begrenzung und die Innovationskraft des jullienschen Ansatzes, ist diese an eigene Denkvoraussetzungen gebunden, doch kann sie einen neuen Blickwinkel auf und kreative Umgangsformen mit kultureller Vielfalt ermöglichen.
„Es gibt keine kulturelle Identität“ sei allen ans Herz gelegt, die unter dem fortdauernden Social Distancing leiden und eine neue, positive Konnotation des Abstandbegriffs gewinnen wollen. Dieses kluge Bändchen bietet sich nach einem frustrierenden Tag im Home Office als Lektüre an durch sein Aufmunterungspotential: Die Perspektive, dass wir uns auch als Individuen, die Abstand zueinander halten, bleibend in Beziehung zu Anderen gesetzt sehen dürfen – und uns in ihnen neu entdecken können.
Hashtag der Woche: #abstand
(Beitragsbild: @katetrifo)
Literatur:
François Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin 42018.
Liebe Frau Schmid,
herzlichen Dank für diese Gedanken! Tatsächlich habe ich den schmalen Suhrkamp-Band Julliens unlängst selbst, nicht ohne Freude, gelesen.
Auch wenn der Autor sich beim Vorlegen seiner Gedanken m.E. sehr oft wiederholt und damit (auf handwerklicher Ebene) manche Redundanzen schafft, teile ich Ihre grundsätzliche Würdigung für den Text. Insofern Jullien zuzustimmen ist, dass „Kultur“ vor allem Auswahl- und Aneignungsprozesse durch das Individuum im Spannungsfeld unterschiedlicher ‚Ressourcen‘ meint, stellt sich mir dabei aber die Frage nach den Bedingungen kollektiver Identitäten unter diesen Vorzeichen: Wenn die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Ressourcen in Form des Abstandes zu ihrer eigenen „Dekonstruktion“ beiträgt (vgl. Jullien, keine kulturelle Identität, 76), wie können kulturelle Ressourcen dann einen intersubjektiven Rahmen für Gemeinschaften/Gesellschaft bilden? Zur Beantwortung dieser – im Kontext der neueren Geistesgeschichte vielleicht schon wieder als „alt“ zu bezeichnenden – Frage weist Jullien selbst darauf hin, dass die „Konsistenz einer Gesellschaft […] gleichermaßen von ihrer Fähigkeit zu Abweichungen/Abständen und von einem geteilten Gemeinsamen“ (ebd., 79) abhängt, welche zu realisieren allein der Dia-log das einzig geeignete Mittel sei (vgl. ebd., 81-96).
Mit Blick in die Gegenwart nehme ich nun wahr, dass sich v.a. Bewegungen (z.B. Fridays for future oder Black Lives Matter) als neue Orte kollektiver Identitäten erweisen, während tradierte Kollektivsubjekte (Volksparteien oder so) zunehmenden Zentrifugalkräften ausgesetzt sind. Mit dieser (sozialen?) Verschiebung werden alte Diskursgrenzen nun aber gerade nicht aufgelöst, sondern perpetuieren sich entlang neuer Fragestellungen – der (unversöhnliche?) Abstand zwischen Vielflieger*innen und Klimabewegten bzw. christlich-evangelikalen US-Amerikaner*innen und People of Colour bleibt bestehen (er wird im gegenwärtigen Diskurs m.E. manchmal geradezu zur ‚Differenz‘, ich erinnere mich an Jullien, essentialisiert). Wie kann im Anschluss an Jullien nun aber eine Dialogform aussehen, die die unterschiedlichen kulturellen Ressourcen dieser Lager zusammenbringt und so Versöhnung/Kompromiss stiftet, ohne dabei gleichzeitig vollständig entpolitisiert zu sein? Bzw. gibt es vor dem Hintergrund der Gedanken Julliens eine Möglichkeit, Politik nicht primär als Kampf verschiedener Interessensgruppen um die Durchsetzung ihrer Anliegen zu verstehen?
Dazu würde mich Ihre Meinung interessieren.
Herzlichen Dank!