In „Die Gesellschaft der Singularitäten“ analysiert Andreas Reckwitz grundlegend die Gesellschaft der Gegenwart. Nadja Schmitz-Arenst fasst seine Thesen zusammen und fragt nach den Konsequenzen für eine zukunftsfähige kirchliche Praxis.

Andreas Reckwitz verfolgt mit seinem 2017 erschienenen Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ ein ambitioniertes Ziel: Nicht einzelne soziologische Phänomene möchte er erklären, sondern grundlegende Veränderungen in den spätmodernen  westlichen Gesellschaften, viele verschiedene Trends unserer Zeit, darunter den Erfolg von Instagram und anderen sozialen Medien, aber auch viel diskutierte Fragen wie den Aufstieg von nationalistischen Gruppierungen und Parteien wie beispielsweise der AfD. Aber welche Gemeinsamkeit gibt es zwischen diesen scheinbar nicht zusammenhängenden Phänomenen?

Neu im Fokus: die Singularität

Zu Beginn seiner Gesellschaftstheorie geht Reckwitz davon aus, dass sich seit den 1970er Jahren ein gesellschaftlicher Strukturwandel vollzieht: Die soziale Logik des Allgemeinen wird durch die des Besonderen abgelöst, d. h. gesellschaftlich anerkannt wird vorrangig das Einzigartige, das Nicht-Vergleichbare, also die Singularität.1 Dieser Prozess betrifft alle Bereiche des sozialen Lebens, darunter Wirtschaft, Technologie und Arbeitswelt, sowie Lebensstile, Alltagskulturen und Politik.2 Und wie könnte man sich als Individuum besser präsentieren, besser um Sichtbarkeit kämpfen als in den sozialen Medien, in denen das eigene Leben buchstäblich kuratiert wird?3

Das spätmoderne Subjekt performed sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden. Nur wenn es authentisch ist, ist es attraktiv. Die allgegenwärtigen sozialen Medien mit ihren Profilen sind eine der zentralen Arenen dieser Arbeit an Besonderheit.4

Mit seiner Analyse geht Reckwitz im Folgenden aber noch einige Schritte weiter: Singularität und Singularisierung sind nämlich Querschnittsbegriffe, die sich auf sämtliche Dimensionen des Sozialen beziehen, sich im Unterschied zum Begriff der Individualisierung also nicht nur auf Subjekte beziehen, sondern auch auf Objekte, Orte, Zeiten und Kollektive. In der Konsequenz dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bildet sich laut Reckwitz durch konstante Be- und Entwertungsprozesse und der daraus resultierenden Aufwertung der Berufsgruppen der creative economy5 eine neue Klassengesellschaft heraus: Es gibt eine kleine Oberklasse, eine neue akademische Mittelklasse mit hohem kulturellen und sozialen Kapital, eine schrumpfende alte, noch auf Leistung setzende Mittelklasse und eine Unterklasse der Abgehängten, die über zu wenig kulturelles Kapital verfügen. In Folge dessen setzen zwei entgegengesetzte politische Bewegungen ein: Einerseits wird durch die neue Mittelklasse ein neuer, weltoffener Liberalismus stärker, der für Vielfalt steht, andererseits erstarken in ganz unterschiedlichen Ausprägungen kulturessenzialistische Bewegungen wie Nationalismen, religiöse Fundamentalismen und Rechtspopulismen in fast allen Bevölkerungsgruppen.6

Was heißt das für eine zukunftsfähige kirchliche Praxis?

Nun wäre die Frage zu stellen, welche Folgen diese gesellschaftlichen Entwicklungen für die römisch-katholische Kirche in Deutschland haben und ob man aus Reckwitz‘ Analyse vielleicht etwas für die Kirchenentwicklung lernen oder zumindest besser verstehen kann, woran es bei der kirchlichen Kommunikation hapert. Klar ist, dass sich inmitten dieser Prozesse verschiedene Probleme für das kirchliche Leben ergeben. Zunächst ist die katholische Kirche selbst natürlich nicht frei von den Prozessen der Singularisierung, sondern muss sich als Jahrhunderte alte Institution auf dem Markt der spirituellen Möglichkeiten als attraktives Angebot positionieren. Währenddessen streben die Gläubigen nach Selbstoptimierung und dem Besonderen – entsprechend haben es viele „alte“ Institutionen (wie neben Kirchen z. B. auch Volksparteien und Gewerkschaften) in dieser neuen Gesellschaft schwer, ihre Mitglieder zu halten, die sich vielfach nicht mehr mit ihnen identifizieren können.

Die eben genannten gröberen politischen Strömungen (Liberalismus vs. Kulturessenzialismus) sind für die katholische Kirche ebenfalls problematisch. Im Falle des Liberalismus ist die Vielfalt der Lebensstile eher nicht das, was die katholische Amtskirche von ihren „Schäfchen“ fordert, vor allem im Bereich der sexuellen Orientierung und der Familienbilder. Die Diskrepanz zwischen offizieller katholischer Position und der Lebenswirklichkeit vieler Menschen ist unübersehbar und bestimmte katholische Positionen (wie die Benachteiligung von Frauen und der LGBT+-Community) können der liberalen neuen Mittelklasse schlicht nicht mehr überzeugend kommuniziert werden. Hinzu kommt natürlich auch der immense Schaden, der durch die Missbrauchsfälle und ihre Vertuschung entstanden ist.

Die kulturessenzialistischen Positionen und vor allem der Zulauf zu religiösen Fundamentalismen dagegen stellen die Kirche vom anderen Extrem aus vor Herausforderungen: Bewegungen wie evangelikale Freikirchen, das Gebetshaus in Augsburg und die Loretto-Gemeinschaft7 erleben großen Zulauf, gerade von nicht christlich sozialisierten Menschen, weil sie statt auf Sozialisation auf eine affektiv dicht einbindende Praxis der Gläubigen setzen.8 Durch diesen Erfolg wird auch die katholische Kirche unter Zugzwang gesetzt, denn sie muss sich zu diesen Phänomenen irgendwie verhalten, und sich überlegen, wie sie die stärker werdende Polarisierung der Gesellschaft und auch der Kirchenmitglieder untereinander kritisch begleiten kann.

Es ist nicht leicht, all diesen verschiedenen Herausforderungen gerecht zu werden und es braucht deutlich mehr als einen Instagram-Account oder eventisierte Großveranstaltungen mit jungen Menschen, um sich in der Gesellschaft der Singularitäten zu behaupten und dabei auch noch als weltweit agierende Institution authentisch zu sein. Um adäquat auf die sich wandelnden gesellschaftlichen Zustände reagieren zu können und um Authentizität zurückzugewinnen, bräuchte es aber genau die Maßnahmen, die weite Teile des Lehramts verhindern wollen: Tiefgreifende strukturelle Reformen, den Abbau der amtlichen Hierarchie, die Abschaffung der Benachteiligung von Frauen und queeren Menschen, nur um einige Beispiele zu nennen. Davon ist man im kirchlichen Diskurs, trotz des Synodalen Wegs, bekanntlich aber leider weit entfernt, was – wenn man in Reckwitz‘ Kategorien spricht – nur dazu führen kann, dass die katholische Kirche sich nicht singularisieren kann, und deshalb weiter enorm an Attraktivität verlieren wird.

Hashtag der Woche: #pluralundsingular


(Beitragsbild: @chuttersnap)

1 Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, 11.

2 Vgl. ebd. 429.

3 Vgl. ebd. 9.

4 Ebd.

5 Die creative economy umfasst viele Branchen der spätmodernen Kulturkapitalismus, darunter Architektur, Kunst, Musik, Softwareentwicklung und andere Computerdienste, Medien aller Art, Sport, Tourismus, Mode, Design und Werbung. Die entscheidende Differenz zu anderen Branchen liegt darin, dass sich das klassische ökonomische Dreieck von Produzent*in, Produkt und Konsument*in in Autor*in, Werk und Rezipient*in/Publikum verwandelt hat. Vgl. ebd. 115‒117.

6 Vgl. ebd. 371‒428.

7 Auch wenn Reckwitz Gemeinschaften wie die hier genannten in seinem Kapitel zu religiösem Fundamentalismus behandelt, macht er deutlich, dass nicht alle diese Glaubensangebote fundamentalistisch sind, aber je nach Kontext im Kulturessenzialismus eine wichtige Rolle einnehmen können (Vgl. ebd. 410f).

8 Vgl. ebd.

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nadja schmitz-arenst

studiert Musikwissenschaft und Katholische Theologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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