Noami Aldermans Roman „Die Gabe“ und James H. Cones theologische Schrift „God of the oppressed“ fragen auf je eigene Weise nach einer gerechteren Gesellschaft. Philipp Brutscher zeichnet einige Gedanken nach.

Frauen, die mit Gewalt über Männer herrschen? In Naomi Aldermans Roman „die Gabe“ wird dieses Verhältnis dystopisch betrachtet und die Frage erörtert, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen kann. Alderman nähert sich dem Thema mittels fiktiver Machtverhältnisse – James H. Cone, US-amerikanischer Befreiungstheologe, liefert mit seiner „black theology“ einen sozialethische Bewertungsrahmen. Beide Bücher passen zusammen wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge.

Naomi Aldermans „Die Gabe“ und der Kampf der Geschlechter

Der deutsche Titel — „Die Gabe“ — ist eigentlich schlecht übersetzt, denn im Original heißt das Buch „The Power“, was viel deutlicher beschreibt, um welche Thematik es sich dreht. Die gegenwärtigen Machtverhältnisse der Geschlechter werden umgedreht. Frauen ist es plötzlich möglich, Stromschläge zu verteilen und damit einen physischen Vorteil gegenüber Männern auszuleben. Die Frauen im Buch wehren sich und das geschieht nicht geräuschlos. Für sie gibt es nun keinen Grund mehr, nachts ängstlich durch dunkle Gassen zu gehen oder sich in Warteschlangen übergriffiges Verhalten von Männern gefallen zu lassen. Und natürlich: Die Geschichte endet nicht hier. Es bleibt nicht dabei, es geht nicht nur um situative Stärke – auch als Leser*in fragt man sich schnell: Wie würde eine matriarchalische Gesellschaft aussehen? Eine Gesellschaft, die gegenwärtige Machtverhältnisse in unserer Welt einfach umdreht? Alderman liefert eine Vision: In unterschiedlichen Bereichen wie Wissenschaft, Politik und Religion soll die Gesellschaft umgestaltet werden – und wenn es sein muss, mit Gewalt.

Und die gibt es zuhauf. Gewalt in vielen hässlichen Formen: physisch, psychisch, verbal, non-verbal… das Arsenal ist riesig. Manche Geschehen sind so realistisch geschildert, dass es weh tut. Da zwingt Präsidentin Moskalew ihren männlichen Sklaven, den von ihr verschütteten Bourbon zwischen Glasscherben auf dem Boden aufzulecken. Nachdem er mit einer blutenden Zunge verschwindet, wendet sie sich ihren Gästen zu:

Ist es zu glauben, dass er es wirklich getan hat? (Die Gabe, 316-317)

Als ob er angesichts der Stromstöße eine Wahl gehabt hätte.

Da gibt es Vergewaltigungen in Flüchtlingslagern und es gibt Geschlechtsverstümmelungen. Auf die brutalste Art und Weise, und Alderman beschreibt das Geschehen meist recht plastisch, werden hier Männer nur aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt. Und natürlich, mit der Zeit regt sich der Widerstand – die Gewaltspirale dreht sich weiter und Männer beginnen, sich an Frauen zu vergehen.

„Die Gabe“ und ihre Aktualität

Der Roman hat die Machtverhältnisse der Geschlechter zum Schwerpunkt. Durch die neuen Fähigkeiten der weiblichen Bevölkerung wendet Alderman die Perspektive der mehrheitlichen Geschehnisse dieser Welt. Sollte das Neuland sein — bei all den Meldungen von amnesty international, den Statistiken über häusliche Gewalt oder angesichts der Notwendigkeit des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen — dann verdeutlicht diese Story auf sehr schmerzhafte Weise, dass unreflektierte Machtverhältnisse in schmerzhafte und blutige Unterdrückung führen können. Alles furchtbare, unentschuldbare Dinge, die heute passieren — mehrheitlich an Frauen* und Mädchen.

Auch wenn das Geschlechterverhältnis in Aldermans Roman vordergründig entscheidend ist: Nach Bekunden der Autorin hat es tatsächlich wenig mit den Zuschreibungen „Mann“ und „Frau“ zu tun.

Das Geschlecht ist ein Hütchenspiel. Was ist ein Mann? Das, was eine Frau nicht ist. Was ist eine Frau? Das, was ein Mann nicht ist. Tipp darauf, und es ist hohl. Schau unter die Hütchen: nichts. (Die Gabe, 460)

Die „Frauen“ in Aldermans Roman stehen als Chiffre für Machthabende in einer Gesellschaft — in realen Verhältnissen können Männer*, Weiße, im Prinzip alle gemeint sein, die ungerechte Machtstrukturen fördern und bestätigen. Das sollte unbedingt mitgelesen werden.

James H. Cone: „Gott der Befreier“

Auch der Titel von Cones Buch ist eher schlecht übersetzt. Cone nennt es„God of the oppressed“, legt den Schwerpunkt also auf die unterdrückten Menschen und nicht auf den Gottesbegriff („Befreier“), und entwickelt darin die Grundzüge seiner „black theology“ weiter. „God of the oppressed“ ist entstanden im Kontext der Rassendiskriminierung in den USA, des civil-right-movements, von Malcolm X, Black Power und der Freundschaft Cones zu Martin Luther King.

Gegenstand von Cones „black theology“ ist die Annahme, dass Gott immer auf Seiten der Unterdrückten steht. Er führt dazu das Exodus-Ereignis und die stete Wendung Jesu zu den Unterdrückten, Armen, Gefangenen und Kranken an. Seiner Ansicht nach ergreift Gott immer und ausschließlich Partei für die Unterdrückten. Daher sind die Menschen in die Pflicht genommen, Unterdrückungsregimes abzuwenden – mit einem klarem Ziel vor Augen: eine gerechte Gesellschaft.

Weil Unterdrückte selbst Opfer geistiger und physischer Entmenschlichung geworden sind, können wir die Zerstörung der Menschlichkeit nicht zum Ziel haben, auch nicht im Blick auf unsere Unterdrücker. […] Wir wollen die Unterdrücker nicht zu Sklaven machen, sondern die Menschlichkeit verwandeln. (Gott der Befreier, 141)

Ziel dieser Verwandlung ist eine Welt, in der es keine Diskriminierung aufgrund von Rassenvorstellungen, Geschlechtszugehörigkeiten, sonstigen Unverfügbarkeiten oder auch von bewussten Entscheidungen gibt. Diskriminierung an sich ist das Problem, denn Diskriminierung führt in ungerechte Gesellschaftsverhältnisse und Ungerechtigkeiten führen immer zu Gewalt – auf beiden Seiten. Gewalt darf in diesem Kontext nicht nur als physische Anwendung von Zwang verstanden werden, sondern genereller: als Durchsetzung von Machtverhältnissen. Ob diese Anwendung dann gerechtfertigt oder ungerechtfertigt ist, kann nach Cone ausschließlich durch die Unterdrückten beurteilt werden. Darin liegt der Ausgangspunkt für die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft.

Die Unterdrückten zu Wort kommen lassen

Angewandt auf Aldermans Roman wäre es wohl richtig, die gegebenen und auf Gewalt basierenden Machtverhältnisse der Frauen gegenüber Männern aufzubrechen und die Gesellschaft zu verwandeln.

Cone, ganz identifiziert mit den Unterdrückten, formuliert nicht nur das Ziel dieser gesellschaftlichen Transformation, sondern auch den schmerzhaften Weg dorthin:

[Wir müssen] uns an Gottes revolutionärem Handeln in der Welt beteiligen, indem wir die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen ändern, so dass die Unterschiede zwischen Reich und Arm, Unterdrückten und Unterdrückern unter Menschen nicht länger anzutreffen sind. […] Versöhnt zu sein heißt, gegen […] [die] Macht, andere zu versklaven, zu kämpfen. […] Wir müssen sie wissen lassen, dass es so lange keine Verständigung zwischen Herren und Sklaven geben kann, bis es den Status des Herren nicht mehr gibt. (Gott der Befreier, 162)

Die Frage, ob diese Transformation gewaltfrei geschehen kann, lässt Cone offen. Es bleibt aber zu beachten, dass Formen von Gewalt (verbal, non-verbal, physisch, psychisch, strukturell etc.) ausschließlich durch Unterdrückte und Betroffene bewertet werden können. Anwender*innen ungerechter Strukturen unterstellt er immer eine Korrumpiertheit, die sich darin gründet, das etablierte System und die damit einhergehenden Privilegien schützen zu wollen. Zur Schaffung einer gerechten Gesellschaft sind daher aus seiner Sicht vor allem die Stimmen zu hören, die durch das aktuelle System unterdrückt, diskriminiert und verletzt werden.

Eine Gesellschaft, in der für alle möglichst die gleichen Voraussetzung gelten, die für alle einen Platz hat und in denen niemand Sklav*in oder Unterdrückte*r sein soll: Das klingt nach einer Gesellschaft, für die es sich zu kämpfen lohnen würde. Auch und gerade aus christlicher Motivation heraus.

Hashtag der Woche: #powerless


(Beitragsbild: @jamesponddotco)

Literatur:

Alderman, Naomi: Die Gabe. Heyne: 2018. 3. Auflage.

Cone, James H. Gott der Befreier. Eine Kritik der weißen Theologie. Kohlhammer: 1982.

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philipp brutscher

studierte mit Zwischenstopps im Bundestag und bei einer Münchener Unternehmensberatung katholische Theologie in Freiburg. Er ist Pastoralreferent, Jugendseelsorger und Referent der Fachstelle Ministrant*innen im Erzbistum Freiburg.

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