Adorno, Ambiguitätstoleranz und Antwortversuche: Maximilian Schultes bietet einen Rückblick auf die Vorträge von Thomas Bauer und Claudia Nothelle im Rahmen der Salzburger Hochschulwoche 2019.

Adorno – ein Fundamentalist? Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie es zu dieser provokanten These kommt, dem*der sei Thomas Bauers Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt nachdrücklich empfohlen. Dort nämlich attestiert der 1961 in Nürnberg geborene Bauer dem großen Dialektiker der Moderne in dessen Verteidigung von Arnold Schönbergs Zwölftonmusik die Erfüllung aller drei fundamentalismuskonstitutiven Merkmale von Ambiguitätsintoleranz: Wahrheitsobsession, Ablehnung von Konvention bzw. Geschichte als gültigem Bezugsrahmen für Argumente sowie Streben nach „Reinheit“. Im Kampf für die mathematische Schönheit absoluter Eindeutigkeit wird Adorno hier zum blindwütigen Zeloten.1

Mit Blick auf unsere Welt stellen wir jedoch fest, dass Adorno mit seinem strengen Eifer nicht alleine steht: In den spätmodernen Gesellschaften sind überall – ganz gleich ob in Politik, Kunst, Musik, Religion oder Ökonomie – Imperative zur Vereindeutigung zu hören. Im Rahmen der Salzburger Hochschulwoche hielten Thomas Bauer und Claudia Nothelle demgegenüber nun ein starkes Plädoyer für mehr Ambiguitätstoleranz.

Bauer: Ambiguitätsintoleranz als Megatrend der späten Moderne

Für die zeitkritische These argumentierend, dass – während die Welt als solche immer komplexer werde – die Ambiguitätstoleranz der meisten Gesellschaften zurzeit zusehends schwinde, gelang es dem Münsteraner Islamwissenschaftler im Rahmen seines Vortrages mit dem Titel Auf der Suche nach Eindeutigkeit. Wie die Flucht vor Ambiguität Gesellschaft und Kultur verändert auf bewandte Weise, seinem Publikum diese Beobachtung in interkultureller, interreligiöser sowie geschichtlicher Perspektive zu erschließen.

In einem ersten Schritt zeigte Bauer dabei die besondere Ambiguitätstoleranz beispielsweise der vorkolonialen islamischen Gesellschaften auf, in welchen eine Vielzahl unterschiedlicher, teils widersprüchlicher Koranexegesen nebeneinander anerkannt wurde. Hinter diesen damaligen Ausprägungsgrad von Ambiguitätstoleranz seien die gegenwärtigen islamischen Gesellschaften jedoch erkennbar zurückgefallen. Auch die katholische Kirche der frühen Neuzeit, deren römischer Zentralapparat es in manchen Situationen praktizierte, knifflige Fragen gegenläufiger Ansprüche von Orthodoxie und Inkulturation (z.B. Missionsinteressen) offenzulassen und nicht final festzulegen (nihil esse respondendum), gilt ihm als ambiguitätstoleranter als ihre gegenwärtige Ausprägung. Anhand weiterer Beispiele aus Kunst (Abstrakter Expressionismus), Musik (Popkultur) und Politik (Populismus) konnte der Arabist zudem begründen, dass nicht nur religiöse Akteure einen solchen Ausschluss von Bedeutungsvielfalt betreiben.

Jahrhundert der Ideologien als historische Zäsur

In historischer Dimension lasse sich diese wachsende Sehnsucht nach Eindeutigkeit und die damit einhergehende Forderung nach einem Bedeutungsabschlusses jedoch schon seit dem 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Ideologien mit seinen durch Industrialisierung, Kolonialisierung und Technisierung hervorgerufenen Umwälzungen, beobachten. Mit dem Ersten Vatikanischen Konzil sei beispielsweise ein genaues Datum benennbar, welches die Abwehrhaltung des Katholizismus gegenüber einer als herausfordernd-mehrdeutig wahrgenommenen Moderne dokumentiere und gegen diese ein eindeutiges kirchlich-hierarchisches Bezugssystem als Vereindeutigungsinstanz in Stellung bringe. Auch prinzipiell ambiguitätstolerante Religionen seien demnach nicht davor gesichert, in ihrem Binnenraum eher ambiguitätsfeindliche Deutungsmonopole zu errichten.

Ambiguitätsintoleranz als Krisenphänomen

Hiervon nur wenig verschieden sei die Situation in der durch das Internet zur Echokammer zusammengerückten Spätmoderne. Hier ließen sich auf differenz-unfähige Meinungsblasen verweisende Shitstorms und populistische Komplexitätsverweigerer*innen ausmachen. Da die gesteigerte Komplexität der Welt gemeistert werden will, den Individuen aufgrund der technisch-pragmatischen Orientierung der gesellschaftlichen Bildungssysteme aber kaum persönlich-kreative Ressourcen hierzu zur Verfügung stehen, ginge mit dieser Komplexitätsverschärfung ebenfalls eine wachsende Komplexitätsflucht einher. Somit lassen sich, wie der Fachmann für arabische Literatur und Kulturgeschichte nicht müde blieb zu betonen, auch einige Krisenphänomene gegenwärtiger (westlicher) Gesellschaften durch mangelnde Ambiguitätstoleranz erklären.

Nothelle: Differenzierender Journalismus als konstruktive Antwort auf die Komplexitätssteigerung

Wie kann es gelingen, angesichts dieser Komplexitätssteigerung trotzdem übersichtlich und informativ zu berichten? Dieser Frage widmete sich Claudia Nothelle im Anschluss in ihrem Vortrag. Unter dem Titel Die Probleme der Welt in 90 Sekunden. Wenn Komplexität auf die Gesetze der Medien trifft folgte die Professorin für Fernsehjournalismus an der Hochschule Magdeburg-Stendal dem bewährten Dreischritt von Sehen – Urteilen – Handeln in der Erörterung ihres Themas. Ausgehend von der Erkenntnis, dass es sich bei der Komplexitätsreduktion um eine grundsätzliche journalistische Tätigkeit handle, die jede*r Journalist*in mithilfe unterschiedlicher handwerklicher Techniken erlernen müsse, und der Feststellung, dass es jede Form journalistischer Kurzsichtigkeit zu vermeiden gelte, entwickelte die 1964 geborene ehemalige Chefredakteurin und Programmdirektorin des rbb verschiedene „Wege aus der Eindeutigkeitsfalle“.

Kompliziertheit lässt sich mit Kompetenz auflösen, Komplexität nicht

Grundsätzlich gelte es demnach festzuhalten, dass journalistisches Arbeiten stets im Bewusstsein und mit dem Anspruch, die Komplexität eines Sachverhaltes nicht zu unterlaufen, sondern zu ihr hinzuführen, geschehen müsse. Da sich Komplexität im Gegensatz zu Kompliziertheit eben nicht mit Kompetenz auflösen lasse, liege die „wahre journalistische Kunst darin, Komplexität unkompliziert darzustellen – und dann die Ambiguität auszuhalten“. Dazu sei es beispielsweise nötig, Grautöne darzustellen, Uneindeutigkeiten beizubelassen oder Abstand von zu einfachen Deutungsmustern zu nehmen – und so den Anspruch auf überfordernd-detaillierte Erklärungsversuche fallen zu lassen.

Stellschrauben für eine offene Gesellschaft

Das sich aus den Vorträgen ergebene Fazit ist also ein mutmachendes: Weil der Umgang mit Ambiguität eine graduell ausgeprägte Fähigkeit stabiler Gesellschaftssysteme ist, ist der gegenwärtig zu beobachtende Verlust der Mehrdeutigkeit nicht unumkehrbar. Vielmehr kann mit den richtigen Stellschrauben, so bleibt begründet zu hoffen, mittelfristig wieder ein gesellschaftliches Klima erzeugt werden, das dem oft zitierten Ideal einer offenen Gesellschaft entspricht. Der Journalismus ist einer dieser Faktoren – aber sicherlich nicht der einzige.

Hashtag: #shw2019


(Beitragsbild @joshrh19)

1 Vgl. Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt (reclam-UB; 19492). Stuttgart 2019, S. 43.

Zusätzlich weiterführende  Literatur:

Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin 2011.

Nothelle, Claudia: Warum Profis? Journalisten und Medien als wichtige Player in der demokratischen Gesellschaft, in: Salzkörner. Materialien für die Diskussion in Kirche und Gesellschaft 24 (1/2018), 4-5.

Nothelle, Claudia: Auf Autopilot. Journalismus in schwierigen Zeiten, in: Communication Socialis (1/2017), 77–80.

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maximilian schultes

hat in Würzburg und Freiburg i.Br. Theologie studiert, arbeitet zurzeit als Referent für dialogische Pastoral in Kirche und Gesellschaft im Erzbistum Paderborn und an einer Promotion zum Glaubenssinn der Gläubigen. Vorher war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Dogmatik, Dogmengeschichte und fundamentaltheologische Fragen der Universität Vechta beschäftigt. Einen Wandel vom Katholizismus zur Katholizität hält er für möglich.

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