Der diesjährige Publikumspreis der Salzburger Hochschulwochen ging an Dominique-Marcel Kosack für seinen Vortrag über „Nicht-Identität“. Bei uns fasst er seine Thesen zusammen.

Was haben Beruf, Kleidung, Essen und Wohnung gemeinsam? Natürlich kommen wir ohne sie nicht aus. Ohne Einkommen, ohne wärmende Kleidung, ohne regelmäßige Mahlzeit, ohne Dach über dem Kopf bleiben lebensnotwendige Bedürfnissen unerfüllt. Aber in den letzten Jahrzehnten haben alle diese Güter noch eine ganz andere Bedeutung bekommen: Für die meisten Menschen sichert der Beruf nicht mehr nur das notwendige Einkommen, er wird zu einem entscheidenden Feld der Selbstverwirklichung – durch ihn definieren wir oft, wer wir sind, wer wir sein wollen, welches Bild andere und wir selbst von uns haben sollen. Ähnliches lässt sich über das Essen sagen, in dem Psycholog*innen mittlerweile einen Ausdruck der eigenen Identität und eine Art „Selbstmarketing“ sehen.1 Hinzu kommen viele weitere Mechanismen der Identitätsbildung, etwa die Mode oder der individuelle ‚Wohnstil‘. Zu den wichtigsten Medien personaler Identität zählt heute sicher das virtuelle Ich mit seinen Datenmengen, analysiertem Nutzerverhalten und Verknüpfungen, mit seinen empfangenen und gegebenen Clicks und Likes.

Im Hintergrund dieses komplexen Gefüges von Feldern personaler Identitätsbildung steht das Authentizitätsideal, das unter anderem der Philosoph Charles Taylor beschreibt. Demnach kann und muss jeder Mensch seine eigene Originalität entdecken und ausdrücken, ist aufgefordert, ständig das zu artikulieren, was ihn authentisch ausmacht.2 Für Taylor ist das zunächst einmal kein bloßer Egoismus, sondern ein moralisches Ideal unserer Zeit, das durchaus ernstgenommen werden sollte. Es aber auch deutlich geworden, wie anspruchsvoll dieses Ideal ist. Die Komplexität der Gestaltungsmöglichkeiten individueller Identität reicht bis in den existenziellen Kern jeder Person hinein. Das ist zum einen ein beachtlicher Gewinn an Freiheit, zum anderen kann es aber überfordern. Wer sich selbst immer wieder und in allen Lebensbereichen definieren muss – ob er das will oder nicht – kann an dieser Aufgabe auch verzweifeln.

Religion mit umgekehrten Vorzeichen

Angesichts dieser Herausforderung wird Religionen oft gerade das zugesprochen, was Menschen bei komplexer und teils überfordernder Identitätsbildung zu brauchen scheinen: Eine klare Orientierung im Leben, einen festen Platz in einer Gemeinschaft, die Bewältigung der eigenen Grenzen und Ohnmacht. Das sind alles Punkte, die etwa der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann mit seinem funktionalen Religionsbegriff benennt.3 Religionen kultivieren in einem guten Sinne und meist auf hohem Niveau eine Einfachheit, durch die Menschen in einer unübersichtlichen Welt bestehen und eine stabile Identität finden können. Die Kehrseite sind absolut gesetzte Vereinfachungen, die sich in Religionen finden – sei es im Fundamentalismus mit seinen einfachen Antworten, sei es in ‚klassisch-modernen‘ religiösem Denken, etwa mit seinen freiheitstheologischen Universalisierungen. All dies mag helfen, die eigene personale Identität zu stabilisieren. Doch der Preis ist, dass man sich von der immer schon komplexeren Wirklichkeit abkapselt.

Es geht mir hier nicht um ein Einfachheits-Bashing. Bei allen möglichen Gefahren haben die verschiedenen Formen der Komplexitätsreduktion grundsätzlich einen notwendigen Platz in der Religion. Man kann die Bedeutung von Religionen für die Identitätsbildung aber auch einmal mit gänzlich umgekehrten Vorzeichen sehen: Als radikale Steigerung von Komplexität. Das lässt sich etwa an den Briefen des Apostels Paulus zeigen, die nicht zuletzt für die westliche Philosophiegeschichte von enormer Bedeutung sind. Da schreibt Paulus, dass er für das religiöse jüdische Gesetz – also für ein Identitätsmerkmal – gestorben ist (Gal 2,19f), aber nicht um sich jenseits dessen neu zu definieren. Er ist den Juden ein Jude geworden und den Nicht-Juden ein Nicht-Jude. Für seine Christusverkündigung ist er „allen alles geworden“ (1Kor 9,22). Weder versteht sich Paulus hier von einer partikularen Gruppe her, noch von einer universalen Kategorie – er vermeidet beide Formen der Einfachheit. Seine Identität wird stattdessen komplexer, sie wird als religiös durch Christus bestimmte nun völlig unbestimmt. Er ist „allen alles“ geworden.

Durch Christus unverfügbar

Wenn der Philosoph Giogio Agamben das „Als-ob-nicht“ als Grundstruktur paulinischen Denkens herausarbeitet (vgl. 1Kor 7,29–31), zielt er in eine ganz ähnliche Richtung. Wer weint, soll sein, als ob er nicht weint. Wer sich freut, soll sein, als ob er sich nicht freut (V. 30). In dieser Gleichzeitigkeit von Bejahen und Verneinen steckt eine radikale Spannung für Weltbezug und Identität des*der Christ*in. Für Agamben löst die „messianische Berufung“ jeden Anspruch auf das eigene, geordnete Weltverhältnis auf, löst jede Identität auf, und dabei „konstituiert [sie selbst …] keine Identität“.4 Die von der Christusbeziehung bestimmte Existenz ist also unbestimmt, dezentriert, ohne Besitzanspruch an das eigene Selbst. Diese Enteignung von Identitätsmustern, diese christliche Nicht-Identität, wirkt vielleicht beunruhigend und ist als religiöse Grenzerfahrung zudem äußerst flüchtig. Aber ihr Wert für den Umgang mit der eigenen personalen Identität sollte nicht unterschätzt werden: Durch die Christusbeziehung wird das eigene Selbst in bisher ungekannter Weise unverfügbar. Es ist immer mehr als selbstgewählte oder fremdbestimmte Identitätsmuster fassen können.

Gerade das Unverfügbare ist, wie der Soziologe Hartmut Rosa kürzlich festhielt, lebendig, bewegend, sprechend. Und das wendet Rosa ausdrücklich auch auf das Christentum an, in dem es darum gehe,

ein entgegenkommendes Antworten … zu erspüren, dessen Inhalt eben noch nicht feststeht.5

Indem das Christentum keine Schablone der Identitätsbildung liefert, sondern umgekehrt einfache Muster sprengt, steigert es die Komplexität der Situation weiter. Aber indem die Selbstartikulation zu einem unverfügbaren Geschehen wird, dessen Begrenzung und Vorläufigkeit eben kein Mangel, sondern ein Wert ist, erscheint diese Komplexität nicht mehr als bedrohlich. Weil hier das mögliche Scheitern der Identitätsbildung seinen Schrecken verliert, wird der Mensch sensibel für das Lebendige der Komplexität. Und das eröffnet ganz neue Möglichkeiten des Umgangs mit einer unübersichtlicher werdenden Welt.

Hashtag: #shw2019


(Beitragsbild @Fares Hamouche)

1 So Christoph Klotter im Interview mit der F.A.S.: Leonie Krzistetzko, „Richtige Ernährung ist ein Kriegsschauplatz geworden“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.11.2018 (Nr. 44), 16.

2 Vgl. Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, 38f.

3 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989, 84f.

4 Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006, 37 (Hervorhebung durch d. Verf.).

5 Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien 22019, 68.

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dominique-marcel kosack

studierte Theologie in Leipzig, Erfurt und Jerusalem. Er ist zur Zeit Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Dogmatik der Uni Erfurt.

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